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Meerneunaugen

Der Meerneunaugen-Verein traf sich, um das grauenhafteste Tier der Geschichte zu essen

Ich habe eine Gruppe niederländischer Meerneunaugen-Freunde getroffen, die aus wohl einem der hässlichsten Wesen der Welt eine Mahlzeit gekocht haben
Lamprede. Immagine di Henri Roquas

Die Monster auf dem Bild unten sind Meerneunaugen. Sie sehen wie eine Art Aal aus, der aus der Hölle aufgestiegen ist, um die Flüsse und Meere dieser Welt zu bewohnen – unter anderem in den Niederlanden. Sie können bis zu 90 cm lang werden und haben einen runden Mund voller Zähne, der es ihnen ermöglicht, sich an Lachs, Kabeljau, Wale und Delphine anzusaugen, um deren Blut zu trinken. Die Tiere machen ihren Wirt oft so schwach, dass er stirbt. Das männliche Meerneunauge ist ganz und gar kein Romantiker: Um sich zu vermehren, hängt er sich an ein vorbeischwimmendes Weibchen dran und wickelt sich um sie, um die Eier aus ihrem Körper zu pressen. Dann ejakuliert er seine Samen über die Eier und daraufhin sterben beide.

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Sea Lamprey

Meerneunaugen. Foto von Henri Roquas.

Es gibt nicht viele Tiere, die so angsteinflößend sind wie das Meerneunauge. Trotzdem gibt es Menschen auf dieser Welt, die das Tier so bewundern, dass sie ihm zu Ehren zusammenkommen – und es essen. Bei diesen Leuten handelt es sich um Mitglieder des Meerneunaugen-Vereins.

Ich entdeckte die Zeeprik Genootschap, a.k.a den Meerneunaugen-Verein, zufällig, als ich mehr über diese Kreatur herausfinden wollte. Sie wurde vor zwei Jahren vom Künstler und Food-Archäologen Henri Roquas gegründet. Aus verschiedenen Gründen ist Henri vom Meerneunauge fasziniert. Aus künstlerischer Sicht ist ein Meerneunauge, das sich an einen größeren Fisch ansaugt, für ihn „ein herrliches Bild". Aus archäologischer Sicht findet er es wichtig, dass das Meerneunauge nicht vergessen wird. Früher wurde es vielerorts gegessen, aber seit dem 19. Jahrhunderten ist das hässliche Tier aus den Küchen verschwunden.

Henri Roquas

Henri Roquas vor einer Wand, die speziell für das Abendessen mit Meerneunaugen bemalt wurde, die Schädel statt einem Mund haben. Foto vom Autor.

An einem Sonntag organisierte Henri ein Meerneunaugen-Dinner für den gesamten Verein, der etwa 40 Mitglieder zählt. Das erste Mal seit 100 Jahren wurde das Meerneunauge wieder in den Niederlanden zubereitet. Die Tiere stammten aus der französischen Aquitaine, der einzigen Gegend in Europa, wo es Meerneunaugen noch in großen Mengen gibt. Auf der Speisekarte des Abends standen vier Meerneunaugen-Gerichte, als Dessert sollte es Quallen-Parfait geben. Ich beschloss, dem Verein beizutreten und mit den anderen Mitgliedern zu dinieren.

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Das Abendessen fand in Amsterdam im PUNT/TAAK-Work- und Art-Space statt. Künstler malten Meerneunaugen auf die Wände und es wurde ein Vortrag über das Meerneunauge in den Niederlanden gehalten. Anschließend war es Zeit, das eins dieser Tiere zu verspeisen. Alle Gerichte von Henri und einem weiteren Koch zubereitet.

Diner location Sea Lamprey

Die Vorspeise: Salat aus Meerneunaugen und Selleriewurzel mit Kartoffel-Espumas. Garniert mit Löwenzahnsalat und Algenpulver.

Meerneunauge schmeckt ganz und gar nicht nach Fisch, sondern gleicht in der Konsistenz eher einem langsam gegarten Rindersteak wie im Eintopf meines Vaters. Genau das war auch der Grund, warum es früher so gerne gegessen wurde. Fleisch war teuer und durfte beispielsweise während der Fastenzeit nicht konsumiert werden. Da war Meerneunauge, das Fleisch sehr nahe kommt, eine willkommene Alternative. Nicht nur das Volk, auch die Könige und andere Mitglieder der Elite aßen es gerne. Sogar Tyrion Lannister von Games of Thrones isst in der zweiten Staffel einen Pie aus Meerneunauge und der britische König Heinrich I. soll gestorben sein, weil er zu viel Meerneunaugen gegessen hatte.

Das Amuse-Bouche, eine Pastete aus Meerneunauge mit rohen Rhabarber, war recht lecker und auch die Vorspeise war ausgezeichnet. Das Beste am gesamten Abend war jedoch, wie alle sich so verhielten, als wären sie ständig auf solchen Events. An meinen Tisch saß eine Frau, die erzählte, dass sie sich nur von der Natur ernährt – dass sie oft Krähen isst und dass Schwan superlecker schmeckt. Momentan fährt sie gerade voll auf Reh ab.

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Anfangs klang die Vorstellung für mich recht abwegig, aber langsam wurde mir bewusst, dass eigentlich das Gegenteil viel abwegiger ist. Die einzigen Tiere, die ich regelmäßige esse, sind Rind, Huhn und Schwein, die alle zu geschmacklosem Fleisch herangezüchtet wurden. Henri erzählte mir, dass das Essen, das wir konsumieren, sehr viel darüber aussagt, wie wir die Welt einteilen. So hatte ich noch nie darüber nachgedacht.

Starter 2: boudin noir and lamprey fond

Zweite Vorspeise: Blutwurst in Meerneunaugen-Bouillon mit Meersalat, knusprigem Buchweizen und Schachtelhalm-Gelee.

Ich fragte Henri, woher seine Faszination für das Meerneunauge stammt. Er erzählte mir, dass er mit sieben Jahren beinahe ertrunken wäre und gerade noch rechtzeitig gerettet wurde. An diesem Tag hatte er sein erstes Meerneunauge gesehen.

Eigentlich ist das Meerneunauge ein „lebendes Fossil" oder wie Henri es nennt, „immoertelle". Die Kreatur hat sich seit 550 Millionen Jahr im Grunde nicht verändert. Sie hat sich nie zu einem richtigen Fisch entwickelt.

Eating Sea Lamprey

Das Meerneunauge ist eins der wenigen Dinge, das der Idee, dass alles endlich ist und sich verändert, völlig widerspricht. Die Vorstellung, dass der Geruch und der Geschmack, den ich an diesem Abend erlebte, genau der Gleiche war wie der, den die ersten Menschen dieses Planeten rochen und schmeckten, wirkte sich auf meine Stimmung aus.

Der Höhepunkt des Dinners war der französische Gang: Meerneunauge wurde zwei Tage und vier Stunden lang in seinem eigenen Blut geschmort, dazu gab es Rotwein. Bei diesem unfassbar köstlichen Gericht, das weder nach Fisch noch nach Fleisch schmeckte, bemerkte ich, dass mir das Vokabular fehlte, um es angemessen zu beschreiben. Als ich die Leute um mich herum fragte, schlugen sie Wörter wie „altertümlich" oder „erdig" vor – was hauptsächlich am Blut lag.

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Main dish Sea Lamprey

Der Hauptgang: Meerneunauge à la bordelaise.

Früher wurde das Flussneunauge – der kleinere Bruder des Meerneunauges, ähnlich dem Bachneunauge und dem Schleinmaal – oft als Köder zum Angeln verwendet. Die Meerneunaugen wurden lebend gefangen und damit sie sich am Fischeimer festsaugten, musste ein Junge sie umrühren. Solche Jungs wurden oft als prikkenbijter (Neunaugen-Beißer) bezeichnet und waren oft Waisen. Wenn man den Köder am Haken anbrachte, musste der Junge ein Neunauge nehmen und seinen Kopf abbeißen. Und weil das rohe Blut des Meerneunauges bitter schmeckt, bekam der prikkenbijter eine Süßigkeit, um den Geschmack zu übertönen.

In der heutigen Meerneunaugen-Szene wird heftig darüber diskutiert, ob das ein Sahnebonbon oder ein anderes Bonbon war mit dem Hauptargument, dass Sahnebonbons noch nicht so lange existieren wie prikkenbijters. Fragen, die die Welt bewegen.

Dessert Lamprey diner

Das Dessert: Meerrettich- und Quallen-Parfait, Crème „mit dem Geruch von Heiligkeit" und Gingko-Madeleines.

das Meerneunauge ist die Qualle ein lebendes Fossil, aber auf den kleinen Stücken Qualle im Parfait zu kauen, war für mich ein bisschen zu viel des Guten. Ich schaute mich um und alle um mich herum verzehrten friedlich ihr Dessert, versunken in ihre Unterhaltungen. Ich wollte meine Hände zu meinem Mund führen und lautstark rufen: „HALLO! LEUTE! WIR ESSEN HIER QUALLE, IST EUCH DAS KLAR?". Hab ich dann aber nicht gemacht.

Es war ein exquisites Essen und am Ende des Abends war mein Bauch mit Meerneunauge gefüllt. Draußen vor dem Gebäude wehte eine Flagge mit einem aufgestickten Meerneunauge im Wind. Ich war einen Abend lang in eine Welt eingetaucht, von deren Existenz ich bis kurz davor nicht wusste – eine Welt, die mich überraschte, aber die in der Realität weniger merkwürdig war, als sie in der Theorie klingt. Denn obwohl wir eigentlich fast alles essen könnten, was lebt, beschränke ich mich auf die wenigen langweiligen Dinge aus dem Supermarkt. Und das ist wahrscheinlich absurder, als ein kieferloses Monster zu essen, das sich in den letzten 550 Millionen Jahren an genau gar nichts angepasst hat, schockierend grotesk aussieht und auf furchtbare Art Sex hat.