Auf einmal schmeckt alles nach Metall: Mit Krebs ist Essen eine Tortur
Nicolas Söhnel-Cordt

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Das gute Leben

Auf einmal schmeckt alles nach Metall: Mit Krebs ist Essen eine Tortur

Laura hat Brustkrebs, der nicht mehr geheilt werden kann. Durch das Essen kämpft sie um Lebensfreude. In Frankfurt gibt es einen Kochkurs, der ihr dabei helfen kann.

Sie hatte nicht gemerkt, dass sie krank wurde. Aber auf einmal hatte Laura großes Verlangen, Fleisch zu essen. Nicht mehr nur das beste, das kannte sie so nicht von sich. Ihr Körper wusste schon, dass Laura Cordt Krebs hat, er ist nicht mehr zu heilen. Plötzlich ist ihr Verhältnis zum Essen existenziell: Es bestimmt die Prognose, wie lange sie noch mit der Krankheit leben kann. Verliert sie mehr als zehn Prozent ihres Körpergewichts, kann das die Prognose deutlich verschlechtern. Es ist ein Kampf gegen eine Wechselwirkung: Die Gesundheit hängt vom Appetit ab und der Appetit vom Gesundheitszustand. Aber nicht nur die Übelkeit während der Therapie erschwert es Laura, ihr Körpergewicht zu halten. Auch der Geschmack verändert sich durch die Krankheit und durch die Behandlung.

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Essen war Laura immer immens wichtig, am liebsten isst sie in Gesellschaft, beides wird ihr zeitweise unmöglich. An manchen Tagen kann sie Essen noch nicht einmal riechen, ohne dass ihr übel wird. Ihr Genuss verschwindet mit Kleinigkeiten: Knoblauch kann Laura nicht mehr essen, davon bekommt sie Probleme mit dem Kreislauf. Früher hatte sie ein entspanntes Verhältnis zum Essen, aß oft und gerne. Heute ist sie verunsichert: "Darf ich weiter Milch zu mir nehmen? Was ist mit Fleisch? Sollte ich mich lieber vegan ernähren? Ernährt sich der Krebs von Zucker oder nicht?" Zum Verhältnis von Essen und Krebs gibt es weit mehr Fragen, als es medizinisch gesicherte Antworten gibt.

Während Lauras Körper damals Fleisch verlangt, ist bei anderen das Gegenteil der Fall: "Viele Menschen, die an Krebs erkranken, entwickeln eigentlich eine Aversion gegen Fleisch", sagt Ingeborg Rötzer. Sie ist Ernährungstherapeutin am Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg und dem Frankfurter Krankenhaus Nordwest. Aber die Leiden sind individuell. Manchmal haben die Patienten Hunger nach industriell verarbeiteten Lebensmitteln, weil in ihnen oft übermäßig viel Energie steckt. Laura etwa will Spezi. Als ihre erste Behandlung beginnt, muss sie sich nach den Chemos oft übergeben, die Ärzte bekommen das aber schnell in den Griff. Sie kann normal weiteressen, will in dieser Zeit viel Fettiges, Döner, Frühlingsrollen, diese Dinge. Sie verbietet sich nichts: "Der Körper wusste wohl, was er braucht."

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Anfang 2013 bekommt Laura die Diagnose Brustkrebs, sie ist gerade Anfang 30 und ihr Sohn eineinhalb Jahre alt. Beim Duschen entdeckt sie einen Knoten in der Brust und als sie nach den ersten Untersuchungen bei ihrer Frauenärztin im Wartezimmer sitzt, sagt die Ärztin: "Ah, gut. Sie haben jemanden mitgebracht." Im Gespräch vermeidet die Ärztin Augenkontakt, spricht von einem "Mammakarzinom", erst auf Nachfrage bestätigt sie, dass es Krebs ist.

Fotografiert hat Laura ihr Mann, Nicolas.

Die Auswirkungen auf ihren Geschmack sind in dieser Zeit kaum zu merken: Sie wird behandelt, überlebt, lebt und isst wieder wie vor der Diagnose. Bis sie im Winter 2016 stürzt, als sie vom Fahrrad absteigen will. Sie fällt aufs Steißbein, eine Woche später bekommt sie starke Schmerzen im Rücken, der Orthopäde kann nichts finden: "Von mir aus sieht alles gut aus, aber die Radiologen sehen Metastasen", erklärte er. Dieses Mal ist es metastasierter Brustkrebs, er hat sich im Lendenwirbel ausgebreitet. Der Krebs ist nicht mehr zu heilen, teilen ihr die Ärzte mit.

Nach der zweiten Diagnose geht es Laura schlechter als nach der ersten. Die Krankheit unterdrückt den Hunger, wie es oft vorkommt, sie verliert den Appetit. An manchen Tagen hat sie nicht die geringste Ahnung, was sie essen will. Also geht sie in den Supermarkt, stellt sich vor jedes einzelne Produkt, um zu sehen, ob ihr Körper darauf anspricht. Es dauert eine Weile, aber sie merkt, dass Sushi und Fisch gut funktionieren.

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Platinhaltige Chemotherapien verändern oft den Geschmack, für bis zu 180 Tage nach der letzten Behandlung. Dann schmeckt alles nach Metall und damit anders, als das Gehirn es abgespeichert hat. Das Lieblingsessen schmeckt nicht mehr, selbst Wasser schmeckt ungewöhnlich. Die Wissenschaft weiß, dass sich durch die Behandlung die Körperzellen verändern und dass bei der Chemotherapie die Haare ausfallen, weiß jeder. Aber auch die Geschmacksknospen könnten betroffen sein. Wissenschaftlich festgestellt ist das bisher allerdings nicht. Laura hat das Gefühl, dass es die Hormone sind, die ihren Geschmack verändert haben. Auch in der Schwangerschaft habe sie anders gegessen. Manches davon passiert ihr jetzt noch einmal: "Ich konnte die ersten vier Monate kaum essen. Ich konnte extrem gut riechen und fand, dass fast alles an Essen ganz schlimm roch. Mein Mann musste oft alleine essen in der Zeit und teilweise sogar raus auf den Balkon, damit es in der Wohnung nicht riecht. Pizza fand ich richtig eklig."

Lauras Krebs ist hormonpositiv. Das bedeutet, dass der Krebs seinen Wachstumsimpuls durch weibliche Hormone oder die Sexualhormone Östrogen und Progesteron bekommt. Damit lässt sich der Krebs gerade ganz gut behandeln, sie bekommt eine Anti-Hormontherapie. Die soll verhindern, dass der Körper Östrogen produziert. Mit anderen Worten: Laura ist in den Wechseljahren, 10 bis 15 Jahre zu früh. Aber Laura hat auch schon von Menschen gelesen, die mit ihrer Erkrankung noch 15 Jahre gelebt haben, und die Therapien werden immer besser.

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Menschen, die Krebs haben, leben heute oft länger als früher – aber sie sind auch viel länger krank. Viele führen ein recht normales Leben, der Krebs wird nahezu eine chronische Krankheit. Das ist der Medizin zu verdanken, die in dem Bereich sehr schnell Fortschritte macht. Aber die Frage danach, wie man mit Krebs leben soll, ohne sich in Angst zu ergehen, ist nicht so leicht zu beantworten. Ingeborg Rötzer will die Frage klären, wie man nach der Diagnose noch gut leben kann: "Was mache ich mit dem Rest?" Dazu hat sie einen Kochkurs erdacht, zusammen mit der der Hessischen Krebsgesellschaft und der Techniker Krankenkasse in Hessen.

Laura mit ihrer Perücke. So ist ihr nichts anzusehen.

Drei Mal kommen die Teilnehmer für jeweils vier Stunden in die Kochschule von Mirko Reeh in Frankfurt und kochen drei Gänge. Er hat Kochbücher in Hunderttausender-Auflage geschrieben, hatte Shows auf RTL und im hessischen Rundfunk, auf Sat.1. Er ist sehr bekannt in Frankfurt und Laura hatte nicht erwartet, dass er den Kurs in seiner eigenen Kochschule auch selbst leitet. Aber Reeh engagiert sich schon lange für Menschen mit Krebs. Seit 2004 arbeitet er für die "Tour de Hoffnung", die krebskranke Kinder betreut. Er kombiniert das, was die Teilnehmer kennen – die bürgerliche, hessische Küche – mit Einflüssen aus der gesamten Welt, das wirkt gleichermaßen wohlig bekannt und aufregend neu. Und Reeh ist in einem guten Sinne mitleidlos: Er will unterhalten, er behandelt sie nicht anders als Menschen ohne Diagnose. Er sieht ein Publikum, keine Patienten.

Laura sagt, Mirko habe ein "hessisches Schlappmaul", was als Kompliment verstanden werden muss. Die Stimmung ist gelöst, der Humor offensiv. "Immerhin ist es sehr günstig, uns einzuladen", lacht ein Mann, der keinen Magen mehr hat. Ohne Magen essen die Patienten fünf bis zehn Mal am Tag, kleine Portionen mit vielen Kalorien: Ansonsten kommt zu viel Essen auf einmal in den Darm.

Für Mirko ist Essen "etwas sehr, sehr Wertvolles". Der Kurs beginnt damit, dass sich die Teilnehmer durch verschiedene Kräuter essen. Sie schmecken nicht nach Metall, auch nach einer Chemotherapie nicht. Es ist nicht klar, warum das so ist. Die Teilnehmer lernen, dass auch Zimt und Vanille den Metallgeschmack überdecken können. Laura nimmt im Mai teil, und sie liebt das Essen im Kurs: Brioche-Burger mit Rote-Bete-Patty, Koriander-Mayonnaise, Fenchel und Orange kochen sie zusammen, Safranhühnchen und Couscous-Salat macht Laura immer noch oft daheim. "Ich habe mich gefühlt wie eine Prinzessin", sagt sie. In einem Alltag, der von Ärzten und der Krankheit bestimmt ist, ist der Kurs für sie Luxus: die extravagante Kaffeemaschine, der schön gedeckte Tisch, das Essen. "Endlich hatte ich das Gefühl, dass auch mir auch mal was geschenkt wird." Das Leben spielt sich nach der Diagnose oft im Wartezimmer ab, in Arztpraxen und Röhren. An Orten, wo ein Tropf in der Nähe ist.

"Wenn man Krebs hat, verliert man die Kontrolle über sein Leben", sagt Ingeborg Rötzer. Der Kurs ist auch ein Versuch, ein normales, selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Mahlzeiten strukturieren den Tag und Laura versucht alles, dass es auch so bleibt. Sie versucht auch, die Kontrolle darüber zu behalten, wie sie wahrgenommen wird. Sie will nicht als krank und schwach gesehen oder behandelt werden. Nach der ersten Diagnose war sie noch sehr offen und erzählte allen davon; bei der zweiten ist es anders, sie versucht, sich den Krebs nicht ansehen zu lassen. Deswegen trägt Laura eine Perücke, sie achtet darauf, nicht zu stark ab- oder zuzunehmen. Wenn sie Cortison bekommt, schwemmt sie das auf und jeder kann sehen, dass sie krank ist. Jetzt gerade bekam sie ein Magengeschwür und hat fünf Kilo abgenommen.

Das sind die Bilder, wie man sie von Krebspatienten kennt, Bilder, die Laura vermeiden will, viele Patienten wirken ausgemergelt. Ingeborg Rötzer sagt, Krebs sei eine "konsumierende Erkrankung". Der Stoffwechsel ändert sich, das Fettgewebe verschwindet. Es ist bis heute nicht ganz klar, was da passiert. "Kachexie" heißt das in der Fachsprache – wenn der Körper immer weniger wird. Vielleicht ist das das "limitierende Element" im Kampf gegen den Krebs, der entscheidende Punkt, an dem es noch so viel zu verstehen gibt: Die Behandlungen für Krebs werden sehr schnell besser, es ist denkbar, dass die Menschen mit Krebs irgendwann eine normale Lebenserwartung haben. Sofern sie es schaffen, auch weiterhin gut zu essen. Laura bestellt sich eine Apfelschorle mit stillem Wasser. Sie ist dabei, wieder zuzunehmen.