Die Hölle, das ist die Feinkosttheke

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Deutschland

Die Hölle, das ist die Feinkosttheke

Typisch deutsches Essen kann eine traurige Angelegenheit sein. Und es gibt keinen anderen Ort, an dem diese Tristesse deutlicher wird als an der Frischetheke in deinem Supermarkt um die Ecke. Zwischen problemlos essbaren Fleisch- und Käsesorten lauert...
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Typisch deutsches Essen kann eine traurige Angelegenheit sein. Und es gibt keinen anderen Ort, an dem diese Tristesse deutlicher wird als an der Frischetheke in deinem Supermarkt um die Ecke. Zwischen problemlos essbaren Fleisch- und Käsesorten lauert eine bizarre Auswahl an Feinkostaufschnitt, der entweder Ausdruck von Vergangenem ist, das seine Greifarme bis in die Gegenwart ausstreckt, oder aber einen melancholischen Abgesang auf die kulinarische Zukunft darstellt, in der alles mit allem verarbeitet und zu einer skrupellosen Ess-Skulptur kombiniert werden kann. Willkommen in der Feinkostvorhölle. Mein Tipp: Rüste dich und deine Geschmacksknospen für die nachfolgende Essenselegie.

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Hähnchen in Aspik

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Geplatzte Orangenträume und Fetzen von dem, was als Ananas oder Omelett durchgehen könnte, schmiegen sich dicht aneinander. Neben diesen Überraschungszutaten sieht das Hähnchen überraschend frisch—und nach Hähnchen—aus. Aber trotz seines insgesamt abturnenden Aussehens schmeckt es nicht nach Kotze—eher nach Flugzeugessen, wenn du es auspackst, oder warmer Knete eingerollt in verbranntes Herbstlaub. Steck dir eine Scheibe davon in den Mund und du wirst glauben, du würdest es mit einem Obstsalat aus Gummi—beträufelt mit Asche aus einem Lagerfeuer—zu tun haben; die Obststücke, wenn es denn welche sind, rutschen deinen Rachen auf einer Aspikspur herunter und lassen dabei Fleischstücke in deinen Backenzähnen zurück.

Mortadella mit Ei

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Keine Angst: Du wirst es überleben—auch wenn es mitnichten lecker ist. Ein Minispiegelei schwebt in einem labbrigen Fleischpudding-Nirvana. Die Wurstgalaxie schmeckt dabei nach viel zu weicher Pastete. Diese Mortadella-Variante erinnert im Geschmack an schlecht gemachte Schottische Eier, nur mit einem buchstäblichen Überraschungsei ohne Ei: Denn wenn du in die Wursthülle beißt, stößt du im Inneren auf ein Nichts in Eierform. Du liest richtig. Obwohl es also im Ei kein Ei gibt, kannst du es weiterhin rausschmecken. Einfach nur weil du damit felsenfest gerechnet hast. Genieße diesen Moment geschmacklicher Halluzination.

Mortadella mit Pistazien

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Zu dieser Scheibe Traurigkeit fällt mir wirklich nicht viel ein. Es handelt sich hierbei um eine Form der Traurigkeit, die bei dir die traurige Frage aufwirft, warum du überhaupt traurig bist. Und sobald du erst mal verstehst, dass du eigentlich grundlos traurig bist, wirst du durch das Unangebrachtsein deiner Traurigkeit nur noch trauriger werden. Traurig, oder? Dieses fleckig-marmorierte Trauerspiel wartet mit kleinen Pistazienstücken auf, die dir eine Geschmacksnote vorgaukeln sollen, die es gar nicht gibt. Schmeckt nach Schinken und feuchtem Damenslip mit extrasaurem Abgang. Naserümpfen ist übrigens im Preis inbegriffen.

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Reinert Pikant-Mix-Gemüse in Aspik

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Vor diesem Horror-Item hatte ich die größte Angst. Wie die anderen Dinger in Aspik sieht auch diese Kreation fast schon komisch-krank aus: ein unnötiger Blumenstrauß aus gekochtem Gemüse—Broccoli, Blumenkohl, Karotten, Pfeffer und Mais. Welche Menschen—bis auf uralte und unheilbar Kranke oder all die, die schlichtweg zu faul sind, aus frischem Gemüse einen leckeren Saft zu mixen—werden so etwas essen wollen? Dieses Essen kann jeder unfähige Clown in sein Repertoire aufnehmen, der Kinder zum Lachen bringen will, am Ende aber nur für Heulkrämpfe sorgt. Es schmeckt nach Essig und verkochten Karotten und ist so widerlich, dass du es nicht einmal in einer beschissenen Schulmensa aufgetischt bekommst. Süß und sauer treffen sich dabei auf deiner Zunge zum Totentanz. Reicht die Beschreibung noch nicht aus? Kein Ding. Schmeckt auch ein bisschen nach Gurkenwasser mit Stückchen. Oder stell dir einfach vor, du nickst auf einer Party ein und wenn du wieder aufwachst, kaust du auf einer ordentlichen Portion fremde Kotze herum. Das einzige von meinem Degustationsmenü, was ich übrigens wieder ausspucken musste.

Pfeffer-Bierschinken

Pfeffer-Bierschinken

Pfeffer-Bierschinken schmeckt nach 08-15-Pastete oder stinknormaler Leberwurst, nach ordinären Schul-Sandwiches, die von Glanz und Gloria träumen. Dass dieser Traum zum Scheitern verurteilt ist, wird dir schon beim Anblick dieses faden Flickenteppichs samt grünen Strickunfällen klar. Er schmeckt zuerst ziemlich streng nach gar nichts, dann nach Pastete und dann nach Räucherschinken. Dennoch: Gar nicht mal so übel.

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Filetrotwurst

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Wenn eine Rabenmutter heimlich Kalbfleisch ins Mousse au Chocolat ihrer Kinder reintun wollte, würde es wohl genau so aussehen. Es riecht nach Blut und schmeckt auch ein bisschen danach. Der Nachgeschmack ist dann ein wahres Pfeffer-Crescendo, gefolgt von dem Gefühl, dass der Schöpfer weit über das Ziel hinausgeschossen ist. Fast so, als ob du jemanden aus Spaß beißen würdest und dann feststellst, dass deine Zähne leider eine Arterie getroffen haben. Hoppla.

Zungenrotwurst

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Eine der eher ernstzunehmenden Wurstsorten an der Frischetheke. Sieht ein bisschen aus wie schlechtes Nackensteak von einem leicht auf die Palme zu bringenden Wildtier, einem Wildschein vielleicht. Und riecht nach dem Blut seiner verstümmelten Beute. Geschmacklich erinnert es an Karamellpudding aus Hämoglobin und den Überresten einer obsolet gewordenen Hochzeitstorte, die so geschmeckt hätte wie das, was die Braut pünktlich zur Trauung bekommen hat: kalte Füße.

Schinken in Aspik mit Champignons

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Riecht nach verdünntem Apfelweinessig und sieht aus wie ein Schwein, das aus einer Kanone abgefeuert wurde und unsanft auf einem zugefrorenen Teich gelandet ist. Hier und da „locken" Pilzstücke. Besonders viele sind es aber nicht, was wohl auch besser so ist, da sie aus der Büchse zu kommen scheinen. Und was ist schon erbärmlicher als Dosenpilze? Schmeckt nach Schuhsohle und eingelegtem Schinken, der niemals hätte eingelegt werden dürfen. Nicht zum ersten Mal während meiner Kostprobe an der Frischetheke frage ich mich: Ist das vielleicht Tiernahrung? Kann ich als Mensch überhaupt beurteilen, wonach das schmeckt?

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Heidefrühstück

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Hört sich für mich nach einem Tippfehler an. Müsste es nicht eigentlich Heidis Frühstück heißen? Warum? Na ja, weil das Fleisch ihr Gesicht sein könnte und das goldene Fett ringsherum ihre geflochtenen Zöpfe. Dann hätte Heidi nur das klitzekleine Problem, dass ihr Gesicht wie (mindestens) einmal gekaut und wieder ausgespuckt aussehen würde. Und ihr Haar wie Pipi. Aber vielleicht ist das ja gar nicht der Grund. Vielleicht heißt es so, weil es das ist, was sich Heidi am liebsten zum Frühstück gönnt? In diesem Fall muss ich wissen, wie du es isst, Heidi! Heidi? Soll ich das Fett abmachen und nur das Fleisch essen? Oder muss ich mir beides zusammen runterwürgen? Oder gehört das Ganze gleich ganz in die Mülltonne? Am Ende esse ich Gesicht und Haare in einem Biss. Es schmeckt erst nach Zitronenaufstrich, dann nach Gammelfleisch und dann wieder nach Zitronenaufstrich.

Pizza-Leberkäse

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Pizza-Leberkäse ist ein unappetitlicher Name für Essen. Er lässt mich an nicht-gallefreien Käse denken, der einem Haufen masochistischer Feinschmecker als Appetithäppchen aufgetischt wird, bevor sich diese dann auf das eigentliche Buffet mit exotischen Speisen aus Insekten und rohen Genitalien stürzen. Er sieht nicht nach Pizza aus, es sei denn, ein toter Mensch—und nicht Teig—hätte als Grundlage gedient. Er schmeckt nach Büchsenfleisch mit einem Hauch von getrockneten Kräutern der Provence. Ein komisches Etwas aus Butter oder Fett lauert dir—im schlecht gestrickten Gewand eines Käses—im Inneren auf und sorgt für ein geschmackliches Extra, auf das du lieber verzichtet hättest.

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Rotweinsülze

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Sie riecht ein wenig nach Essig und kommt daher wie die Fetzen von jedem Stück Schinken und Speck, die du jemals gegessen und in einer riesigen Fontäne wieder ausgekotzt hast. Ihr Geschmack erinnert an pure Verzweiflung mit einer gewissen Glühweinnote. In etwa so wie ein Weihnachtsfest, das du ganz alleine bei Stromausfall und mit Katzenfutter als deiner einzigen kulinarischen Option verbringen musst.

Irgendwas mit Zwiebel

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Der Geruch ist sauer mit deutlicher Schinken- und Zwiebelnote. Und auch wenn es rein äußerlich an ein typisches Bodenprofil oder Körperteile unter dem Mikroskop erinnert, so gehört es dennoch zu den ansehnlicheren kulinarischen Kuriositäten, denen ich an der deutschen Frischetheke begegnet bin. So ansehnlich, dass Frauen von Welt es sogar als Brosche tragen könnten. Die Schöpfer dieser Glanztat machen ihre Arbeit auf jeden Fall mit Liebe zum Detail, denn auf dem Aspik erwartet deinen Gaumen noch eine dünne Schicht von getrockneten Kräutern. Es schmeckt, wie es riecht: nach Schinken und Zwiebeln.

Hering in Gelee

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Ich wollte diesen „Fisch" nicht essen, weil er so aussieht, wie er aussieht, und weil er dich so ansieht, wie er dich ansieht. Denn das Ei (eye?) betrachtet dich dabei, wie du es betrachtest. Es ist Hüter dieser Fundgrube von Fischleichen. Natürlich riecht der Hering auch nach Fisch. Und schmeckt auch danach, nur dass die Geleeschicht so dick und klebrig ist, dass du das Gefühl kriegst, du würdest—weit weg vom Ufer—in einem Meer von Schweröl untergehen.

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Billy-Pastete

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Auf der Seele dieser Delikatesse—falls sie überhaupt eine besitzt—liegt ein schwerer, endloser Schatten. Kein Wunder, bei dieser toten, lebensfeindlichen Hülle, auf der Tom Jerry hinterherjagt, ihn aber niemals erreichen wird. Ob sie wissen, dass sie diesem Ekeleiland niemals entfliehen können?

Der Geruch von Billy-Pastete erinnert derweil an Cumshot-cum-Frühlingsbrise, was bei dir vielleicht den Beginn eines neuen Lebens evoziert. In Wahrheit schmeckt die Pastete aber nach Tod. Mit jedem Biss spürst du deine Lippen etwas weniger, während auch deine Zunge mit dem Tod ringt, sobald sich das Zitrusaroma erst einmal entfaltet. Aber auch das ist glücklicherweise vergänglich. Zurück bleiben dann Visionen von Leichenschauhaus und Einbalsamierung. Und je länger du kaust, desto präsenter wird das Altersheimaroma. Du kannst förmlich spüren, dass auch dein Ende naht. Kurzum: Eine Wurst für Kinder, die sich dem Vanitas-Motiv verschrieben hat und die bei dir Todesfantasien auslöst.

Schinken-Meerrettich

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Du schaust dir diese kulinarische Kreation an und denkst,

jetzt muss ich bestimmt so doll niesen, dass mir die Brille vom Nasenrücken fliegt

. Schließlich müsste der Berg an Meerrettich eigentlich ordentlich reinhauen. Aber wie von Zauberhand ist jeglicher Geschmack verschwunden, sobald du davon probierst. Das Ding, das wie ein platter Oktopusfangarm daherkommt, ist nämlich sehr, sehr fade. Wie noch mal? Sehr fade!

Alle Fotos von Dominic Blewett