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Der türkische Mann, der vor einer Moschee Alkohol verkauft

Umit Dai mixte sich kurz vor dem Ruf des Muezzins zum Mittagsgebet einen Cocktail in seiner Bar, wo wir uns über den unvermeidlichen Untergang seines und vieler anderer Unternehmen unterhielten, der dem Aufstieg der konservativen AKP zuzuschreiben ist.
Die große Moschee von Ganziantep. Fotos von der Autorin

„Ich mag diesen Job nicht", gibt Umit Dai, der Besitzer eines Clubs, der vor der größten Moschee im südtürkischen Gaziantep Alkohol verkauft, zu. Das lokali—türkisch für „Club"—versteckt sich hinter dem Schleier von Grün nur 80 Meter von der Uli-Cami-Moschee entfernt—wenn auch illegal. Drinnen mixt sich Umit kurz vor dem Ruf des Muezzins zum Mittagsgebet einen leuchtenden Cocktail und unterhält sich mit mir über den unausweichlichen Untergang seines Geschäfts, der den Veränderungen im Land unter der Führung einer konservativen, moderat islamistischen Partei zu verschulden ist.

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2002 übernahm der 56-Jährige das Gaziantep Lisesi Mezunlar Derneği Lokali, das—wie der Name sagt—ursprünglich ein Treffpunkt der Absolventen des exklusiven Gaziantep Lisesi (Gymnasium) war. Dreizehn Jahre später wird in dem bescheidenen Lokal jeder bedient, der einen Drink möchte und kein teures Restaurant oder eine laute kurdische Bar besuchen möchte. Aber dieser kleine Zufluchtsort inmitten einer konservativen Stadt wird es schon bald nicht mehr geben, weil er sich in unmittelbarer Nähe zur großen Moschee befindet.

Jedes Jahr wenden wir uns mehr dem Nahen Osten zu. Wir schreiten rückwärts.

Seit dem Aufstieg der Partei AKP (Deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) unter der Führung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat die Regierung die Alkoholgesetze verschärft. Im Juni 2014 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass Werbung für Alkohol in Bars, Restaurants, Zeitungen und im Fernsehen sowie den Verkauf von Alkohol in Supermärkten und Eckläden nach 22:00 Uhr verbietet. Das Verkaufsverbot betrifft außerdem Etablissements, die sich im Umkreis von 100 Metern von einer Moschee oder einer Schule befinden.

Inside-the-lokali

In Umit Dais lokali. Fotos von der Autorin.

„Ich bin müde", sagt Umit an einem kühlen Morgen im Oktober. „Das Lokal ist in den Augen der Beamten quasi schon geschlossen." Unternehmen hatten Schwierigkeiten, neue Alkohollizenzen zu bekommen und die Behörden haben verhindert, dass Umits Lizenz verlängert wird, obwohl sie noch vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes 2014 ausgestellt wurde. „Jedes Jahr wenden wir uns mehr dem Nahen Osten zu", beklagt Umit. „Wir schreiten rückwärts."

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Die AKP kam kurz nach ihrer Gründung 2001 an die Macht und verwandelte die Türkei zu einem Einparteienstaat. Die islamistischen Reformen des machtgierigen Erdoğan und seine Fixiertheit, den ehemaligen Glanz des osmanischen Reichs wiederherzustellen, stehen in krassem Kontrast zu modernen Werten. Die Türkei hat seit der Gründung der Republik nicht nur einen ideologischen Wandel durchlebt, viel mehr hat eine tiefe Polarisierung entlang ethnischer, religiöser und politischer Grenzen hat in den türkischen Haushalten Wurzeln geschlagen. Eine dreijähriger Waffenstillstand mit kurdischen Milizen und die gescheiterten Wahlen im Juni trieben den blutigsten Terrorakt der türkischen Geschichte an, der fast 100 Tote in Ankara forderte.

Wohin gehen wir? Wo ist die Moderne? Ich muss in die Zukunft schreiten, nicht zurück.

Überwältigt von der wachsenden Instabilität stellt Umit die verzweifelte Frage, die auch viele seiner Landsmänner bewegt: „Wohin gehen wir? Wo ist die Moderne?", fragt er fordernd. „Ich muss in die Zukunft schreiten, nicht zurück."

Obwohl er eigentlich schon in Rente ist, weigert sich Umit, seinen Club zu schließen. „Ich habe eine Familie und Kinder", erklärt er. Jeder Tag, an dem Umit die Kneipe öffnet, birgt potentielle Probleme oder Beschwerden von Nachbarn, Gästen oder den Behörden. Einer der Hauptgründe ist der wachsende Konservatismus der Stadt, behauptet er. Als Beispiel zeigt auf eine verschleierte Frau, die durch den größten Park der Stadt, in dem sich auch sein Club befindet, spaziert.

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Portrait-of-Ataturk-inside-the-lokali

Ein Porträt von Kemal Ataturk ziert die Wand des Lokals.

„Ich kann mich an solche Frauen vorher nicht erinnern", und bezieht sich damit auf ihre Kopftücher. Während der 1980er- und 90er-Jahre war das Kopftuch in öffentlichen Räumen in der Türkei—darunter auch Universitäten—für Studenten, Arbeitende und Personen im öffentlichen Dienst verboten. Folglich entwickelte sich das Kopftuch zu einem starken politischen Symbol sowohl für Frauen als auch für dem Kampf, dem sich die moderne Türkei nach dem Fall des osmanischen Reiches, zwischen Ost und West hin und her gerissen, stellen musste. Der neu gegründete Staat erlegte dem Volk eine weltliche türkische Identität auf und fromme muslimische Frauen setzten sich für ihre religiöse Freiheit ein.

Zur der Zeit war Umit Student an der Universität Istanbul. „Das waren die Terrorjahre", erinnert er sich. Mit 19 wurde vorübergehend ins Gefängnis gesteckt, weil er ein Sozialdemokrat ist und sich für linke Ideale einsetzte, während Frauen, die gezwungen wurden, ihr Kopftuch abzunehmen, Perücken als politischen Akt trugen. 2013 hob die AKP unter Erdoğan das Verbot auf, aber das Thema polarisiert heute noch gleich wie damals.

Es ist sehr traurig, wenn man weiß, dass es vorbei ist. Ich habe zu meinem Sohn gesagt, er soll nicht nach Antep zurückkehren.

Die Geschichte von Umits Familie ist eng mit der Geschichte von Gaziantep verbunden. Seine Vorfahren in der Gegend lassen sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. 2011 hatte er 438 lebende Verwandte in der Stadt. „In Antep sind wir Oguz Turk", sagt er stolz und bezieht sich damit auf den historischen turkischen Stamm aus Zentralasien. Sein runder Bauch lässt erahnen, was für ein Genießer und Charmeur er ist. Nachmittags macht er einen Mittagsschlaf, morgens und abends springt er jedoch zwischen den Tischen hin und her und unterhält sich lebhaft mit seinen Gästen. Die bevorstehende Schließung seines Lokals und die Verwandlung der Stadt seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs lasten ihn jedoch stark auf seinem sonst so lebensfrohen Herzen.

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„Antep ist nicht mehr das Antep von früher", sagt er mit Reue. Als Sozialdemokrat befindet er sich auf einer politischen Wellenlänge mit der Republikanischen Volkspartei (CHP), die sich an den Gründungswerten der modernen Türkei orientiert. „Ich habe die besten Zeiten des Landes erlebt", sagt er leidenschaftlich. „Die Zukunft dieser Stadt kenne ich nicht." Seine Heimatstadt hat große Veränderungen durchlebt. Von den 1,5 Millionen Einwohnern von Gaziantep sind 500.000 syrische Flüchtlinge.

Vor vier Jahren war der Flüchtlingsstrom ins Land schwer zu begreifen, sagt Umit. „Wir haben in Syrien viele Fehler gemacht und unsere Regierung hat einen Frankenstein erschaffen." Die Türkei hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land—bisher sind es zwei Millionen. Einige Einheimische aus Gaziantep wie Umit haben Schwierigkeiten, ihre neuen syrischen Nachbarn willkommen zu heißen, während sich die wirtschaftliche Lage immer weiter verschlechtert und der Staat resolut gegen den Terrorismus vorgeht. „Wir können unsere Tore nicht schließen, weil wir barmherzig sind, aber es muss Regeln geben", fordert er. „Gebt ihnen Ärzte, Lehrer, Lager, aber lasst sie nicht in meiner Stadt frei", warnt er.

View of the Lokali during the day from the park

Blick auf das lokali vom angrenzenden Park.

Die hinkende Wirtschaft sieht Umit als weiteres Symptom für die Krankheit der Türkei: die Regierung. „Unsere Wirtschaft geht gen null", sagt er. „Gaziantep ist ein großer Exporteur, aber unsere Nachbaren haben ihre Grenzen geschlossen", fährt er fort. In diesem prekären Klima „trinkt keiner, isst keiner", sagt er in Hinblick auf sein Lokal. Die Währung des Landes hat fast 25 Prozent an Wert verloren, was teilweise an dem Chaos rund um die Parlamentswahlen im Juni liegt. „Dieses Land braucht Bildung und Industrie", sagt er. „Wir bauen nur Straßen, Gebäude und Moscheen."

Als der Morgen einem sonnigen Nachmittag weicht, steht das leuchtende Getränk immer noch halb voll vor Umit. Er trinkt absichtlich und weiß, dass der Cocktail seinen Durst wohl kaum stillen wird. Der finstere Gedanke, dass seine Generation—weltlich, nationalistisch, westlich-lernend—dem Ende zugeht, erfüllt ihn mit Kummer. „Es ist sehr traurig, wenn man weiß, dass es vorbei ist", sagt er und bricht plötzlich in Tränen aus. „Ich habe zu meinem Sohn gesagt, er soll nicht nach Antep zurückkehren."

Nachdem die AKP die Mehrheit verloren hatte und Koalitionsgespräche gescheitert waren, berief Erdoğan am 1. November eine vorgezogene Parlamentswahl ein. Die Monate vor der Wahl waren in der mehrheitlich kurdischen, südöstlichen Region von Gewalt zwischen dem Staat und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), einer verbotenen Terrororganisation, geprägt. Türken wir Umit, die skeptisch aber dem Prinzip der Demokratie gegenüber loyal waren, gingen nach Monaten der Panikmache und der Instabilität wählen. Und dieses Mal holte sich die AKP die Mehrheit der Stimmen zurück.

„In erster Linie bin ich Mensch", sagt Umit und leert endlich sein Glas. Trotz der schmähenden Wirkung des politischen Klimas seines Landes ist Umit stolz, Türke zu sein und hegt keinen Hass—sei es gegen Kurden, Assyrer, Aleviten, Armenier oder andere. Die Zukunft der Türkei ist ungewiss und die des lokali sieht düster aus.

Aber eines ist sicher: „Wir stehen nah an der Klippe", sagt er traurig.