Du wirst, was du isst: Chinesisches Neujahrsessen ist voller Symbolik

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Du wirst, was du isst: Chinesisches Neujahrsessen ist voller Symbolik

Jedes Jahr reisen 332 Millionen Chinesen zum Neujahrsfest in die Heimat. Dieses Jahr war ich zum ersten Mal bei diesem beeindruckenden Festmahl: Alles wird selbst gemacht und hat eine ganz eigene Bedeutung fürs neue Jahr. Essen bringt eben Glück.

Vor ein paar Wochen geriet ich zufällig in die größte Pilgerreise der Welt: In der Hochsaison bin ich im meistbevölkerten Land der Welt mit dem Zug gefahren—ich hatte einfach verplant, mein Ticket für die Nebensaison zu buchen. Wie paralysiert von den schier endlosen Menschenmassen saß ich auf meinem Koffer im Bahnhof von Shanghai und beobachtete das Geschehen.

Man muss sich das so vorstellen, als würden in einem Monat alle Einwohner der USA auf einmal losziehen und sich in die Züge quetschen. Genau das passiert jedes Jahr in China. Millionen von Chinesen—um genau zu sein 332 Millionen—machen sich zum Mondneujahr auf den Weg nach Hause. Und das sind nur diejenigen, die mit dem Zug reisen. Insgesamt wird die Zahl der Reisenden nach und innhalb von China auf gut 2,9 Milliarden geschätzt. Das übersteigt die Einwohnerzahl der Volksrepublik bei weitem, da auch aus den Nachbarländern Malaysia, Singapur und Taiwan viele zum chinesischen Neujahr anreisen. Für viele ist das 15-tägige Fest mit viel Essen und starker Symbolkraft die einzige Möglichkeit im Jahr, ihre Familie zu sehen.

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Lebensmittel als Neujahrsgeschenke. Alle Fotos von der Autorin

Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das man zu der Zeit oft hört: ren shan ren hai, übersetzt in etwa „Berge aus Menschen, Seen aus Menschen". Und genau so war es am Hongqiao-Bahnhof von Shanghai.

Ich habe noch nie so viele Menschen in einem Gebäude gesehen. Überall schwarze Haare, Koffer, Kartons mit Essen. Viele halten Kisten mit Mandarinen oder vakuumverpackte Produkte, von ganzen Enten bis hin zu ganzen Schweinekeulen, fest umklammert. Mandarinen und Orangen stehen durch ihre runde Form symbolisch für die Einheit der Familie. Frisch zubereite Reiskuchen, die in Südchina sehr populär sind, sind auch ein beliebtes Geschenk. Im Chinesischen heißen sie nian gao und auch dazu gibt es ein Sprichwort: nian nian gao gao, was in etwa bedeutet „mit jedem Jahr mehr Kraft".

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Selbst gemachte Würste in Nanxun

Das fasziniert mich als Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln total: Noch nie musste ich so hart dafür kämpfen, zu einer Familienfeier zu kommen. Und auch das Essen hatten noch nie eine so tiefe Bedeutung. Wenn wir in L.A. chinesisches Neujahr gefeiert haben, gab es meistens einfach Hot Pot mit meinen Eltern. In einem großen Topf haben wir Fleisch, Gemüse und Fischbällchen in einer Brühe gekocht. Mein Bruder und ich bekamen beide einen roten Umschlag voller Geld und das war's. Ich musste mich niemals durch eine Menschenmasse quetschen, um nach Hause zu kommen, geschweige denn etwas kochen. Wir sind eine ziemlich faule Familie.

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Mit so einer einfachen Einstellung komme ich dieses Jahr in China aber nicht weit. Im Laufe der Woche bin ich insgesamt mit drei Zügen und zwei Bussen gefahren, um gemeinsam mit unterschiedlichen Familien zu feiern, die jedes einzelne Gericht selbst zubereitet haben.

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Sherrys Großmutter

Die größte Feier ist tatsächlich die am Abend vor dem neuen Jahr, das war dieses Jahr der 7. Februar. Die Vorbereitungen beginnen schon eine Woche vorher. Zwei Tage vor dem großen Tag bin ich in Jinhua, einer kleinen Stadt in der südostchinesischen Provinz Zhejiang, ungefähr 300 Kilometer südlich von Shanghai. Sherry Zhen und ihre Familie laden mich zu sich ein, um verschiedene Gerichte vorzubereiten. Bei meiner Ankunft liegt ein ganzes Schwein in Einzelteilen auf dem Balkon verteilt. Das Bauchfleisch wird in Sojasauce eingelegt und dann zum Trocknen aufgehängt. Fischhaut wird mit Salz eingerieben, sodass Dörrfisch daraus wird. In der Ecke steht eine Plastikbottich mit Wasser, ich schiele kurz rein und sehe zwei zappelnde Fische. Fisch gehört einfach dazu. Auf Chinesisch heißt Fisch yu und das Sprichwort geht so: nian you yu, das bringt „Wohlstand für jedes Jahr". In der Küche steht eine Schüssel mit selbst gemachten Fleischbällchen auf dem Tisch, die Sherrys Onkel gemacht hat. „Fleischbällchen sind rund, yuan", erklärt mir Sherry. Und auch hier gibt es ein Sprichwort: tuan tuan yuan yuan, was so viel bedeutet wie „Einheit der Familie".

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Schwein und Fisch hängen auf dem Balkon

Mit neiderfülltem Blick betrachte ich das Essen. In meiner Familie gingen viele kulinarischen Traditionen verloren, als meine Eltern aus Taiwan in die USA gezogen sind. Keiner von uns weiß, wie man Würste macht, Wan Tans richtig faltet oder Schweinefleisch trocknet. Bei Sherrys Familie ist das ganz anders.

Das Haus füllt sich mit allen möglichen Verwandten. Jeder hat sich die nächsten Wochen Urlaub genommen. Ich lerne Sherrys Tante, ihren Vater, ihren Onkel und ihre Mutter kennen und gemeinsam machen wir Wan Tans, wie das in vielen südchinesischen Familien Tradition ist. Im Norden isst man eher Dumplings. Beide sehen ein bisschen aus wie Goldstücke. Je mehr man davon an Neujahr isst, desto mehr Glück hat man im nächsten Jahr, so glauben die Menschen. Die Oma fängt an, wird aber schnell verjagt, weil die Familie Angst hat, dass sie sich mit ihren 91 Jahren übernimmt.

Sherry Mutter und ihr Onkel zerkleinern das Fleisch, würzen, kochen und braten herzhafte Reiskuchen. Stolz erzählen sie mir, woher alles kommt. Das Schwein hat ihnen ein Arbeitskollege geschenkt, die Reiskuchen kommen aus der Nachbarstadt, den Wan-Tan-Teig hat ein Familienfreund beigesteuert und das Gemüse bauen sie selbst an. Beim Kochen zu Hause ist es den Chinesen extrem wichtig zu wissen, woher alles kommt. In diesem Land gibt es noch echte Gemüse- und Fleischmärkte und jeder glaubt zu wissen, bei welchem Händler man die besten Produkte bekommt.

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Die Kunst der Wan Tans

Am Vorabend des Neujahrsfests, dem Tag des großen Fressens, reise ich 250 Kilometer weiter nördlich nach Nanxun, einem kleinen Städtchen mit vielen Kanälen und Straßen mit Kopfsteinpflaster. Eine Freundin von mir, Christine Liu, wird noch auf den letzten Drücker von entfernten Verwandten zum Essen eingeladen. Sie fragt, ob ich mitkommen darf, und sie willigen ein.

Ein spektakuläres Festmahl, das mit 15 Gerichten beginnt und mit einem Hot Pot endet! Alles wird selbst gemacht und hat eine tiefere Bedeutung. Es gibt Lotuswurzeln gefüllt mit Klebreis. Wenn man einen Lotus aufschneidet, ist der ziemlich faserig, ein bisschen wie Okraschoten. Auch dazu gibt es ein Sprichwort: ou duan si lian, obwohl die Wurzel des Lotus entzwei ist, bleiben die Fasern verbunden. Das steht symbolisch dafür, dass eine Familie immer zusammenhalten wird, auch wenn sie getrennt lebt.

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Das kleine Städtchen Nanxun mit seinen Kanälen

Als nächstes: Dumplings mit Eiern. Die stehen für Gold und Glück. Ein ganzer Fisch wird für den Wohlstand verspeist. Garnelen stehen symbolisch für Freude und Lachen. In Sojasauce gekochte Eier stehen auf dem Tisch, auch hier steht die runde Form wieder für Einheit. Natürlich gibt es passend zum Mondneujahr auch Frühlingsrollen, denn damit wird auch die neue Jahreszeit eingeläutet. Als Dessert gibt es die sogenannte Speise der acht Kostbarkeiten, die ba bao fan, die aus einer Schüssel gestürzt wird. Die Form erinnert die Familie an das Wort „Fülle", als Glücksbringer für das kommende Jahr. Und wahrscheinlich auch die beste Beschreibung für mein Gefühl nach diesem Mahl.

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Frühlingsrollen

Nach dem Essen stürzen wir uns alle ins Wohnzimmer, um die Neujahrsgala auf dem chinesischen Fernsehsender CCTV zu gucken. Mit über 700 Millionen Zuschauern ist das die meistgesehene TV-Sendung auf der Welt. Die Einschaltquoten sind sechs bis sieben Mal höher als beim Super Bowl. Das erinnert mich wieder an die unglaubliche Weite Chinas und daran, wie viele Familien jetzt gerade gleichzeitig dieses Festmahl zelebrieren. In den ersten Stunden des neuen Jahres werde ich immer wieder wach, weil es sich anhört, als ergießt sich ein Bombenhagel über die Stadt. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, wie die Menschen Raketen und Böller in die Luft jagen.

Auf einmal bekomme ich schreckliches Heimweh. Klar, dieses Mondneujahr ist wahrscheinlich das aufwendigste, das ich jemals erlebt habe und das erste für mich in China. Ich habe noch nie so viele Gerichte mit so unglaublicher Symbolkraft gegessen. Der Traum eines jeden Food-Journalisten.

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In Sojasauce gekochte Eier

Aber irgendetwas fehlt.

Ich schreibe meinen Eltern, die in Los Angeles sind, und wünsche ihnen ein frohes neues Jahr. Innerhalb von nur ein paar Sekunden schickt mir mein Vater einen Link. Ich klicke drauf und sehe einen virtuellen roten Umschlag voller Geld.

Und sofort geht es mir besser.

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Clarissa Wei reist zur Zeit durch alle Provinzen Chinas. Im Alleingang will sie das ganze Land kulinarisch erkunden. Mehr von ihrer Reise auf Facebook.