In Marokko ist Hühnchen-Tajine das Soylent für Touristen
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Marokko

In Marokko ist Hühnchen-Tajine das Soylent für Touristen

Die Gewürze, die nach Tod stinkenden Gerbereien und die Seefestung von Essouira ... das sind die Dinge, die die meisten Touristen in Marokko sehen wollen. Ich machte mich auf die Suche nach „echten“ Mahlzeiten: Zunge, Gehirn, Blase, rudimentäre Organe...

Gefüllte Milz stand weit oben auf meiner Liste

Die Dinge, die Touristen in Marokko normalerweise sehen wollen, sind die Tausend Jahre alte Qarawiyīn-Moschee, die nach Tod stinkenden Gerbereien und die windige Seefestung von Essouira. Ich aber wollte Essen von Straßenverkäufern, „exotisches Essen", „echtes" Essen … Zunge, Gehirn, Blase, rudimentäre Organe—immer her damit. Jeder, der schonmal was von Claudia Roden gelesen hat, weiß, dass Nordafrika—wie viele Teile der nicht-westlichen Welt—bei der Verwendung von außergewöhnlichen Zutaten nicht zimperlich ist. Kolonialismus hat eine Vorstellung des Orients geschaffen, die die marokkanische Regierung mit Werbekampagne aufrecht erhält und so letztes Jahr über zehn Millionen Touristen ins Land gelockt hat. Dieser Vorstellung wollte ich einen irgendwie machohaften Twist verpassen.

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Fleisch auf Marrakeschs Straßen, darunter Hühnchen, Köfte und Kalbsleber. Zusammen mit Fettstücken werden sie über Kohle gegrillt und in Sandwiche gepackt.

In diesen Werbekampagnen wirst du aber keine Schafsköpfe, gefüllte Milz oder Schneckensuppen finden. Für Touristen gibt's nur Tajine.

Und das ist verdammt noch mal falsch. Wenn dich nicht gerade eine marokkanische Familie persönlich zum Abendessen bei sich zu Hause eingeladen hat—was meiner kurzen Erfahrung nach gar nicht mal so unüblich ist—dann meide den Couscous, der dir auf einer staubigen Terrasse eines Restaurants serviert wird. Sei der Pastilla—eine Pastete mit dünnem Teig, darin Taube, Mandeln und Eier, sowie eine Schicht Zimt und Zucker—gegenüber eher misstrauisch, sofern sie dir nicht von jemand anderem als einem bezahlten Reiseführer empfohlen wurde.

Und gib auf gar keinen Fall 13 Euro für eine gottverdammte Hühnchen-Tajine inklusive Bauchtänzerinnen-Show aus, denn du kriegst überall das gleiche Zeug. Das ist quasi das Soylent der Touristen: ein durch und durch fader Eintopf aus Hühnchen und grünen Bohnen, perfekt angerichtet, brodelnd und in einem durch zu viel Gelbwurzel verursachten Goldton. Der Geschmack hingegen ist dann erstaunlich schlicht—zu wenig Salz, zu wenig Gewürze, zu hoher Preis.

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Die Medina von Fez, wo du auf engstem Raum spitz zulaufende Hausschuhe, Datteln und lebende Hühner bekommst.

Das sagte mir mehr Selbstüberschätzung als Erfahrung. Ich dachte, dass ich mit Marokko leicht fertig werde: Zehn Jahre in New York haben mir gezeigt, wie ich die Blicke der aufdringlichen Verkäufer meide und zielstrebig laufe, als ob mir die Welt gehört. Letztes Jahr habe ich damit verbracht, Arabisch zu lernen und hatte es soweit drauf, um mich grundlegend zu verständigen, zu lesen und zu schreiben. Mein Freund und ich waren schon ein halbes Dutzend Mal im Kairo vor und nach der Revolution und sind in Beirut zwischen einem Bombenanschlag auf eine Botschaft und einer Hisbollah-Hochburg abgestiegen—beides in Laufdistanz zu unserem Hotel. Wir redeten uns ein, dass wir für ein Land gut vorbereitet waren, von dem wir dachten, es sei wie eine Art nordafrikanisches Disneyland, das den Arabischen Frühling einfach verschlafen hatte.

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Viele unserer Erfahrungen dort hatten auch etwas von Disneyland oder waren zumindest direkt wie im Touristenführer beschrieben. Unser Bus hielt, wie Dutzende Busse vor und nach uns, an einem Garten voller Arganbäume, in deren Ästen sich ungefähr acht Ziegen tummelten und dabei aussahen wie der Christbaumschmuck eines Bauernhofs. Wir trafen auch Rucksack-Kiffer, die in die Berge pilgern, wo Berberfarmer Marihuana anpflanzen und die Regierung zwei Augen zudrückt.

Aber dann gibt es auch noch Djemaa el Fna, der zentrale Marktplatz in der Altstadt von Marrakesch—quasi ein Times Square voll mit Schlangenbeschwörern, Wahrsagern, Handy-Hehlern und Leuten, die Touristen ungefragt einen Affen auf den Kopf setzen. Tagsüber ist der Djemma eine Karawane an Wägen, wo Orangensaft, Datteln und Nüsse verkauft werden. Am späten Nachmittag kommen dann aber so langsam die Köche und bauen ihre Volksfest-ähnlichen Zelte und Picknicktische auf, wo sie dann Auswärtige buchstäblich in ihre Verkaufsstände ziehen und dort ihre günstigen Kebabs und Tajines verkaufen. Überall herrscht dichtes Gedränge und nach einem kurzen Überblick könnte man meinen, dass alle das Gleiche kochen. Deswegen hat jeder Stand eine Nummer und einen einprägsamen Jingle, damit die Touristen am nächsten Abend auch wieder zurück kommen. Einer sagte: „Eins eins eins: hier ist gutes Essen deins!" Ein anderer sagte: „Fünfundzwanzig: gar nicht ranzig!". Danach versicherte er, dass sein Essen bei mir keinen Durchfall verursachen würde.

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Ein paar der Schafsköpfe und -zungen, die es bei Chez Abdeljabar gab.

Stattdessen entschied ich mich für Schafsköpfe. Die gab es bei einer Handvoll Ständen, aber die Glückszahl 13—der richtige Name war Chez Abdeljabar, gegründet 1976—machte das Rennen, weil dort einfache keine Leute aus der westlichen Welt waren (in der Touristenmenge schrie ein britisches Mädchen in Tube-Top einen Verkäufer an: „Fish und Chips? VERSTEHST? DU? MICH?"). Ich durfte mich ans obere Ende des Tisches setzen und vor mir lagen drei lederhafte Têtes de Mouton, inmitten von abgetrennten Zungen und ein paar anderen Eingeweidestücken.

Nach nicht mal zwei Minuten wurde mir ein Teller gemischtes Fleisch gebracht, als Beilage etwas trockene Stücke des allgegenwärtigen Khubz—irgendwie eine Mischung aus Pita und Toastbrot—, eingeweicht in angewärmtem, tierischem Fett. Es schmeckte alles vorzüglich, aber ich konnte nicht genau rausfinden, was ich da überhaupt gerade aß: Ein Stück war schwammig, aber auch fest, irgendwie wie ein Sandkuchen aus Fleisch. Ich erfuhr, dass es sich um Kuheuter handelte, das durch einen langen Aufenthalt im Dampfkochtopf zu seiner Zartheit gezwungen wurde und mit Petersilie, Koriander, Knoblauch, Salz, Kreuzkümmel und süßer Paprika gewürzt war.

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Chez Abdeljabars gemischte Platte, mit Gesichtsfleisch, Zunge und Euter.

Anscheinend profitieren viele Fleischarten in Marokko vom Dampfkochtopf. Ein paar Tage zuvor war ich in Fez in die Ecke eines Restaurants gedrängt, das ungefähr die Größe eines kleinen, begehbaren Kleiderschranks besaß. Dort wurde mir „gedünstete" Schafszunge aufgetischt, die schon den ganzen Morgen im Dampfkochtopf verbracht hatte. Dazu werden einfach Brot und gehackte Tomaten und Zwiebeln gegessen, eine Mischung aus grobem Salz und Kreuzkümmel dient als Würze. Und es schmeckt verdammt lecker—wie Pulled Pork, bloß mit einem Touch Schaf.

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Teile der gedünsteten Schafszunge, gewürzt mit Kreuzkümmel und grobem Salz.

Als ich wieder in Marrakesch war, ging ich ein zweites Mal zu Chez Abdeljabar, dessen Besitzer wieder am Gesichter und Organe zerschneiden war und mir eine weitere gemischte Platte mit Zunge und Euter reichte—dazu eine Portion cremiges Schafshirn. Ich nahm an, dass das ein Bonus dafür war, dass ich in dieses Splatterfilm-ähnliche Szenario zurückgekehrt bin.

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Auf der Straße verkauftes Brot, oftmals für's Frühstück. Von oben im Uhrzeigersinn: Baghrir (ein schwammartiger Pfannkuchen), Harsha (ein fester Kuchen aus Grieß) und Meloui/Msemen (Schihtteig mit einer Tonne Butter).

Ich bin jetzt kein großer Gehirnakrobat, aber es brachte mich zum Nachdenken: Das Abenteuerliche an all dem war nicht der Akt des Essens selbst—sondern der Wille, so etwas zu essen. Ich glaubte an die machohaften Essphilosophien von Anthony Bourdain und Andrew Zimmern, aber es erschien mir nicht falsch, denn dieses Zeug war, trotz der anatomischen Herkunft, verdammt lecker.

Das ganze Drumherum ist natürlich auch Teil des Erlebnisses. Die Schlangen, die Affen und die kreischenden Briten kannst du ignorieren, was du aber nicht ignorieren kannst, ist der zarte, durch die Luft schwebende Duft von Pferdepisse und die Beschimpfung als „verdammter Deutscher", nachdem ich die mit Fliegen verzierte Köfte eines Fressbuden-Besitzer höflich (und dann nicht mehr so höflich) ablehnte.

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Ein Schafskopf bei Chez Abdeljabar. Nicht schön, aber sehr lecker.

Mir wurde schnell bewusst, dass ich einen Scheiß über Marokko und seine kulinarischen Traditionen wusste, die genau so komplex sind, wie die politische und ethnische Geschichte des Landes. Ich hatte keine Ahnung, dass die Franzosen nicht nur ihre Sprache dagelassen haben, sondern auch kleine Patisserien. Diese liegen zwischen Freiluftmetzgern, bei denen die geschlachteten Schafskörper und Kamelköpfe draussen an Haken aufgehängt werden. In den nördlichen Städten wie Tanger und Chefchaouen ist der spanische Einfluss genau so stark zu spüren, wenn Churros, mit Thunfisch gefüllte Bocadillos und eine Quiche namens Caliente als Snack nach stundenlangen Hasch-Sessions in schmuddeligen Teeläden gegessen werden. Natürlich gibt es auch noch die Berber, die für den Couscous und die Tajines verantwortlich sind.

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Fleischabfälle sind auch nur der Anfang. Ein Extrem des marokkanischen Snack-Spektrums ist Tehane, die gefüllte Milz—ein altes, in Fez zu bekommendes, jüdisches Gericht mit Hackfleisch, Zwiebeln und Gewürzen, das geschnitten auf den Grill kommt und in einem Sandwisch serviert wird. Auf der anderen Seite gibt es die einfache, proletarische Schüssel Bissara, eine Ackerbohnen-Suppe, die vor der Arbeit gegessen wird. Dann gibt es zu viele Brote, um alle aufzuzählen—vom butterigen Meloui und streifenähnlichen Baghrir-Pfannkuchen bis hin zu Trid, einem hauchdünnen Gebäck, das auf einem riesigen Metallei zubereitet wird. Dann gibt es noch frittierte Chebakiya-Teile, die in Honig und Sesam-Körnern gebadet werden und anschließend mit einem Glas von diesem allgegenwärtigen Tee verzehrt werden, der mit dem nach Absinth schmeckendem Wermutskraut ordentlich aufgepeppt wurde.

Und dann findest du noch Khlii, die marokkanische Antwort auf Entenconfit. Es besteht aus Rindfleisch, das mit Salz und Gewürzen behandelt und danach für mehrere Tage in der Sonne luftgetrocknet wurde, bis es fast wie Dörrfleisch daher kommt. Es wird dann in ausgelassenes Kuhfett („Bauchfett" wurde mir gesagt) eingepackt und ist bei Raumtemperatur bis zu zwei Jahre lang haltbar. Der Geschmack ist sehr intensiv, dabei bemerkst du eine Hauch von gealtertem Käse und einen Tick Salz, der dir die Zunge schrumpeln lässt. Mein Khlii wurde aus einem großen, blauen Plastikfass geholt und ich bemerkte, dass es genau so aussah wie die Fässer, in die Jeffrey Dahmer seine Opfer gesteckt hat. Anschließend wird das Fleisch noch in der Pfanne gebraten und mit Eiern als Frühstück serviert.

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Frisch aus der Tonne geholtes Khlii—getrocknetes Rindfleisch in Fett gepackt.

Ich will mit all dem nicht sagen, dass Tajines und Couscous schlecht oder kein essentieller Teil der marokkanischen Küche sind. Aber Touristen verpassen regelmäßig und glücklich einiges, wenn sie in Restaurants mit Terrasse eine Alternative zum restlichen Essen des Landes bekommen, die kein Abenteuer darstellt. Die einzige nennenswerte, klassische Hühnchen und Bohnen-Tajine, die ich gegessen habe, wurde von einer Frau namens Um Klthum zubereitet. Sie war die Hausfrau und Teilzeitköchin meines Vier-Zimmer-Riads in Fez.

Sie brachte es natürlich von zu Hause mit und es war unglaublich.

Fotos: Autor Matthew Zuras