Jamie Oliver will kein Hipster-Koch sein

FYI.

This story is over 5 years old.

Koch

Jamie Oliver will kein Hipster-Koch sein

Der Starkoch und Liebling aller Schwiegermütter Jamie Oliver ist vielleicht nicht tätowiert und trägt auch keinen Bart, aber er ist immer noch einer der berühmtesten Köche Großbritanniens. „Immer heißt es, dass Essen neu und cool sein muss, aber...
Phoebe Hurst
London, GB

Ich führe gerade ein tiefsinniges Gespräch mit Jamie Oliver über Fernsehreichweiten und User Engagement auf YouTube. Er redet in ernstem Ton über die Medienbranche und benutzt sogar das Wort „Plattform". Zwei Mal schon. Und beide Male im richtigen Zusammenhang.

„15 Jahre lang liefen meine Shows zur Primetime im Fernsehen weltweit und nie hat man konkrete Daten bekommen", erzählt er mir. „Wir hatten schon immer einen YouTube-Kanal, dachten aber immer, dass das dumm war, und haben das Ganze eigentlich nicht richtig verstanden. Erst seit dreieinhalb Jahren gehen wir da richtig ran. Unsere Abonnenten sind tendenziell eher männlich und zwischen 25 und 27 Jahre alt."

Anzeige

Jamie Oliver hatte diesen Morgen schon etliche Interviews. Wir haben es uns in einer Sitzecke in seinem Restaurant Fifteen in East London gemütlich gemacht.Vorher hat er ein paar kurze Aufnahmen mit Journalist Andrew Marr gemacht undfür einen ungarischen Fotografen posiert, was ziemlich kompliziert aussah.

„Schön dich kennenzulernen, OK, du kommst also aus London."

Mal abgesehen von der tiefsinnigen Unterhaltung über YouTube ist der einzige Unterschied zwischen dem Jamie Oliver, der mir gerade die Hand schüttelt, und dem Fernsehkoch mit den Labradoraugen der Geruch seines Aftershaves. Er trägt ein weißes Hemd, einen schwarzen Zweireiher, den er komplett zugeknüpft hat, und seine Haare sind vom Shooting heute Morgen immer noch top gestylt. Jede Oma würde ihn als schmucken jungen Burschen beschreiben.

jamie-oliver-interview-sugar-tax-15

Jamie Oliver im Fifteen in London. Foto von Jake Lewis

Und er will sich mit mir über VICEunterhalten. Das Diktiergerät ist noch keine Sekunde an, da fängt er schon an zu reden und es erinnert mich irgendwie an Unterhaltungen, die ich mit übermotivierten Medienstudenten bei einer Hausparty hatte.

„Das Fernsehen hasst VICE und dass stimmt euch perplex, nach dem Motto: ,Was verdammt noch mal ist deren Problem?'", meint er. „Das ist pure Arroganz, wie ihr bestimmt auch festgestellt habt. Aber auch in der digitalen Welt können die Leute verdammt arrogant sein, weil sie denken, sie sind sonst wer, nur weil sie angeblich eine Reichweite von einer halben Milliarde haben. Die denken, sie können sich alles erlauben."

Anzeige

Ich weiß nicht, ob das eine gute oder schlechte Interviewvorbereitung für ihn war.

Wahrscheinlich brauchte er für VICE—oder die anderen Magazine, mit denen er heute gesprochen hat—in Wahrheit überhaupt keinerlei Vorbereitung. Das Jamie-Oliver-Imperium umfasst immerhin über 20 TV-Shows, die in über 50 Ländern weltweit ausgestellt werden. Dazu gehört auch Food Tube, der erwähnte YouTube-Kanal, auf dem die Abonnenten täglich neue Rezept-Videos sehen können. Dann gibt es noch seine Restaurants in Großbritannien, Australien, Kanada, Russland, der Türkei und Singapur. Das Topf- und Pfannenset. Sein unermüdliches Engagement in verschiedenen Kampagnen für gesunde Ernährung.Die nicht enden wollende Flut an Kochbüchern: Jamies Superfood für jeden Tag, Jamies 15-Minuten-Küche, Jamies Wohlfühlküche, Zu Gast bei Jamie, Jamie unterwegs und so weiter. Man kann keine Marke aufbauen, die sich über TV, Online, Print und Einzelhandel erstreckt, ohne dass man die Branchen und sein Publikum genau kennt—und dazu gehören auch junge Medien.

jamie-oliver-interview-sugar-tax-9

Foto von Jake Lewis

„Ich finde es einfach wichtig, ein offenes Ohr für die Leute zu habenund eine Beziehung mit ihnen aufzubauen", meint er und nippt gelassen an seinem Espresso.

In Großbritannien lernten die Leute Jamie Oliver vor 17 Jahren bei The Naked Chef kennen. In der BBC-Show sah man den jungen Koch, wie er zu Hause nach seinem Job im River Café etwas Leckeres für Freunde und Familie zubereitete. Er rutscht Treppengeländer herunter, schiebt Dinge schwungvoll in den Ofen, zieht sie genauso wieder raus und brachte den Briten so ganz nebenbei bei, was Prosciutto ist („die italienische Version von Bacon") und wie man zu Hause Tagliatelle macht, ohne dabei wie ein überheblicher Arsch zu wirken.

Anzeige

The Naked Chef war damals etwas Radikales. Niemand hat so einen Scheiß gefilmt", erzählt mir Jamie Oliver heute und dreht sich dabei leicht, damit der Fotograf noch ein Profilfoto schießen kann. „Ich war bei mir zu Hause, habe meine Klamotten getragen, es gab meine Musik und ich habe meine Freunde getroffen und das Zeug gekocht, was ich auch zu Hause gekocht habe. Das war vor 17 Jahren was total Neues, also irgendwie auch ein bisschen MUNCHIES-Style."

Mal abgesehen davon, dass es nicht sein richtiges Zuhause war (die Wohnung, die er sich damals mit seiner jetzigen Frau Jools im Londoner Stadtteil Hammersmith teilte, war zu klein für die ganzen Kameras), hat er durchaus Recht. Als ich mir später The Naked Chef noch einmal angesehen habe und ihn da mit seinem Babyface sah, wie er in seiner 90er-Jahre-Buchenholz-Küche herumhantierte, verstehe ich, wie revolutionär seine Art der Moderation damals war. Den Einfluss seiner idiotensicheren Anleitungen und seine Liebe zu einfachen Zutaten sieht man heute noch bei trendigen Cafés mit regional-saisonaler Marktküche oder auch bei großmäuligen Kandidaten bei Das perfekte Dinner. Und ja, vielleicht auch bei Matty Matheson oder Lee Tiernan.

Die Show lief nur über drei Staffeln, machte aus Jamie Oliver aber eine Berühmtheit, den Liebling aller Schwiegermütter und einen der ersten der neuen Generation berühmter Köche.

„Man, vor The Naked Chef war ich pleite, nach sechs Wochen war ich Millionär. Was zur Hölle ging da ab. Das war riesig, vielleicht so wie bei One Direction, nur mit Essen. Es war verrückt."

Anzeige
703800_10153701647954807_4257419773765202419_o

Geröstete Lammkeule. Foto mit freundlicher Genehmigung von Jamie Oliver

Anfang der der 2000er flachte der Hype in Großbritannien um „Essen zum Flachlegen" etwas ab,aber Jamie Oliver hat sich weiterentwickelt. 2002 wurde Jamie's Kitchen ausgestrahlt, eine fünfteilige Doku, die Jamie bei der Eröffnung seines Restaurants, in dem wir heute sitzen, begleitet. Damit hat er benachteiligten Jugendlichen die Chance gegeben, Koch zu werden. Das Publikum sah zum ersten Mal einen Jamie Oliver, der sich auch sozial engagierte und das funktionierte.

„Ich hatte Glück, dass ich bei den Shows ein gewisses Mitspracherecht hatte und nicht zu irgendwas gedrängt wurde. Das [Jamie's Kitchen] war eine klasse Doku-Reihe. Verdammt viel Gefluche, Jugendliche quasi direkt ,aus der Hood'—eine geniale Show. Normalerweise bekommt man nur den weichgespülten Durchschnitt zu sehen."

Wobei viele auch sagen würden, dass Jamie Oliver gerade zu diesem weichgespülten Durchschnitt gehört. Er hat Werbedeals mit Supermärkten, in seinen Restaurants hängen britische Flaggen: Er gehört zweifellos zum Mainstream. Ganz ehrlich, man ist nicht unbedingt ein Rebell, wenn man Musikvideos mit Ed Sheeran macht. Der Hipster-Koch ist einfach populär, dadurch wirkt er teilweise noch lahmer.

„Ich glaube … Also, ich denke …" Jamie Oliver hadert ein bisschen, als ich ihn frage, was er davon hält, dass Essen zur Zeit einfach cool ist. „Das ist witzig, ich habe noch so viele Tattoos und Bärte in meiner Küche gesehen, aber ich finde das einfach toll. Die ganze Branche ist gerade so motiviert. Das macht alles einfach nur besser."

Anzeige
jamie-oliver-interview-sugar-tax-5

Foto von Jake Lewis

Eine verdächtig diplomatisch klingende Antwort, aber seine ungezwungene Art und Weise zu reden überzeugt mich, dass Jamie Oliver wirklich so nett ist. Ich hoffe, ich habe Recht. Wenn es in der Medienwelt so weitergeht und Köche wie Rockstars sind, dann wäre Jamie Oliver, wie er mit einem Kürbis in der Hand im TV herumwirbelt doch ein ziemlich netter Gegenpol dazu.

Es ist auch nicht so, dass er nicht auch etwas exzentrischer sein möchte. Letztes Jahr kündigte er an, dass er sehr oft vegetarisch isst und ein Kochbuch mit fleischlosen Gerichten veröffentlichen will. Ziemlich radikal für einen Typen, dessen Publikum aus Frauen in den Wechseljahren und Menschen mit langweiligem Spotify-Geschmack besteht. Auch das eher seriöse Kochshow-Format auf seinem YouTube-Kanal langweilt ihn zunehmend.

„Auch wenn es mittlerweile etwas vielfältiger ist, komme ich immer noch nicht damit klar, dass wir quasi ein einziger How-To-Kanal sind, wie bei langweiligen Modellbaukästen. Wir könnten so viel Neues machen, aber wir wollen zwanghaft den Leuten beibringen, wie sie ein Essen kochen", beschwert er sich. „Am liebsten würde ich mir acht meiner besten Köche schnappen und mit ihnen zwei Wochen auf so eine Art Real-Life-Entdeckungsreise wegfahren."

Bis dahin gibt es das, was die Leute sehen wollen. Und das ist eben das Modellkastenprinzip. Sein neuestes Buch, Jamies Wohlfühlküche, mit seinem fröhlichen Cover und Rezepten für Eggs Benedict und einer „festlichen Schokotorte", war ein Bestseller.

Anzeige

The Naked Chef war damals etwas Radikales. Niemand hat so einen Scheiß gefilmt. Ich war bei mir zu Hause, habe meine Klamotten getragen, es gab meine Musik und ich habe meine Freunde getroffen und das Zeug gekocht, was ich auch zu Hause gekocht habe. Das war vor 17 Jahren was total Neues."

Auch sein Leben klingt nach einer Wohlfühlbiografie: eine idyllische Kindheit im ländlichen Essex, er heiratete seine Jugendliebe, sie bekamen Kinder mit lockigem Haar und Namen wie Petal Blossom und Buddy Bear—und ein drittes ist noch auf dem Weg. Sein Instagram-Account ist voll mit Fotos von überleckeren Gerichten.

Manchmal bewirkt aber Einfaches am meisten. In der Dokumentation Jamie's School Dinners versuchte Jamie Oliver 2005 das Cafeteriaessen in einer Schule in Greenwich zu verbessern—und das hat funktioniert, weil es sich nicht nach dem feuchten Händedruck eines Politikers anfühlte. Es war einfach nur ein Typ, der die ziemlich sinnige Idee hatte, dass Schulkinder mehr zum Mittag bekommen sollen können, als nur Pommes mit Pizza oder Pommes mit Wurst.

„Auch wenn ich damals schon ziemlich berühmt war, war das Ganze doch schwer", erinnert er sich. „Man würde denken, dass man mit offenen Türen empfangen wird, aber viele Schulleiter waren extrem hinderlich und die Eltern, sogar die Großeltern waren dagegen."

Und auch viele Zuschauer hatten plötzlich was gegen Jamie Oliver und warfen ihm vor, dass er die Budgetprobleme staatlicher Schulen völlig ignorierte und Familien mit geringem Einkommen Vorschriften machen will. Aber die Show hat etwas bewirkt. Die darauffolgende „Feed Me Better"-Kampagne hat die Regierung dazu bringen können, dass die Richtlinien für die Schulspeisung und 280 Millionen Pfund für besseres Schulessen versprochen wurden. Auch seine Kritik an Fertigprodukten in Schulkantinen blieb nicht ohne Folgen: Die Produktion Turkey Twizzlers, Fleischkringeln aus Separatorenfleisch, wurde wegen der massiven Kritik eingestellt.

Anzeige
Food-Revolution-Day_1273-1-1024x683

Foto mit freundlicher Genehmigung von Jamie Oliver

Jamie Oliver weiß um den teilweise begrenzten Einfluss, den solche Dokus mit Primi-Köchen haben. Dennoch inspirieren ihn solche Projekte wie das aus School Dinners weit mehr, als ein kurzes Video, das zeigt, wie man schnell Fajitas macht. Wir sprechen auch darüber, wie er versucht, der fettesten Stadt der USA mit gesundem Essen zu helfen. Über das Fifteen spricht er fast schon wie ein Missionar und beschreibt es stolz als „echtes Charity-Projekt, das rotzige Gören von der Straße holt und aus ihnen Michelin-Köche macht."

Scheint so, als sei Jamie Oliver wie für Gesundheitskampagnen geschaffen. Da ist er allerdings anderer Meinung.

„Nein, denn ehrlich gesagt bin ich ein ziemlicher Bonze. Definitiv also nicht. Ich bin nicht politisch aufgewachsen, war irgendwie immer ein bisschen ein Arsch und habe viel herumgewitzelt."

Und da ist er wieder, Jamie Oliver, der bescheidene Typ, der kein Buch gelesen hat, bis er Ende 30 war und wahrscheinlich im Pub als erstes ein Bier spendiert bekommt.

„Das ist nicht so gekommen, weil ich besser als andere war, sondern weil ich einfach schneller war", erklärt er. „Die Leute haben mir einfach schnell die Dinge erzählt, die sie aufgeregt oder angekackt haben."

Was ihn derzeit aufregt und ankackt, ist Zucker. Sein Dokufilm Jamie's Sugar Rush letztes Jahr und die kleinen Kinder mit ihren kariesfaulen Zähnen haben ihn dazu bewegt, eine Kampagne für eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke zu starten. Er hat eine Online-Petition ins Leben gerufen und auch vor dem Health Select Committee der britischen Regierung eine Rede gehalten: Er setzte den Komiteemitgliedern Fanta-Flaschen vor und hat bei ihnen „vor allem auch als Vater" für Maßnahmen zur Zuckerreduzierung plädiert.

Anzeige
jamie-oliver-interview-sugar-tax-11

Jamie Oliver sprach im Oktober letzten Jahres vor dem Health Select Committee über die Zuckersteuer. Screenshot via Parliamentlive.tv

Ein Monat nach unserem Interview hat der britische Finanzminister George Osborne verkündet, dass im Regierungshaushalt 2016 auch eine Steuer für Getränke vorgesehen ist, die pro 100 Milliliter mehr als 5 Gramm Zucker enthalten. In einem Post auf Instagram schrieb Jamie Oliver danach: „Wir haben es geschafft, Leute!! Wir haben es geschafft!!! Eine Zuckersteuer auf süße Getränke …Ein großer Schritt, der Wellen schlagen wird … die Wirtschaft kann sich nicht in die Gesundheit unserer Kinder einmischen!"

So uncool wie doppelte Ausrufezeichen und Appelle wie „Denkt bitte mal jemand an die Kinder?" auch sein mögen: Es gibt wohl keinen anderen berühmten Koch mit so viel Einfluss—und vor allem Motivation—, der in der Gesundheitspolitik solche „Wellen" schlagen kann. Gordon Ramsey trinkt Eistee in West Hollywood und Rick Stein könnte einen gerade mal dazu bewegen, eine Geburtstagskarte für den nächstbesten Kollegen zu unterschreiben.Und dann kommt da Jamie Oliver: Die ganze Zeit stichelt er Gesundheitspolitiker an, lässt nicht locker und postet dann etwas bei Instagram dazu.

Trotzdem meint er, dass jeder das tun kann, vielleicht sogar ein cooler Koch mit Bart und Tattoos.

„Ich mache ja nichts Ungewöhnliches. Ich bin neugierig und mir liegt die Sache am Herzen. Ich mag Menschen. Ich lege einfach die Tatsachen auf den Tisch. Wenn ich sehe, dass etwas beschissen läuft, rede ich einfach darüber."

jamie-oliver-interview-sugar-tax-2

Foto von Jake Lewis

Essen ist immer weniger eine Nahrungsbeschaffung für die Menschen, sondern die Essenkultur bewegt sich mehr und mehr dazu hin, dass Köche zu Angeberfiguren werden und überall sind wir umgeben von #foodporn. Vielleicht brauchen wir wirklich jemanden im Food Bereich, der es sich zur Aufgabe macht, uns die Augen für verschiedene Dinge zu öffnen: ein einfaches Rezept mit Hühnchen für den nächsten Besuch der Schwiegereltern, ein gutes italienisches Restaurant mit vernünftigen Preisen, politische Maßnahmen gegen Fettleibigkeit bei Kindern.

„Immer heißt es, dass Essen neu und cool sein muss, aber manchmal ist auch Essen mit weniger Überraschungen, das einfach gut gemacht ist, wunderbar. Das ist wie, wenn man in ein Restaurant geht und will, dass es genauso ist wie beim letzten Mal. Es muss nicht unbedingt etwas Neues kommen, es kann auch so sein wie beim letzten Mal, so wie man es liebt."

Um später noch Fotos vor dem Fifteen zu machen, verlassen wir das Restaurant über die Feuerleiter, um keine große Aufregung im Gastraum zu erzeugen. Jamie schaut direkt in die Kamera und zeigt sein freches Grinsen.

Bleib wie du bist, Jamie.

Fotos von Jake Lewis.

Du willst mehr über britische Köche erfahren? Beim MUNCHIES Guide to British Food erwarten dich noch mehr Storys von der Insel.