Die letzten Garnelenfischer auf Pferden sind in Belgien Helden

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Belgien

Die letzten Garnelenfischer auf Pferden sind in Belgien Helden

Eine belgische Küstenstadt ist der einzige Ort der Welt, wo Fischer immer noch auf ihre Pferde steigen und mit ihren Bastkörben und Netzen Garnelen fischen. Ich habe einen Tag mit den Fischern verbracht, die diese Tradition aufrechterhalten.
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„Mein Pferd steht für mich an erster Stelle, dann kommt der Ozean und dann meine Frau. Damit muss sie klarkommen", ruft Marius Dujardin mir zu, während er auf seinem Pferd immer wieder ein aufmunterndes „ju" von sich gibt. Auf seinem Hut ist eine riesige Garnele gedruckt und sein Gesicht ist vom Meer und von der Sonne gezeichnet. Seine Nase ist rot, weil der Wind ihm ins Gesicht peitscht, und sein Dialekt ist so stark, dass kein niederländischer Muttersprachler ihn verstehen würde.

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Das Einzige, was fehlt, ist ein Tattoo einer Meerjungfrau.

Die belgische Küstenstadt Oostduinkerke ist der einzige Ort, wo Fischer immer noch mit ihren Pferden und geflochtenen Körben ins Meer schreiten, um Garnelen zu fangen. Vor ungefähr sechs Jahrhunderten war das noch die Norm an der gesamten Nordseeküste, heute gibt es nur noch 16 Fischer auf Pferden. Das Pferdefischen ist so selten geworden, dass die Fischer in die prestigereiche Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde. Sie sind machohaft, stark und können mehr Mädchen den Kopf verdrehen als ein verschwitzter David Aminati beim TV Total Turmspringen.

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Als ich ankomme, ist gerade Ebbe, die Sonne geht auf und der Strand ist menschenleer. Das einzige Geräusch, das ich höre, sind die Wellen, die Hufe und die schnaufenden Pferde. Neun riesige Brabanter gehen auf mich zu. Jedes von ihnen zieht einen Wagen mit einem Fischer in leuchtend gelber Regenbekleidung und hohen Stiefeln. Am Strand binden die Fischer die Körbe am Geschirr der Pferde fest, hängen an jedes ein Netz und gehen damit ins Wasser. Während der Hochsaison, von Ende September bis Mitte Juli, machen sie das mehrere Male pro Woche und verbringen jedes Mal drei Stunden im Wasser. Sie laufen parallel zum Strand auf und ab, den Sandbänken entlang, und fühlen sich eins mit der Natur.

„Ich bin so gut wie jeden Tag im Meer. Wenn es stürmt, können die Fischerboote ihre Segel nicht setzen, aber wir können unter diesen Bedingungen arbeiten. Hohe Wellen, starke Strömungen, dichter Nebel oder fünf Beaufort starke Windstöße: Mein Pferd und ich halten das locker aus", sagt Marius Dujardin, der Älteste der Gruppe. Nach dem Fischen durchsucht er seine Schätze am Strand. „Der Ozean ist schon seit klein auf meine Leidenschaft. Am liebsten fische ich mitten in der Nacht oder eigentlich sehr früh am Morgen, wenn noch keiner da ist. Für mich ist das wie Meditation, der ultimative Frieden, alles ist ruhig: nur ich, mein Pferd, und die mächtige Mutter Natur. Alle Sorgen perlen von mir ab wie Wasser vom Rücken einer Ente."

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Die Verbindung zum Pferd ist sehr wichtig, ansonsten wird man keine großen Beute aus dem Wasser ziehen. Für den 17-jährigen Thomas Vanmassenhove, den jüngsten Fischer der Welt, ist sein Pferd sein bester Freund. Der 20-jährige Yoshi Delancker hat mehr Nächte neben seinem Pferd als neben einer Frau verbracht. „Wenn ich nach dem Ausgehen nach Hause komme, schlafe ich im Heu, bis mein Vater mich weckt und wir fischen gehen. Das Tier ist für mich wichtiger als Frauen", brüllt er mit einer Zigarette zwischen den Lippen und wirft eine wichtige Lebenslektion nach: „Wie sagt man so schön? Es gibt zwei gefährliche Dinge in der Welt: Der Rücken eines Pferdes und die Vorderseite einer Frau."

Das Pferdefischen wird oft als aussterbendes Gewerbe wahrgenommen, aber Marius sieht das anders. „Es ist kein Beruf, es ist ein Hobby. Wir fangen durchschnittlich acht Kilo, manchmal aber auch zwanzig oder nur eines. Ein Kilo verkaufen wir für acht Euro, also machen wir das ganz offensichtlich nicht wegen des Geldes. Die Stadt spendet uns Geld, wenn wir Vorführungen für Touristen geben. Wir verkaufen auch Garnelenkroketten und -suppe, aber das ganze Geld fließt wieder in unsere Pferde und die nötigen Materialien."

Vor einigen Jahrhunderten war das Pferdefischen noch ein Vollzeitjob, heute ist es ein teures Hobby geworden. Deshalb gehen alle Pferdefische auch anderen, nicht UNESCO-zertifizierten Beschäftigungen nach: Sie sind Bauern, Studenten oder arbeiten als Bauarbeiter.

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Pferdefischen gibt es nur in Oostduinkerke, was hauptsächlich am breiten Strand ohne Wellenbrecher liegt, der sich bestens zum Garnelenfischen eignet. Außerdem wird das Hobby traditionell von Vater zu Sohn weitergegeben. Wenn der Sohn kein Interesse daran hat, ist das für den Vater wie ein Stich ins Herz und er schlägt die Gelegenheit, in seiner Stadt ein Held zu werden, aus. Die Männer sind nämlich nicht nur Fischer sondern Botschafter ihrer Stadt. Sie haben ihre eigenen Münzen, ihre eigenen Briefmarken (mit Marius drauf) und ihren eigenen Feiertag mit Garnelen-Umzug.

Die Kinder wollen ihnen die Hand schütteln, Männer wollen Fotos mit ihnen machen und Frauen stehen Schlange, um mehr als nur ihre Pferde zu streicheln. Die steigende Beliebtheit und Medienaufmerksamkeit seit sie als Weltkulturerbe erklärt wurden, ist laut Marius gefährlich: „Die Fischer sollten bodenständig bleiben und nicht auf andere hinabschauen, die nicht fischen. Wir nennen den Holzsitz, auf dem wir sitzen, die Kanzel, weil Fischer genauso viel über ihre Beute lügen wie Priester über alles andere."

Jeder der Geld, viel Zeit und einen starken Charakter hat, kann Pferdefischer werden, aber die Ausbildung ist mental und körperlich sehr intensiv und die Hierarchie in der Gruppe muss erhalten bleiben. Kandidaten müssen ihre eigenen Pferde und ihre eigene Ausrüstung mitbringen und sich selbst bei der Stadtverwaltung melden. Sie werden von erfahrenen Pferdefischern geschult, die ihnen zeigen, wie man das Meer liest, wie man sein Pferd behandelt und wie man Gefahren überwindet. Dann müssen sie eine praktische Prüfung absolvieren. „Wir müssen die Älteren in unserer Gruppe respektieren und auf sie hören", sagt der 17-jährige Thomas.

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Dieses Jahr wurden drei neue Pferdefischer ins Team aufgenommen, eine davon ist eine Frau—das Revolutionärste, was im Pferdefischen je geschah. Jahrhunderte lang war es eine Plattform für grobe Männerkultur. Die neuere Generation von Garnelenfischern findet das in Ordnung. „Ich habe kein Problem damit, wenn Frauen mit Pferden fischen, solange sie die gleichen Gesetze wie wir befolgen", sagt Thomas. Der älteste Fischer vertritt eine andere Meinung. „Wie sollte ich es mir anmaßen, eine Frau abzulehnen? Ich will keinem das Hobby wegnehmen, aber der Ozean ist und war auch immer schon Männerterrain. Viele Leute nehmen nur die schöne Seite wahr, aber die Nordsee ist gefährlich. Man kann in einen Sturm geraten, vom Pferd fallen oder sich im Netz verhaken und das Pferd läuft einfach weiter. Wenn man nicht vom Pferd kommt, hat man ein riesiges Problem. Der weibliche Körper ist für solche Situationen nicht gemacht", erklärt Marius.

Damit die weiblichen Garnelenfischerinnnen anerkannt werden, hat Dorine Geersens die Stienestekers—eine Gruppe von 40 Frauen, die ein Mal wöchentlich ins Meer tauchen, um Garnelen zu fangen—ins Leben gerufen. Heute sind sie viel besser ausgestattet als ihre Vorfahren, mit Wathosen, Regenjacken und totenmepper, einem kleinen Holzbrett mit einer runden Aussparung für einen Stab, das aber mittlerweile als Untersetzer für Shots verwendet wird, wenn Frauen auf Frauen anstoßen.

Das Garnelenfischervolk—sowohl die Männer auf ihren Pferden und die Frauen zu Fuß—locken ganze Touristenschwärme an die belgische Küste. „Während der Sommermonate wissen wir, dass wir uns anpassen müssen. Wegen der warmen Temperaturen ist es nicht gut, in der Zeit fischen zu gehen, aber wir tun es trotzdem für die Touristen. Ich weiß, dass der Tourismus gut für die Stadt ist, aber ich fische lieber nur mit meinen zwei Begleitern, dem Ozean und meinem Pferd", sagt Marius, als wir zurück aufs Festland kommen.

Als die Ampel grün wird, zeigt er seinem Pferd an, loszulaufen und ich springe vom Wagen herunter. In der Ferne höre ich ihn fluchen. „Du Wicht!", ruft er einem Auto zu, das ihm die Vorfahrt nimmt. Vollidiot, denke ich mir, als ich den Fahrer ansehe. Weiß du nicht, dass Garnelenhelden immer Vorfahrt haben?