Mexikanische Küche ist so viel mehr als nur Tacos und Guacamole
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Sterneküche

Mexikanische Küche ist so viel mehr als nur Tacos und Guacamole

Chefkoch Carlos Gaytán kocht entgegen aller Erwartungen und hat dafür als erster Mexikaner einen Stern erhalten.

Das erste Mal traf ich Koch Carlos Gaytán während des wohl schrecklichsten Fotoshootings meines Lebens. Ich machte Coverfotos für ein Magazin, für das ich damals arbeitete, und war mit Carlos in einem kleinen Studio in Mexico City verabredet. Wir hatten 45 Minuten für das Shooting, dann musste er zum Flughafen und wieder zurück nach Chicago, wo er seit 26 Jahren lebt.

Ich war nervös. Schließlich hat man nicht jeden Tag einen international anerkannten Koch vor der Kamera – er ist der erste Mexikaner, der einen Michelin-Stern bekommen hat und in den USA bei Top Chef den dritten Platz belegt hat.

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Beim ersten Foto funktionierte mein Blitz nicht. Er guckte mich an, lächelte geduldig und quatsche sogar mit mir über seine TV-Erfahrung und wie man sich an das Warten gewöhnt. Irgendwann wollte ich dann das normale Studiolicht einschalten und stellte fest, dass nicht meine Studioblitze das Problem waren, sondern dass im gesamten Viertel Stromausfall war.


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Carlos Gaytán spürte meine Angst und meinte zu mir: "Man hat nicht immer alle Zutaten für ein Gericht. Ich zum Beispiel arbeiten in den Staaten und ich kann nicht einfach aufhören, wenn ich Zutat X nicht besorgen kann. Man muss erfinderisch sein und kreative Ersatzlösungen finden."

Carlos Gaytán ist Chefkoch des Mexique in Chicago. Alle Fotos von Ariette Armella

Und genauso machte ich es: Mit ein bisschen Erfindergeist haben wir das komplette Shooting über die Bühne gebracht, das Cover war gerettet und Gaytán hat es zum Flieger geschafft.

Über die Jahre habe ich seine Geduld und seine Tipps nie vergessen. Vor Kurzem habe ich ihn wiedergetroffen, dieses mal haben wir uns über seine Küche und welche Erfahrungen er als Einwanderer gemacht hat.

Geboren wurde Carlos Gaytán am 20. Oktober 1970 in Huitzuco, einer Stadt im Südwesten des mexikanischen Bundesstaates Guerrero. Seine Familie hatte finanzielle Schwierigkeiten und seine Mutter Tere begann irgendwann, selbst gemachtes Essen zu verkaufen. Carlos hat ihr dabei geholfen. Ein Onkel brachte ihm bei, wie man barbacoa macht, eine traditionelle Zubereitungsart für Fleisch – und zwar den ganzen Prozess vom Ausheben und Auskleiden der Gruben bis ihn zur Auswahl der richtigen Ziege und wie man sie schlachtet.

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"Es war echt anstrengend. Gekocht haben wir auf einem Grundstück von uns am Stadtrand. Da musste man um 21 oder 22 Uhr anfangen und morgens um 7 nach Hause kommen, damit alle fertig zum Verkaufen ist", erinnert er sich.

Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten machte sich Carlos mit 20 auf den Weg in die Vereinigten Staaten.

MUNCHIES: Hi Carlos, erzähl mir doch mal, warum du Chicago als Start für dein neues Leben gewählt hast? Warum nicht eine andere Stadt in den USA?
Carlos Gaytán: Ich bin nach Chicago gegangen, weil dort ein Cousin von mir lebte und, na ja, ich eine Weile bei ihm unterkommen musste. Diese Stadt ist unglaublich – so vielfältig. Es gibt ganze Viertel mit Einwanderern aus allen Teilen der Welt. Du musst nicht weit reisen, um überall großartiges Essen zu bekommen. Außerdem gefällt mir, dass man in Chicago echt guten Fisch bekommt.

Was hat dich am meisten überrascht, als du in Chicago ankamst?
Wenn du mit anderen Mexikanern hier redest, merkst du, dass sie einen amerikanischen Traum leben, als wir ihn kennen. Für sie bedeutet dieser Traum einen Job zu haben – und oft ist das kein sonderlich toller – und den 20 oder 30 Jahre lang behalten zu können. Sie denken nicht über Weiterentwicklung nach.

Wir Mexikaner sind, denke ich, anständig und fleißig, aber wir brauchen Leute, die vorangehen und sich trauen, neue Dinge auszuprobieren. In Chicago habe ich viele Menschen getroffen, die Angst davor hatten, zu träumen, Dinge zu wagen, an ihr eigenes Talent zu glauben. Wir alle haben doch irgendein Talent, das muss nicht unbedingt in der Gastronomie liegen, aber wenn man sich traut, sich weiterzuentwickeln, und hart arbeitet, kann man alles erreichen, was man will.

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Wolltest du schon ein Koch werden, als du in die USA gekommen bist?
Nein. Ich brauchte einen Job und als erstes bekam ich einen als Tellerwäsche im Sheraton North Hotel. Da habe ich dann gesehen, wie es in einer Küche läuft und das fand ich echt interessant. Ich kam früher zur Arbeit, weit vor meiner eigentlichen Schicht, und arbeitete bis spät. Ich versuchte richtig einzutauchen, um mehr zu lernen. Und zu Hause habe ich dann weiter geübt, meine Hausaufgaben gemacht. Da wurde irgendwann der Küchenchef auf mich aufmerksam, er ließ mich richtig schwer arbeiten und das an allen Posten im Restaurant. Ich habe viel gelernt und ein Jahr später arbeitete ich schon als Koch.


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War das kompliziert?
Es war nicht einfach. Viele meiner mexikanischen Kollegen haben mich kritisiert. Ich weiß nicht, warum es unter uns so viel Neid gibt. Wenn mich meine Kollegen Speichellecker nannten, sagte ich ihnen: "In zehn Jahren habe ich mein eigenes Restaurant und ihr werdet immer noch hier sein und dieselbe Arbeit machen."

Und als du das geschafft hast, hast du 2008 das Mexique eröffnet. Wie entstand der Laden?
Bei mir zu Hause. Es fing alles mit Gerichten an, die ich kochte, wenn ich in einer nostalgischen Stimmung war, wenn ich das Essen meiner Heimat vermisste.

Ich koche mit den Erinnerungen aus meiner Kindheit, aber ich versuche, sie in die moderne Zeit zu übertragen. Zum Beispiel habe ich mich an den pozole verde erinnert [einen traditionellen mexikanischen Eintopf], den meine Mutter immer kochte, und mich dann gefragt, wie ich den umwandeln könnte. Dafür nutze ich meine französische Ausbildung und alles, was ich über die Jahre gelernt habe. Das Ergebnis: Eine Maiskrokette mit Schweinebauch und Salsa anstelle von Brühe.

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2013 hast du einen Michelin-Stern bekommen – damit bist du einer von nur drei Mexikanern, die das geschafft haben und alle drei leben im Ausland. Was bedeutet es für dich, so eine wichtige Auszeichnung erhalten zu haben?
Erlösung [lacht]. Als die Wirtschaftskrise die Staaten getroffen hatte, war das Mexique bereits im vierten Jahr und auch uns traf es. Dann erhielt ich plötzlich eine Nachricht vom Guide Michelin, dass wir einen Stern bekommen. Ab dann war das Restaurant voll [mit Kunden]. Mich und mein Team hat es stolz gemacht, so eine Anerkennung für unsere Arbeit zu erhalten.

Und was passierte, als du den Stern 2015 verloren hast?
Ich koche nicht, um einen Stern oder irgendeinen Preis zu bekommen. Ich koche, weil ich Essen und das, was ich daraus erschaffen kann, liebe. Die schönste Auszeichnung für mich ist, wenn die Kunden das Restaurant glücklich verlassen.

Welches war in den letzten Jahren deine größte Herausforderung in deinem Laden?
Es ist sehr schwierig, den Kunden Neues beizubringen. Für Amerikaner hat mexikanische Küche nichts mit Fine Dining zu tun. In meinem Restaurant haben wir Bohnen, Guacamole und Margaritas abgeschafft. Sobald man mit den Erwartungen der Kunden bricht, kann man ihnen neue Dinge vorschlagen.

Hast du ein Lieblingsgericht in deinem Restaurant?
Nein. Das ist, als würde man mich fragen, welches meiner Kinder ich am meisten liebe. Jedes Gericht hat eine andere Seele, ich kreiere sie alle mit Liebe. Obwohl ich jetzt gerade ziemlich aufgeregt bin, weil ich eine komplett schwarze Quesadilla kreiert habe: Die Tortilla wird mit Sepia eingefärbt, gefüllt wird sie mit speziellem mexikanischem Käse, Huitlacoche [einem Maispilz] und Schnecken (da ist er wieder, der französische Einfluss). Rein visuell absolut beeindruckend und dazu noch lecker.

Was isst du, wenn du in Mexiko bist?
Tacos al pastor, egal welche. Ich esse die einfach gern und liebe es, wenn meine Finger mit Salsa voll sind. Und wenn ich bei meiner Mutter bin, dann ihr chile con queso mit ein bisschen Avocado. Ich mag einfaches Essen, das gut gemacht ist.

Vielen Dank für das Gespräch, Carlos!