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Frankreich

In Cafés im Süden Frankreichs geht es zu wie bei der Mafia

Aix-en-Provence hat ein kleines Mafia-Problem. Das zeigt sich auch darin, wie die alten, traditionsreichen Cafés der Stadt betrieben werden. Wir haben uns mit einem Kellner unterhalten, der auch schon mal Schutzgeld in Briefumschläge legen muss.
Foto: Jenny Downing via Flickr

Aix-en-Provence hat ein klitzekleines Mafia-Problem.

Du musst deswegen nicht gleich an Good Fellas denken, aber es gibt dennoch eine Handvoll Familien—meist aus Korsika—die hier ordentlich in Schutzgelderpressung machen. Als ich 12 war, wurde in der Stadt auf ein Irish Pub ein Brandanschlag verübt, wahrscheinlich, weil die Besitzer nicht zahlen wollten.

„Den Einfluss der Mafia kannst du hier an jeder Ecke spüren", verrät mir ein jugendlich wirkender 21-jähriger Keller—nennen wir ihn mal Bruno—der in einem der ältesten und traditionsreichsten Cafés der Stadt arbeitet. „In dem Café geht es zu wie bei der Mafia. Der Laden garantiert für die Sicherheit der Mitarbeiter und das Gehalt wird jede Woche bar ausgezahlt. Wir können zum Boss sogar mit unseren persönlichen Problemen kommen."

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Das Café liegt im Schatten von einigen Platanen, die über eine der wichtigsten Straßen von Aix-en-Provence thronen. Es blickt auf eine fast 100-jährige Geschichte zurück und hatte schon Lokalmatadore wie Paul Cézanne und Marcel Pagnol zu Gast. Bruno arbeitet hier erst seit vier Monaten. Für einige Mitarbeiter, so verrät er uns, ist dieser Ort ihr uneingeschränkter Lebensmittelpunkt. „Es ist buchstäblich alles, was sie haben", ergänzt er, bevor einen Zug von der Zigarette nimmt. „Es gibt hier einen Kellner, der schon seit 45 Jahren in dem Lokal arbeitet, und viele andere sind auch schon seit über 20 Jahren hier."

Wir sprechen während einer von Brunos heiligen Raucherpausen. Doch sein Blick schweift ständig in Richtung der Tische. Er ist noch neu hier und kann sich keine Patzer erlauben. Er kann sich vielleicht noch nicht vorstellen, wie manch anderer hier „den Rest seines Lebens im Café zu verbringen", aber er weiß nur zu gut, dass sein Job in dieser Gegend heiß begehrt ist. Hier kellnern und kochen die Leute, bis sie tot umfallen. Das bringt ihnen viel Respekt ein.

„Mein vorheriger Chef hat vor lauter Arbeit einen Herzinfarkt in der Küche erlitten", sagt er mit ernster Stimme. Hier hat Arbeitsdisziplin noch eine ganz andere Bedeutung. Darum verschwimmt auch die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. „Wenn Freunde oder Familie nach längerer Zeit mal wieder einen der Angestellten sprechen möchten, rufen sie hier im Café und nicht bei ihm zu Hause an."

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Dass die Leute hier ihre Freizeit für das Café aufopfern, zeigt gleichzeitig, wie wichtig diese Orte für das Leben in Aix-en-Provence sind. Zugegeben, auf den ersten Blick sieht dieses Café—wie auch die anderen in der Gegend—wie ein stinknormales altes Café aus, aber sie sind dennoch das Herz dieser Stadt. Zeit und Leben scheinen hier fast stillzustehen.

„Wir haben hier ganz viele Stammkunden", so Bruno, „deren Eltern schon regelmäßig hierher kamen, und davor deren Großeltern." Natürlich fehlt es in einer so malerischen Stadt im wunderschönen Südfrankreich auch nicht an Touristen. Bekommen diese in dem halbseidenen Café eine Extrabehandlung? Ja, indem sie wie Dreck behandelt werden.

„Unser Café lockt viele Touristen an", flüstert mir Bruno zu, „aber wir haben die Anweisung, uns nur für Stammgäste ein Bein auszureißen. Wenn eine Bestellung an die Bar oder Küche weitergegeben wird, lautet die erste Frage immer, ob es sich um einen Stammgast handelt." An Orten wie diesen geht für Nichteinheimische nur eine Sache auf's Haus: die kalte Schulter.

Als Beweis der Unfreundlichkeit, die mir entgegenschlägt, finde ich später auf TripAdvisor Dutzende Ein-Stern-Bewertungen, die über „erschreckenden Service" und „unhöfliche Kellner" klagen. Manche Gäste wollen sogar Ratten gesehen haben. Dem Umsatz schadet all dies aber nicht. „Hygienekontrollen sind eine echte Seltenheit", erzählt mir Bruno, während er sich die nächste Camel anzündet. „Ich weiß nicht mal, ob die hier jemals die Zapfhähne gereinigt haben."

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Vielleicht hat es auch etwas mit dieser unsichtbaren schützenden Hand zu tun, die über diesem Ort zu liegen scheint. Ein Art Schutzschild gegen jegliche Probleme von außen. Er erzählt weiter, dass er schon ein paar Mal den Auftrag hatte, eine unbekannte Geldsumme in einen Briefumschlag zu legen, der dann von einem einwandfrei gekleideten Mann abgeholt wurde. Bis auf ein knappes „Hallo" und einen festen Handschlag mit dem Restaurant-Manager wurden keine Worte gewechselt.

„Das Café nimmt an Wochenenden und im Sommer bist zu 30.000 Euro pro Tag ein, aber für das Finanzamt arbeiten hier offiziell nur ein paar Angestellte. Ich kriege meinen Lohn jedes Wochenende bar in einem Umschlag." Er kneift seine Augen zusammen. „Ich hoffe für dich, dass du mich mit der versprochenen Anonymität nicht belogen hast."

Nichts hat sich hier wirklich verändert, seit ich mit sechs nach Aix-en-Provence gezogen bin. Ich lebe zwar mittlerweile in London. Doch erneut auf diesen beschissenen Plastikstühlen zu sitzen, auf denen ich schon als kleiner Junge saß, und denselben grummeligen, alten Kellnern—ich frage mich ernsthaft, ob sie der Sterblichkeit trotzen können—bei der Arbeit zuzuschauen, macht mich irgendwie glücklich. Wahrscheinlich bekommst du anderswo einen besseren Kaffee, und auch echten Service. Dennoch: Bring mir—am besten noch mit versteinerter Mine und reichlich Arroganz—einen Espresso in einer versifften Tasse und ich fühl mich wie zu Hause.

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Wenn du übrigens kein Stammkunde bist, tust du gut daran, dem Kellner so wenig Beachtung wie möglich zu schenken. Eine zehnminütige Wartezeit nach dem Hinsetzen ist das Minimum. Danach bedarf es nur eines einfachen Satzes: „un café, s'il vous plait." Dann gehen noch mal zehn Minuten ins Land—wenn du Glück hast—bevor dein Espresso (dick und sirupartig, der wie ein Defibrillator auf dein Herz einwirkt) und ein Glas Wasser gebracht werden. Etwas anderes wird hier auch nicht bestellt. Und wenn du es doch tust, oder—noch schlimmer—auch nur einen Hauch von Ungeduld an den Tag legst, fällst du auf wie ein bunter Hund und kannst dich gleich schon mal darauf einstellen, eine Viertelstunde länger warten zu müssen. Die Kellner hier leben von der Ungeduld der Gäste.

Trotz seines zwielichtigen Charakters und der Soziopathen im Gewand von Kellnern strahlt dieser Ort eine trotzige Schönheit aus, der ich mich kaum entziehen kann. Die Belegschaft und die Stammkunden sind hier zu einer Familie zusammengewachsen, warum also sollten letztere nicht auch—buchstäblich—eine Extrawurst bekommen? Ja, im Umkehrschluss mag das heißen, dass Touris wie ich wie Ungeziefer behandelt werden—hatte TripAdvisor am Ende doch recht mit der Nagetier-Sichtung? Aber all denen, die darüber in Heulkrämpfe ausbrechen—insbesondere den weinerlichen Deppen auf TripAdvisor—sei gesagt: suck it up.

Versteht mich nicht falsch, ich bin ein großer Fan von guten Manieren. Doch in einer Welt, die geprägt ist von sterilem Service und falschem Dauer-Lächeln, sind kernige Orte wie dieses Café in Aix-en-Provence nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern bieten dir zudem eine nette und (fast) kostenlose Theatervorstellung. Daran zu rütteln wäre das eigentliche Verbrechen.

Aber behalt den dubiosen Typen am Nebentisch lieber trotzdem mal im Auge.

Oberstes Foto: Jenny Downing | Flickr | CC BY 2.0