So unmenschlich ist die Gastronomie wirklich
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Mobbing und Machtspiele

So unmenschlich ist die Gastronomie wirklich

Sexismus ist ein Problem in der Küche – aber sicher nicht das Einzige.

Sophia Hoffmann lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist vegane Köchin, Kochbuchautorin und Bloggerin.

Chefköche, die ihren Angestellten zwischen die Beine greifen; Kollegen, die anzügliche Witze machen; Gäste, die gern auch die Bedienung "vernaschen" würden: Die #metoo-Debatte rückte auch den Sexismus in der Gastronomie in den Fokus der Öffentlichkeit. Frauen erzählen von ihren teils schockierenden Erfahrungen und verdeutlichen, dass das Problem nicht nur in Hollywood sondern auch in der Küche gravierend ist.

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So wichtig es ist, diese Stimmen zu hören, ging die Berichterstattung jedoch schnell immer in die gleiche Richtung; die New Yorker Köchin und Restaurantbesitzerin Amanda Cohen (Dirt Candy) bringt es in ihrem Statement für Esquire auf den Punkt:

"Als Köchinnen werden Frauen kaum wertgeschätzt, aber als Opfer sind wir endlich interessant!"

Ihrer Wut über diese einseitige Aufmerksamkeit lässt sie freien Lauf: "…it doesn’t matter how well we cook. It only matters if a man wants to grab our pussies.". Sie bringt aber auch eine Idee vor, um dem zu begegnen: Frauen in der Küche müssen sichtbarer werden. Der Fokus sollte auf ihrem kulinarischen Können liegen, nicht allein auf reisserischen Opferstorys. Sie schliesst ihren Aufruf mit einer Liste von 62 Köchinnen in ihrer Heimatstadt New York und der Aufforderung an die Presse, statt Leidens- auch Erfolgsgeschichten zu erzählen.

Die dänische Köchin und Gastro-Unternehmerin Trine Hahnemann (Hahnemanns Køkken) sieht ganz klar eine Sensibilisierung durch die #metoo-Debatte und wünscht sich im Interview mit Süddeutsche Zeitung einen längst überfälligen Wandel in der Gastronomie. Für sie ist klar: "Ständige Unterdrückung ist ein Mittel, um ein männlich bestimmtes System aufrecht zu erhalten. […] Ich weiss, dass man auch ein Drei-Sterne-Restaurant führen kann, ohne zu brüllen und Sprüche zu klopfen. Die Härte des Business ist auch ein Mythos, den die Männer mühsam aufgebaut haben."

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In den meisten Gastroküchen herrscht auch heute ein patriarchalisch geprägtes, stark hierarchisches Machtsystem mit militärischem Duktus. Macho-Verhalten und sexistische Sprüche inklusive. Bis hin zu sexualisierter Gewalt.

Dieses System ist nicht nur frauenfeindlich, sondern schlichtweg menschenfeindlich.

Wir sind an dieses Image so sehr gewöhnt, dass wir es kaum infrage stellen. Es ist sogar Teil unserer Unterhaltungskultur: Die meisten Fernseh-Köche sind laute, cholerische Typen mit roten Köpfen, die rumbrüllen, exzessiv fluchen und ihre Umgebung wie den letzten Dreck behandeln.

Karriere durch Mobbing?

Ein Beispiel ist Tim Raue. In der international erfolgreichen Netflix-Serie Chef's Table bekennt der Berliner Sternekoch: "Ich bin egozentrisch und ich bin stolz drauf." Seine Mitarbeiter kommandiert er vor laufender Kamera mit Ansagen wie: "Beweg deinen verfickten Arsch und bring mir schnell die Palette!“

Als er zu seinem Werdegang befragt wird, erzählt er unverblümt wie er seinen damaligen Vorgesetzten gemobbt hat: "Als ich als Commis arbeitete, wollte ich zum Demi Chef werden. Also beobachtete ich den Demi Chef und machte ihm das Leben schwer (im Original "I fucked him"). Den ganzen Tag. […] Die Kollegen mochten mich nicht – zurecht. Ich war eine Nervensäge für alle Kollegen. Ich tat alles, um Macht zu bekommen."

Nun eilt Raue natürlich nicht gerade der Ruf voraus everybody's darling zu sein, aber dass jemand problemlos international Karriere machen kann, obwohl er öffentlich beleidigt und mobbt, ist – neutral betrachtet – schon erstaunlich.

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Im weiteren Verlauf der Chef's Table-Folge spricht er von seiner traumatischen Kindheit, eigenen Missbrauchserfahrungen und erklärt, er wollte einfach nur dem Schicksal seiner perspektivlosen Herkunft entfliehen. Es ist leider ein weithin bekanntes Phänomen, dass selbst erlebtes, traumatisierendes Verhalten adaptiert und weitergetragen wird. Raue macht zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus, dass es ihm um Macht geht.

Irgendwie verständlich, denn Macht spielt für viele Köche in der Arena der Spitzengastronomie eine ausschlaggebende Rolle. Der Kampf um möglichst viele Sterne, GaultMillau-Punkte und "World's Best Restaurant"-Platzierungen ähnelt einem absurden Wettbewerb bei dem keine Gefangenen gemacht werden.

Die Menschen, die so strikt behaupten es ginge einfach nicht anders, ringen um Machterhalt in einem System, das ihre Vorgänger sich über Generationen so aufgebaut haben und das für sie auch hervorragend funktioniert.

Ob Macht, Furcht oder Einschüchterung am Ende der Antrieb sein sollte, Menschen grossartiges Essen zu servieren, sei dringend in Frage gestellt. Aber dass man als Unternehmensführer im Jahr 2018 gewisse zwischenmenschliche Grundregeln beachten muss, steht eigentlich ausser Zweifel.

Interessanterweise scheinen diese für einige Menschen ausser Kraft gesetzt zu sein. Ihre Genialität und besondere Leistung wird gerne als Entschuldigung für Ausbrüche und Entgleisungen angeführt, sie scheinen unantastbar. Von dieser Vorstellung müssen wir uns lösen.

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Es gibt eine klare Grenze zwischen strengem Führungsstil und schlichtweg unmenschlichem Verhalten. Natürlich gibt es nach wie vor genug willige Jungköche, die sich solchen Chefs ausliefern, weil die glauben, dies sei der einzige Weg es selbst zum Star zu schaffen.

Aber je mehr Alternativen wir schaffen und je mehr Gastro-Unternehmerinnen und -Unternehmer anders agieren, desto attraktiver können diese Alternativen nicht nur für Frauen sondern auch allgemein für Berufsanfänger werden.

Wäre es nicht schön, wenn jemand wie Herr Raue sich, geprägt durch seine negativen Erfahrungen, entscheiden würde, genau deshalb etwas anders zu machen als seine Eltern oder seine Ausbilder? Indem er anerkennt, dass mit Tranchiermessern bewaffneter Kampf nicht das einzige Mittel ist, seine kulinarische Leidenschaft mit anderen Menschen zu teilen?

Wahrscheinlich kann man es ihm nicht mal übelnehmen, wuchs er doch mit Vorbildern wie dem kürzlich verstorbenen "Jahrhundertkoch" Paul Bocuse auf, von dem das Zitat überliefert ist: "Frauen gehören ins Schlafzimmer, nicht aber in eine Profiküche."

Heulen erlaubt!

Trine Hahnemann zeigt in ihrem Kopenhagener Unternehmen Hahnemanns Køkken, dass es anders geht. Das Männer-Frauen-Verhältnis unter ihren über 50 Mitarbeitern ist 50:50. Sie fördert Eigeninitiative, ermutigt Väter Erziehungsurlaub zu nehmen und löst sich aktiv von rein patriarchalisch geprägten Denkmodellen. Die oft als weibliche Befindlichkeit verurteilte "Plauderkultur" beispielsweise sieht sie als wertvolles soziales Schmiermittel. Emotionen zu zeigen hält sie für gesund und menschlich, wenn jemand weint, muss er sich nicht in der Abstellkammer verstecken.

Wir brauchen mehr Geschlechtergleichgewicht, eine grössere Sichtbarkeit von Frauen in gastronomischen Berufen und alternative Qualitätsbeurteilungen zum elitären System der Sterneküche. In Berlin bin ich Teil eines Frauen-Netzwerks, das eine öffentlich zugängliche Liste mit allen dort in der Gastronomie arbeitenden Frauen verfasst hat. So sind sie sichtbar für Journalisten, Organisatoren von Konferenzen, Panel Talks und Initiatoren von Awards, deren Hauptargument stets lautet: “Es gibt ja kaum Frauen in der Gastro!”

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Opfer von Mobbing und Sexismus müssen Unterstützung bekommen, schon für Auszubildende muss es mehr Einrichtungen geben, die ihnen bei Problemen Rückhalt bieten. Übergriffiges Verhalten muss Konsequenzen haben, sowohl für Mitarbeiter als auch für Gäste. Trine Hahnemann hat beispielsweise auch schon Gäste von Events verwiesen, nachdem diese ihr Personal belästigt hatten.

Aber auch die Konsumenten sollten beim nächsten Restaurantbesuch sensibler werden:

Wie werden die Mitarbeiter behandelt?
Wie präsentiert sich der Chef?
Wie lautet die Unternehmensphilosophie?

US-Köchin Amanda Cohen schreibt offensiv in die Speisekarte ihres Restaurants Dirt Candy, dass sie ihre Mitarbeiter fair bezahlt werden und kein "extra tipping" erforderlich sei, von dem Angestellte in den USA anderenorts oft existenziell abhängig sind.

Auch ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Es geht anders. Ich habe in geschäftigen Küchen gearbeitet, in denen nicht gebrüllt wurde, niemand einem an den Hintern fasste und keine sexistischen Sprüche fielen. Zugegeben, die meisten dieser Küchen wurden von Frauen geführt.

Vor kurzem durfte ich zusammen mit fünf anderen Köchinnen im renommierten New Yorker James Beard House kochen. In einer Miniküche bereiteten wir für 84 Gäste sechs Gänge zu und selbst das front of house Team zeigte sich verwundert: Selten sei ein Dinner mit so vielen Köchen und Gängen so reibungslos verlaufen.

Vor drei Jahren kochte ich in Wien mein 7-gängiges Game of Thrones-Dinner für 45 Gäste. Einer meiner zwei Helfer war ein klassisch ausgebildeter Koch. Am Ende eines schweisstreibenden Abends mit komplizierter Menüfolge machte er mir das schönste Kompliment: "Ich habe noch nie so entspannt für so viele Gäste gekocht!"

Dieser Artikel stammt aus unserer Redaktion in Zürich.
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