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Mit dem eigenen Food-Truck in eine bessere Zukunft

Mariam Shaar und Myrna Atalla erzählen uns die einzigartige Geschichte der Frauen des Flüchtlingscamps Burj el-Barajneh im Libanon, die sich mit ihrem eigenen Catering-Unternehmen Soufra ein bisschen Eigenständigkeit zurückerobern.

2015 neigt sich langsam dem Ende zu und rückblickend kann man sagen, dass die Menschheit dieses Jahr einige Wundertaten vollbracht hat, die vor ein paar Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wären. Da ist es umso schmerzlicher zu sehen, dass dieses Jahr auch so viele Menschen auf der Flucht waren, wie noch nie zuvor. Das muss man sich einmal vor Augen führen: Wir sind kurz davor, andere Planeten besiedeln zu können und gleichzeitig müssen mehr Menschen als jemals zuvor ihre Heimat aufgrund von Konflikten und Kriegen, wirtschaftlichen Problemen und Verfolgung verlassen. Wer Glück hat, für den endet diese Flucht in einem der Flüchtlingslager—allerdings könnte dieser Aufenthalt Jahrzehnte oder länger dauern.

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Mariam Shaar und Myrna Atalla wollen das verändern.

Beide leiten NGOs und wollen gemeinsam den Frauen des libanesischen Flüchtlingscamps Burj el-Barajneh zu mehr Eigenständigkeit verhelfen.Das Camp wurde 1948 unweit der libanesischen Hauptstadt Beirut gegründet, um die zahlreichen palästinensischen Flüchtlinge aufzunehmen, die von Isreal gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. Jetzt ist die Zahl der Campbewohner noch mal in die Höhe geschossen durch syrische Flüchtlinge, die vor dem anhaltenden Krieg fliehen.

Mariam leitet die Women's Program Association (WPA) im Flüchtlingslager und hat sich vor ein paar Jahren mit einer Idee an Myrna gewandt, die Alfanar leitet, die erste auf die arabische Welt spezialisierte Wohltätigkeitsorganisation, die engagierte Projekte unterstützt. Mariam wollten den Frauen im Camp helfen, ein eigenes Catering-Unternehmen zu gründen. Zwei Jahre später verkauften sie unter dem Namen SoufraArabisch für „Esstisch"—Essen an die Flüchtlinge im Camp.

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Alle Fotos von Soufra.

Jeden Samstag verkaufen die Frauen von Soufra ihre Gerichte auch auf dem Souk el Tayeb-Markt in Beirut, auch für einige wichtige Veranstaltungen haben sie schon das Catering gemacht. Die kleine Catering-Firma der Flüchtlingsfrauen war absolut erfolgreich, aber sie wollten ihr Geschäft noch weiter ausbauen. Per Crowdfunding-Kampagne wollten sie sich einen eigenen Food Truck kaufen. Bis jetzt haben über 55.000 Dollar gesammelt—weit über ihrem ursprünglichen Ziel von 46.973 Dollar.

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Ich habe mich mit Mariam und Myrna über ihre Kickstarter-Kampagne unterhalten und sie gefragt, inwiefern ihr Projekt das Leben anderer Flüchtlinge—nicht nur in der arabischen Welt, sondern überall—verbessern kann.

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MUNCHIES: Inwiefern beeinflusst die persönliche Geschichte der Soufra-Köchinnen die Gerichte? Wie viele sind Syrerinnen, wie viele Palästinenserinnen? Myrna Atalla: Bei Soufra werden hauptsächlich palästinische Gerichte verkauft. Die Rezepte haben die Frauen über Jahre hinweg perfektioniert. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben, um so die Traditionen und auch die palästinensische Identität zu bewahren. Mittlerweile gibt es aber auch muhammra, einen typisch syrischen Dip, und kibbeh, ein libanesisches Gericht aus Hackfleisch, Bulgur und Gewürzen.

Mariam Shaar: Die meisten Frauen im Team sind Palästinenserinnen. Neu dazugekommen sind zwei Syrerinnen.

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Was hat es eurem Geschäft gebracht, dass ihr auch auf dem Souk el Tayeb verkauft? Mariam: Die Leute vom Markt haben uns unglaublich geholfen, in der libanesischen Food-Szene Fuß zu fassen. Sie haben uns Tipps gegeben und uns beim Branding und Marketing geholfen. Ohne ihre Hilfe hätten wir das nicht geschafft. Als Catering-Unternehmen haben wir keine wechselnde Speisekarte wie das Tawlet, ein Restaurant auf dem Souk el Tayeb, unser Angebot ist immer gleich. Aber durch den Souk el Tayeb bekommen wir wertvollen Input von professionellen Köchen für unsere Karte und unsere Food-Truck-Strategie.

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Mariam, ich habe gehört, du kochst eigentlich gar nicht. Wie kam es dann zu der Idee? Mariam: Weil ich Single bin, muss ich nicht so viel Zeit in der Küche verbringen! Die meiste Zeit verbringe ich bei der Arbeit. Als ich die Idee zu Soufra hatte, war ich anfangs extrem nervös. Wer sowas anfängt, hat normalerweise zumindest Ahnung von den Grundlagen. Aber die Frauen haben mir wirklich Selbstvertrauen gegeben. Und es geht eigentlich auch nicht um mich, sondern um sie—sie können gut kochen. Ob ich gut kochen kann, ist egal. Ob ich irgendwann auch mal kochen werde? Wenn ich muss, ja. Meine Detailverliebtheit ist, glaube ich, ganz gut, so kann ich sicherstellen, dass es eine gewisse Regelmäßigkeit beim Kochen gibt.Ich achte zum Beispiel darauf, dass die Frauen immer dieselbe Menge Gewürze für ihre Gerichte verwenden, sodass die Qualität immer gleich gut ist. Mittlerweile wissen die Soufra-Frauen meinen strengen Blick auch zu schätzen.

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Wenn ich das richtig verstehe, investiert Alfanar als Wohltätigkeitsorganisation in kleinere Projekte und Organisationen wie Soufra, um die Lage von Frauen und Kindern zu verbessern. Arbeitet ihr auch mit Organisationen aus dem Gastrobereich zusammen? Myrna: Ja, Soufra ist nicht das einzige Unternehmen aus diesem Bereich. Seit kurzem investieren wir auch in ein weiteres Unternehmen mit sozialer Ausrichtung aus dem Libanon, „Mommy Made", das junge Frauen zu professionellen Köchinnen ausbildet, sodass sie einen festen Arbeitsplatz bekommen. In Ägypten gibt es eine Organisation, „Shomoo" (Arabisch für Kerzen), die wir in ihrem Kampf gegen häusliche Gewalt in den ländlichen Teilen Ägyptens unterstützen: Durch unsere Hilfe hat sich ihre wirtschaftliche Situation verbessert, da wir ihnen geholfen haben, sich selbst mit Essen zu versorgen. Bei Soufra hat uns insbesondere Mariams Vision und ihr Unternehmergeist beeindruckt. Ihr Modell klang vielversprechend, um Einnahmen für die gesellschaftlichen Aktivitäten von WPA zu erzielen.

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Erzählt doch etwas über die Veranstaltungen, für die Soufra das Catering gemacht hat. Mariam: Wir haben für verschiedene Organisationen gearbeitet, unter anderem für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, für die Schweizer Botschaft, für die Amerikanische Universität Beirut und für die Wirtschafts- und Sozialkommission für Asien und den Pazifik. Erst vor ein paar Wochen haben wir bei einer Veranstaltung von PACES, einer Wohltätigkeitsorganisation, die für palästinische Jugendliche außerschulische sportliche Aktivitäten organisiert, gut 400 Familien mit Essen und Trinken versorgt. Und die Kunden geben uns immer sehr gutes Feedback. Ich mache mir gerne Sorgen und werde schnell nervös, aber mir sagen alle, dass ich mich entspannen kann, weil unser Essen echt gut ist.

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Stimmt es, dass euch der Film Kiss the Cook von Jon Favrea zu Soufra inspiriert hat? Oder hat der Film euch nur in eurer Idee bestätigt? Myrna: Ich glaube eher Letzteres. Als wir uns mit Mariam und ihrem Team zusammengesetzt haben, haben wir zuerst darüber nachgedacht, wie wir die doch schwankenden Einnahmen dieses kleinen Catering-Unternehmens ausgleichen könnten. Die Soufra-Frauen verstanden schnell, wie wichtig es ist, außerhalb des Camps Kunden zu haben. Dort wo es ein hohes Fußgängeraufkommen gibt, zum Beispiel in der Nähe des Krankenhauses, könnte man mehr verkaufen. Einer meiner Kollegen kannte den Film und so kamen wir darauf, das in den Geschäftsplan von Soufra einzubauen. Und das Team hat die Idee sofort angenommen—das zeigt, wie offen sie alle sind. Mariam freut sich auch schon drauf, den Film zu sehen.

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Welche Gerichte der Frauen sind am beliebtesten? Mariam: Da sind einmal unsere fatayer fellahi, ein Gebäck, das wir noch mit frischem Thymian verfeinern. Köstlich! Viele haben schon versucht, das nachzukochen, aber sie kommen an unsere einfach nicht ran. Außerdem ist musakhan sehr beliebt, ein traditionelles palästinensisches Gericht: Hühnchen mit Sumak und gebratenen Zwiebeln.

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Ich habe gehört, dass ein Flüchtling durchschnittlich 17 Jahre in einem Camp lebt oder sogar länger. Ist Soufra denn langfristig angelegt? Oder wird sich das Unternehmen auflösen, sobald die Frauen mit ihrer Familie das Camp verlassen? Myrna: Das Burj el-Barajneh ist ein dauerhaftes Flüchtlingslager. Alle Frauen, die bei Soufra arbeiten und auch die meisten Frauen, Männer und Kinder, die hier leben, wurden auch hier geboren. Viele wissen es nicht: Selbst wenn man sein ganzes Leben im Libanon gelebt hat, darf man als Flüchtling nicht auf den normalen Arbeitsmarkt. Die Frauen bei uns und in anderen libanesischen Flüchtlingscamps suchen händeringend nach einer würdevollen Arbeit.

Mariam: Täglich verfolgen die Frauen ihre Kickstarter-Kampagne. Dieser Food-Truck wird ihnen so viel bedeuten. Dadurch erfüllt sie ihre Arbeit mit noch mehr Stolz und sie sind in der libanesischen Gesellschaft noch präsenter.

Wie wollt ihr das Tagesgeschäft mit dem Food-Truck künftig meistern? Mariam: Wir steuern die Gegenden außerhalb des Camps an, in denen es ein hohes Fußgängeraufkommen gibt—nicht nur beim Krankenhaus, auch in der Nähe von Banken, Schulen und Einkaufsstraßen. Außerdem sprechen wir auch mit anderen Food-Truck-Besitzern, die uns noch wertvolle Tipps geben können.

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Glaubt ihr, dass andere Frauen-Unternehmen in der arabischen Welt sich an eurem Modell orientieren? Myrna: Man kann dieses Modell sicherlich auf andere Flüchtlingscamps im Libanon übertragen. Insgesamt gibt es neun Ableger von WPA in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon—warum sollten wir also nicht eine ganze Flotte von Food-Trucks haben, die alle Camps im Libanon beliefern? Außerdem planen wir Geld zu sammeln, damit auch Mommy Made einen Food-Truck kaufen kann. Aus beiden Projektion schöpfen wir Erfahrungen, die wir dann an anderen Orten wieder einbringen können.

Mariam: Wir als Flüchtlinge wissen, dass Wohltätigkeit allein nicht reicht. Man muss den Menschen doch auch Chancen geben, damit sie eigenständig werden. Gib uns einen Fisch und du ernährst uns für einen Tag. Lehre uns zu fischen und du ernährst uns ein Leben lang. Das können wir mit dem Food-Truck erreichen. Und mit diesem Modell können wir auch anderen Flüchtlingen helfen.

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Danke für das Gespräch, Myrna und Mariam.