FYI.

This story is over 5 years old.

London

Tony Conigliaros Drinks sind Meisterwerke

Tony Conigliaro ist bekannt dafür, Cocktails in seine chemischen Bestandteile zu zerlegen, um sie anschließend in neuem Gewand und mit neuen geschmacklichen Eigenschaften wieder zusammenzumischen—wie Nietzsche, nur leckerer. Ich habe ihn in seinem...

Das Gebäude in Bethnal Green ist knallgelb. Davor parkt ein knallgelber Minivan. Und zwei Männer stehen vor einer—wie sollte es auch anders sein—ebenso knallgelben Tür und rauchen. Ich inspiziere das Schloss und stelle fest, dass die Tür nicht abgeschlossen ist, also trete ich ein. Im Inneren überraschen mich weiß gestrichene Wände. Die gehe ich bis zum Ende eines langen Flures entlang, wo ein großer Raum ein 20-köpfiges Start-up beherbergt. Die Köpfe der emsigen Mitarbeiter sind von riesigen Macs verdeckt. Hier und da liegen leere Chipstüten herum.

Anzeige

An so einem Ort hätte ich Tony Conigliaro—einer der kreativsten Barkeeper der Welt und Besitzer von so renommierten Bars wie 69 Colebrooke Row und Zetter Townhouse—wohl kaum erwartet. Als Mitglied einer kleinen Gruppe von vorausdenkenden und technikverliebten Cocktail-Künstlern (zu denen auch Dave Arnold vom Booker and Dax gehört), ist Conigliaro bekannt dafür, Cocktails in seine chemischen Bestandteile zu zerlegen, um sie anschließend in neuem Gewand und mit neuen geschmacklichen Eigenschaften wieder zusammen zu mischen. Ich könnte auch gar nicht richtig sagen, was genau ich mir erwartet habe; vielleicht eher kalte Wände aus Stahl und eine sterile Laborumgebung.

Gerade als ich denke, „Mist, falsches Gebäude", öffnet sich eine versteckte Tür und eine Frau im Kittel steht plötzlich vor mir. Erleichtert folge ich ihr in das brandneue Epizentrum von The Drink Factory. Ich bereite mich auf den Anblick von technischem Gerät und wandhohen Kühlschränken mit dubiosem Inhalt vor. Doch stattdessen sehe ich als erstes nur Bücher. Hunderte von Büchern, um genau zu sein: darunter viele Sammlungen von Kurzgeschichten, Romane und Fotoalben.

Noch bevor ich seine Hand schütteln darf und er mich auf eine Rundtour durch das Labor mitnimmt (bei der ich glücklicherweise ein paar echte Kuriositäten erspähen kann, wie schwedischer Whisky mit Bibergeil), wird mir klar, dass ich Tony komplett falsch eingeschätzt habe. Er hat zwar den Ruf, ein regelrechter Cocktail-Forscher zu sein, doch wird dieser seiner künstlerischen Seite nur kaum gerecht. Denn seine Drinks—auch wenn sie mithilfe von Zentrifugen und Pipetten zusammengestellt werden—haben mehr den Charakter von spannenden Geschichten als von trockenen Tabellen.

Anzeige

Einen von Tonys Cocktails zu trinken ist gleichbedeutend mit dem Gefühl, sich als Rezipient in Zeit und Raum zu verlieren, was aus meiner Sicht das Ziel von Kunst und ihren Schöpfern sein sollte. Ihr seht schon, ich habe so einige Fragen an den Menschen und Künstler Tony Conigliaro.

Photo by David Whelan

MUNCHIES: Du wirst oft mit Food-Visionären wie Ferran Adrià und Heston Blumenthal verglichen. Wie stehst du dazu? Wenn zwei oder mehrere Personen an einem ähnlichen Thema arbeiten, ist es eigentlich normal, dass sie sich früher oder später zusammensetzen und ein paar Gedanken austauschen. Adrià und Blumenthal waren ihrer Zeit aber weit voraus. Ich wollte eine ganz neue Sprache entwickeln, mit der auch Barkeeper arbeiten könnten, anstatt nur die Ideen anderer Personen weiterzuentwickeln.

Was hat es mit dem neuen Labor auf sich? Wir sind hierher gezogen, weil aus unseren alten Räumlichkeiten teure Eigentumswohnungen gemacht werden, was zur Zeit gefühlt überall der Fall ist. Wir haben viele neue Projekte am Laufen, weswegen ein größeres Labor eine tolle Sache ist. Unsere Barkeeper können hier über neue Konzepte diskutieren, aber gleichzeitig auch ihre Finger schmutzig machen. Sehr praktisch, also.

Wo kommen all diese Laborgeräte her? Mein Küche war, und ist, klein. Ich konnte mir anfangs keine Kältemaschine leisten, also habe ich mir ein spezielles Laborgerät besorgt und mit einer Aquariumpumpe kombiniert. Dann hat mir jemand eine Zentrifuge geliehen, ich konnte sie aber nicht zu Hause benutzen … Das wäre viel zu teuer gewesen.

Anzeige

Als wir das 69 Colebrooke Row aufgemacht haben, ist alles dahin gewandert. Aber dann kamen immer mehr Sachen dazu. Immer mehr Leute bieten uns neue Geräte an—entweder zur dauerhaften Benutzung oder zu Testzwecken.

Du hast ja einen künstlerischen Background. Wie kamst du dazu, Drinks wissenschaftlich zu untersuchen? Ich habe damals mit Gemälden, die übel gerochen haben, gearbeitet. Mein Atelier war am Hoxton Square. Ich war also schon da, bevor die Gegend von anderen Künstlern entdeckt wurde. Aber ein Atelier muss natürlich auch finanziert werden. Darum habe ich einen Job als Barkeeper angenommen. Schon nach kurzer Zeit beschäftigten mich Fragen wie „Was macht aus wissenschaftlicher Sicht einen guten Martini aus?" oder „Wie wirkt er auf uns und unsere Sinne?"

Also hast du damit begonnen, aus Trinken eine Wissenschaft zu machen? Wenn du eine Sache nah genug betrachtest, endest du früher oder später auf der molekularen Ebene. Und genau dort kannst du dann viele Antworten finden.

Ist die Zubereitung von Cocktails Kunst oder Wissenschaft? Definitiv Kunst. Wissenschaft beantwortet nur Fragen. Unser Projekt hat aber fast schon romantische Seiten. Für uns spielt Humor eine wichtige Rolle, auch wenn wir stets mit größter Seriosität zu Werke gehen. Das Wichtigste ist aber, dass unsere Kreationen unseren Gästen Spaß machen.

Wie laufen bei euch die Prozesse im Einzelnen ab? Wir wollen immer eine Geschichte erzählen, die wir Diorama nennen. Ich fertige dafür viele Zeichnungen an, damit die Ideen von mir und meinen Mitarbeitern deutlich werden. Jeder Drink ist eine Art Bühne, während den Zutaten die Rolle der Schauspieler zukommt.

Anzeige

Nehmen wir zum Beispiel unseren Cocktail „The Rose", der auf der Idee und dem Bild eines Spaziergangs durch einen typischen englischen Rosengarten basiert ist. Die wichtigste Ingredienz ist ein lebensmitteltaugliches Parfüm, das wir selber herstellen. Das platzieren wir auf einem Zuckerwürfel. Dann gießen wir Champagner auf, weswegen du während der ersten Schlucke nur ein leichtes Rosenaroma wahrnehmen wirst, das dann mit jedem Schluck zunimmt. Anders ausgedrückt: Je tiefer du in den Rosengarten eindringst, desto mehr wird er dich und deine Sinne betören.

Hast du erst erlernen müssen, wie man Duftstoffe herstellt? Ja. Ich habe mir dafür das unverschämt teure Buch Perfume and Flavour: Materials of Natural Origin von Steffen Arctander kaufen müssen und mehr oder weniger auswendig gelernt. Der Prozess dahinter ist sehr ähnlich, vor allem was die Crossover-Funktion von ätherischen Ölen betrifft. Als ich mich mit dem Thema auseinander gesetzt habe, wurde mir sofort klar, welches Potential Parfüm bei der Zubereitung von Cocktails haben kann. Mittlerweile verwenden wir bei allen unseren Drinks Duftstoffe.

Wie wichtig ist Zusammenarbeit für den Erfolg und die Entwicklung von The Drink Factory? The Drink Factory war anfangs ein Blog, weil ich mit den Leuten da draußen in Kontakt treten wollte, um mich über das, was wir machen, austauschen zu können. Die meisten meiner Gesprächspartner waren Leute, die rein formell nichts mit der Bar-Industrie zu tun haben. Ich habe schon mit Atomphysikern, Neurologen und einem Toningenieur zusammengearbeitet. Letzterer hat versucht, das, was wir mit Getränken machen, auf ähnliche Weise auf Musik anzuwenden. Meine Laborassistentin Zoe arbeitet zusammen mit Charles Spence von der Oxford University an einem Projekt zum Thema „Musik und Aroma". Wir haben die dort gewonnenen Erkenntnisse weiterentwickelt und das Ganze auf ein neues Level gebracht, indem wir Drinks eigens für die Open-Air-Oper im Londoner Holland Park hergestellt haben.

Anzeige

Erzähl mir mehr von der Oper. Aufgeführt wurde Adriana Lecouvreur von Francesco Cilea, in deren Handlungsverlauf vergiftete Veilchen eine sehr wichtige Rolle spielen. Also haben wir einen gefährlich aussehenden, violetten Drink zubereitet. Das war Spaß pur. Und es ist auch niemand umgekommen. Wir haben den Zuschauern natürlich nicht gesagt, dass wir den Plot der Oper kennen, falls sie ihn selbst noch nicht gekannt haben sollten. Und ich kann dir sagen, dass es eine verdammte Genugtuung war, als das Publikum „Ah" ausrief und fast im selben Moment Richtung Bar stürzte, um—mit unserem Gifttrunk in der Hand—gewissermaßen einen Teil der Handlung nachspielen zu können.

Wo siehst du The Drink Factory in der Londoner Cocktail-Szene? Wir nehmen schon eine Ausnahmestellung ein. Gleichzeitig gefällt mir auch das übliche rege Treiben einer Cocktail-Bar. Im 69 Colebrooke Row geht es am Ende auch nur um Drinks, und das wird sich auch nicht ändern. Ob du also bei einem unserer Cocktails mit „Wow, voll lecker" oder mit „Ich will mehr über seine Zutaten wissen und wie sie zusammenspielen" auf uns zukommst, ist mir eigentlich herzlich egal. Unsere Gäste sollen zufrieden sein. Wenn sie einfach nur einen Drink nehmen wollen, super. Wenn sie mit uns darüber fachsimpeln wollen, umso besser.

Gibt es einen Drink, auf den du ganz besonders stolz bist? Der „Soy Cubano" hat echt Spaß gemacht. Wir haben probiert, die Romantik der Stadt Havanna—ein Ort, den ich verehre—mit dem Film Soy Cuba zu verbinden. Die Idee war, Soy, das auf Spanisch „ich bin" bedeutet, mit seiner englischen False-Friend-Entsprechung, also Soja, zu interpretieren. Gleichzeitig wollten wir in dem Drink berücksichtigen, dass Kuba für uns einen vollen und runden Geschmack hat und dich auf verschiedenen Ebenen in seinen Bann zieht. Aber das Ganze wurde dann sehr schnell sehr komplex. Kuba steht eben auch für knackige Hintern. Und Rum mit dem Aroma von Zuckerrohr. Und heiße, stickige Luft. Außerdem sollte der Drink mit einem Hauch von Tabak ausgestattet sein.

Anzeige
Photo courtesy of 69 Colebrooke Row

Am Ende haben wir beschlossen, dass wir auf unsere Grundidee zurückgreifen, nämlich die, Sojasauce Teil des Cocktails werden zu lassen. Wir haben hunderte verschiedene Varianten ausprobiert, bis wir auf weiße Sojasauce gestoßen sind. Und die war perfekt. Und plötzlich stand unser Drink.

Hier geht's zum Rezept von Tonys „Soy Cubano"

An welchen Projekten arbeitet ihr aktuell? Wir sind grad an einer Getränkeliste für das neue Zetter Townhouse dran. Wir wollen hier natürlich auch auf unsere Erfahrungswerte zurückgreifen, andererseits versuchen wir, eine ganz neue Form der Präsentation zu wählen. So hat man unsere Drinks noch nie gesehen. Ich hoffe, ich konnte damit dein Interesse wecken.

Absolut. Danke für das Gespräch, Tony.