Ich habe allein gegessen, um meine Einsamkeit in den Griff zu kriegen
Fotos: Ruby Lott-Lavigna

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Restaurants

Ich habe allein gegessen, um meine Einsamkeit in den Griff zu kriegen

Es ist eigentlich mein Albtraum, allein in einem Restaurant zu sitzen. Aber irgendwann müssen wir uns ja unseren Ängsten stellen.

Als Kind habe ich immer meine Eltern oder Geschwister angefleht, mit am Tisch zu bleiben, bis ich meine Fischstäbchen aufgegessen hatte. Vielleicht hatte ich damals andere Beweggründe als heute, aber als Erwachsene hasse ich es noch immer, solo zu essen. Ich fühle mich einsam, will mit meinen Gedanken nicht allein sein.

Ironischerweise bin ich damit nicht allein. Junge Menschen sind Studien zufolge am stärksten von Einsamkeit betroffen, in einer Umfrage sagten 17 Prozent der Deutschen von 18 bis 29 Jahren, sie fühlten sich ständig oder häufig einsam. Zum Vergleich: Bei den 60- bis 70-Jährigen fühlten sich nur vier Prozent so stark von Einsamkeit betroffen.

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Dass eine Mahlzeit Einsamkeit intensivieren kann, ergibt Sinn, immerhin werden wir dazu erzogen, das Essen als sozialen Anlass zu sehen. Ob Weihnachten, Geburtstagsdinner oder Lunch mit Freunden, an einem Tisch zusammensitzen hat etwas Festliches und Festigendes. Allein essen assoziieren wir dagegen mit Verzweiflung und Loser-Dasein – man denke nur an Bridget Jones, die sich frustriert ein Fertiggericht reinzieht, oder Bill Murrays Figur in Lost in Translation, die in einem japanischen Lokal ihre Midlife-Crisis erlebt.

Die Autorin beim Solo-Essen | Alle Fotos von Ruby Lott-Lavigna

Wenn ich beim Essen allein bin, habe ich viel Zeit für meine Sorgen und Unsicherheiten. Irgendwie schaffe ich es, mich gleichzeitig zu langweilen und unheimlich gestresst zu fühlen. Aber das ist kein haltbarer Zustand. Also habe ich mich zu einem Selbstversuch entschieden: Ich werde allein essen gehen und so hoffentlich mit mir selbst ins Reine kommen. Andere schaffen es schließlich auch irgendwie, ohne die Krise zu kriegen.

Bevor ich zu meinem ersten Essen for One aufbreche, mache ich mir viele Gedanken: Wie soll ich es schaffen, nicht in Sorgen zu versinken? Wie kriege ich die viel zu große Vorspeise runter, ohne mir den Appetit für das Hauptgericht zu verderben? Wie soll ich mein Buch balancieren, während ich mit Messer und Gabel hantiere? Ich tröste mich damit, dass diese Erfahrung eines Tages sehr praktisch sein könnte. Wenn ich mal in eine neue Stadt ziehen sollte, bin ich sicher dankbar dafür, dass ich auch alleine klarkomme.

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Den Tipp, ein Buch ins Restaurant mitzunehmen, teilt auch die Food-Autorin Rida Bilgrami. Sie selbst gehe gern aus ganz pragmatischen Gründen allein essen: "Ich habe einen experimentelleren Geschmack als die meisten in meinem Freundeskreis, außerdem lenkt mich zu viel Konversation vom Genießen ab", erklärt sie. Außer Lesestoff empfiehlt sie, sich nicht verunsichern zu lassen und in Lokale zu gehen, wo es eine Theke oder Gemeinschaftstische gibt.

Eine Bloody Mary – beim Allein-Essen gibt es keine Regeln

Mein erstes Ziel heißt Fayre Share. Das Restaurant im Osten Londons ist darauf ausgelegt, dass man dort mit Freundinnen und Freunden isst. Laut der Website ist es "ein dermaßen wichtiger Teil des Lebens", mit anderen zu speisen. Vielleicht habe ich mir damit ein besonders deprimierendes Lokal ausgesucht, aber so kann ich mich auch besser meiner Angst stellen. Es ist Mittwoch zur Mittagszeit, meine Mit-Gäste gehören zu den Bevölkerungsgruppen, die man zu dieser Stunde erwartet: eine frischgebackene Mutter (samt Baby) mit einer Freundin, und ein Paar in seinen 60ern. Diese Menschen werden mich heute auf meiner Reise begleiten.

Ich nehme mir vor, die gesamte Mahlzeit über nicht aufs Handy zu schauen. Und breche die Regel nach etwa acht Minuten. Die Brunch-Karte verwirrt mich und ich bestelle eine Bloody Mary, eine Vorspeise und einen Avocado-Toast. Hey, es ist vielleicht erst Mittag, aber ich bin allein, also gibt es auch keine Regeln.

Knuspriger Tintenfisch und als Beilage ein wenig Lesestoff

Ich langweile mich ziemlich, aber mein Tisch ist draußen und ich genieße die Frischluft. Irgendwann kämpfe ich etwa vier Minuten am Stück mit einer Wespe. "Ich kämpfe hier nur gerade mit einer Wespe", lache ich der Frau im Rentnerinnenalter zu. Ich bin jetzt schon verzweifelt auf der Suche nach zwischenmenschlichem Kontakt. Ich höre zu, wie die Mutter über die Gewichtsentwicklung bei Babys spricht, dann hole ich eine Zeitschrift über Frauen und Marihuana heraus, die ich schon seit Ewigkeiten lesen will.

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Meinen Avocado-Toast habe ich schnell vernichtet, sofort danach mache ich mich auf zurück ins Büro. Diesmal war es gar nicht so schlimm: Ich hatte etwas zu tun, ich hatte eine Uhrzeit, zu der ich wieder weg musste, also habe ich die Mahlzeit einfach hinter mich gebracht und mich weiter um meinen Kram gekümmert. Also ist es wohl an der Zeit, meinen Kampf gegen die Einsamkeit aufs nächste Level zu heben.

Es ist Zeit, ein Dinner allein durchzustehen. Dafür suche ich mir ein geschäftiges Lokal mitten in London aus: das Pastaio in der Carnaby Street. Das Restaurant ist cool, ohne ein abgefahrenes Konzept zu haben – frische, hausgemachte Pasta reicht als Prämisse völlig. Als ich um 19:15 Uhr eintreffe, ist es gerammelt voll. Überall sitzen Frauen, die genauso aussehen wie ich, mit ihren Freundinnen, die auch genauso aussehen wie ich, und plaudern bei einem Teller Oliven. Normalerweise wäre das ein guter Ort für ein Solo-Dinner, aber mein Tisch ist am Fenster, das komplett offen steht, und ich sitze mit dem Rücken zum Restaurant. So komme ich mir vor wie ein Zootier, das auf eine wuselnde Londoner Straße schauen muss.

Diesmal schaue ich kein einziges Mal auf mein Handy. Stattdessen hole ich das Magazin heraus und lese fast alle Artikel. Dabei verputze ich eine Portion Burrata, die definitiv eher für zwei Personen geeignet wäre, und Sauerteigbrot. "Stopf dir nicht zu viel Brot rein", denke ich, aber dann merke ich: Niemand kann mich davon abhalten. Ich muss mit niemandem teilen. Also esse ich das ganze Brot auf. Ich würde gern einer Freundin etwas über das Magazin schreiben, aber halte mich zurück.

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Als meine "Cacio e Pepe"-Pasta eintrifft, habe ich das Magazin schon durch. An meinem einsamen Platz kann ich kaum Gespräche mithören, aber eine Frau mit einer schneidenden Stimme dringt bis zu mir vor. Sie ist gestresst vom Hauskauf. Zu einem Zeitpunkt sagt sie: "Er hatte die besten Zähne, die ich je gesehen habe." Eine Frau, die draußen mit einem Mann sitzt und Rotwein trinkt, steht auf und geht telefonieren. Das Gespräch ist tränenreich, ich sehe ihr zu. Dabei mache ich mir immer wieder Gedanken, was ich alles packen soll, wenn ich in den kommenden Tagen zu einem Festival aufbreche. Die Frau hört auf zu weinen und setzt sich wieder zu ihrem ziemlich ungerührt wirkenden Gefährten.

Burrata im Londoner Restaurant Pastaio

Eine Portion Cacio e Pepe

Gefühlt vergehen Stunden, aber eigentlich bin ich erst seit etwa einer Stunde hier. Ich bin gierig und bestelle mir auch noch ein Dessert. Ich schaffe es tatsächlich, mir zweimal ein Stück Zitronentarte in den Schoß zu katapultieren, aber ich habe niemanden, mit dem ich darüber lachen könnte. Bevor ich gehe, kommt der Geschäftsführer an meinen Tisch. Ich stürze mich geradezu in die Unterhaltung und erzähle ihm alles, was mir beim einsamen Essen durch den Kopf gegangen ist.

Der Geschäftsführer sagt, er esse unheimlich gern allein und gehe auch allein auf Reisen. "Was ist die längste Zeit, die Sie ohne ein Gespräch verbracht haben?", frage ich ihn. Ich rechne mit einer Zeitspanne von vielleicht einer Woche. Er sagt, er habe mal einen Monat in Indien verbracht, ohne mit einer einzigen Person zu reden, die Englisch konnte. Das klingt wie mein persönlicher Albtraum.

Auf die Frage, wie er das schaffe, schaut er verwirrt. "Ich schätze, man muss einfach nur tagträumen."

Während ich mit meinem Rad nach Hause fahre, gehen mir neidische Gedanken durch den Kopf. Ich wäre auch gern so, dass mir meine eigene Gesellschaft völlig ausreicht. Ich habe festgestellt, dass das Alleinsein für mich ein wenig wie Joggen ist: Anfangs ist es ziemlich furchtbar, dann komme ich über den ersten Hügel und es geht einigermaßen, hinterher fühle ich mich manchmal sogar großartig. Oder eben scheiße. Ich weiß nicht, ob ich meine Einsamkeit in den Griff kriege, indem ich bei einem Teller Zitronentarte gedankenverloren auf Londoner Straßen starre. Aber vielleicht handelt es sich hier um ein Problem, mit dem ich umgehen lernen muss, statt es komplett aus der Welt zu schaffen.

Eine Version dieses Artikels erschien ursprünglich bei MUNCHIES UK.

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