Wie ich nach einem sexuellen Übergriff meine Liebe zum Wein rettete
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Wie ich nach einem sexuellen Übergriff meine Liebe zum Wein rettete

Nach der Tat gab ich mir selbst die Schuld – wie so viele Opfer sexualisierter Gewalt. Auch dem Wein gab ich Schuld.

Vor dem sexuellen Übergriff liebte ich Wein. Vielleicht war ich sogar besessen davon. Bevor ich Autorin wurde, arbeitete ich als Barkeeperin in einem teuren Hotel. Dort lernte ich nicht nur Wein lieben, sondern auch die gesamte Kultur, die ihn umgibt. Ich genoss es, neue Rebsorten und weniger bekannte Jahrgänge zu suchen und die Weine mit Gerichten zu kombinieren. Ich ging so oft wie möglich zu Weinproben, wo ich lernte, das Glas zu schwenken, um die Textur und das Bouquet zu beurteilen. Ich meldete mich sogar für einen dieser exklusiven Weinclubs an. Dank meiner Arbeit in der Hotelbranche hatte ich oft Gelegenheit zu reisen, und ich wählte meine Zielorte sogar nach den Weinen der Region aus. Meine erste Reise ins Ausland – ich lebe in New York – ging nach Italien, hauptsächlich weil ich die Weingüter der Toskana sehen wollte.

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"Weinkultur" definieren viele Menschen unterschiedlich, aber das, was mich am meisten reizte, waren die unendlich vielen Optionen – rot oder weiß? Perlend oder still? Je nach Laune wählte ich trockene oder liebliche Weine, amerikanische oder europäische, Tetrapak oder Luxustropfen. Mein wachsendes Wissen über die Branche und meine Fähigkeit, immer den richtigen Wein zu finden, gab mir ein Gefühl der Stärke.

Dann kam die Nacht, die alles veränderte. Eines Abends vor einigen Jahren ging ich mit Freunden essen und Cocktails trinken. Nach dem Restaurant gingen wir noch auf ein Glas Wein in eine Bar. Aus einem Glas wurden vier. Schließlich landete ich im Auto eines Typen, der anbot, mich nach Hause zu fahren. Stattdessen hielt er auf halbem Weg an, zerrte mich in einer abgelegenen Seitenstraße aus dem Auto und in ein Gebüsch, und missbrauchte mich sexuell. Er nahm mir in dieser Nacht meine Selbstbestimmung, und damit auch meine Liebe zum Wein.

Der Kampf mit den Selbstvorwürfen – und den Vergewaltigungsmythen

Nach dem Übergriff lief ein steter Strom aus Fragen durch meinen Kopf. Wie so viele Frauen ging ich davon aus, dass ich Schuld hatte, weil ich betrunken gewesen war. Außerdem machte ich mich selbst verantwortlich, weil ich freiwillig in sein Auto gestiegen war. "Vielleicht hätte ich weniger Wein trinken sollen? Vielleicht habe ich ihm irgendwie Hoffnungen gemacht?" Ich dachte über alles nach, was ich anders hätte machen können. Ich gab mir die Schuld, ich gab meinen Freunden die Schuld, weil sie mich mit ihm allein gelassen hatten, und natürlich gab ich dem Wein die Schuld.

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Ich erzählte einem Freund davon. Seine erste Frage: Wie viel hätte ich denn in jener Nacht getrunken? Ich teilte meine Geschichte mit mehr Menschen, denen ich vertraute, immer und immer wieder mit demselben Ergebnis: Sie fragten alle, wie viel Alkohol ich konsumiert hätte. Intellektuell wusste ich, dass ich diese Gewalttat nicht verdient hatte. Aber ich konnte das Ganze nicht in die richtige Perspektive rücken.

Schätzungen zufolge wird mindestens jede dritte Frau in ihrem Leben zum Opfer sexualisierter Gewalt, meist durch einen Partner oder Angehörigen. In einigen Ländern ergeben Studien sogar Raten von 70 Prozent und mehr. Die Forschung zeigt auch, dass bei einem großen Anteil dieser Verbrechen Alkohol im Spiel ist. Das heißt aber nicht, dass Alkohol die Ursache dieser sexualisierten Gewalt ist. Eine Studie zu sexualisierten Übergriffen unter Alkoholeinfluss an Universitäten ergab, dass Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, ihre Taten mit Alkohol rechtfertigen. Die Opfer hingegen fanden im Alkohol keinen Weg, ihr Gesicht zu wahren, sondern nur mehr Scham und Schuldgefühle.

Victimblaming bringt Opfer zum Schweigen

Das Abwälzen der Schuld auf das Opfer, Victimblaming genannt, ist bei sexualisierter Gewalt so verbreitet, dass wir es nicht immer bemerken. Allein die Frage, wie viel eine Frau getrunken hatte, bevor ein Mann ein Verbrechen gegen sie verübte, stützt die Ansicht, dass es an Frauen sei, Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Oder dass eine Vergewaltigung irgendwie weniger schlimm wäre, wenn die Beteiligten nicht nüchtern waren. Diese Fragen und das Stigma, das ihnen anhaftet, tragen dazu bei, dass Frauen sich selbst die Schuld geben, sich vor weiteren Erniedrigungen fürchten und ihre Übergriffe nicht anzeigen. Laut einer EU-Studie von 2014 zeigen nur 16 Prozent aller Opfer sexualisierte Gewalt an, eine Studie aus Niedersachsen ergab im selben Jahr eine Anzeigerate von nur 7 Prozent – während zum Beispiel 94 Prozent aller Autodiebstähle zur Anzeige gebracht wurden.

Nach dem Übergriff hatte ich monatelang Schlafprobleme. Ungefähr ein Jahr lang trank ich keinen Tropfen Wein und auch sonst keinen Alkohol. Das hätte nur meine Angst, meine Scham und meine Schuldgefühle wieder hochkochen lassen – und vor allem die Erinnerung an diesen völligen Mangel an Selbstbestimmung.

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Als ich wieder in die Arbeit ging, musste ich den Hotelgästen weiterhin Weine beschreiben und verkaufen. Jeder Wein hat sein eigenes Aroma, und jeder Geruch kann eine Fülle an Erinnerungen und Gefühlen wachrufen. Anfangs war es für mich schon ein Trigger, Gästen bei der Weinauswahl zum Dinner zu helfen. Doch nach und nach erinnerte mich die Arbeit daran, warum ich Wein so sehr liebe. Es dauerte viele Monate, aber irgendwann war ich fest entschlossen: Ich würde nicht zulassen, dass mein Angreifer mir etwas ruinierte, das mir so viel Freude machte.


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Ich habe meine Leidenschaft für Wein zwar retten können, aber es ist nicht mehr ganz dasselbe wie früher. Ich habe Jahre der Therapie gebraucht, um zu verinnerlichen: Die einzige Person, die etwas für sexualisierte Gewalt kann, ist der Täter.

Natürlich ist es vernünftig, wenn man mit Bedacht trinkt – für die Gesundheit, für die Etikette, für die eigene Sicherheit und die anderer. Aber eine Diskussion darüber, wie viel ein Vergewaltigungsopfer getrunken hatte, kann nur zu mehr Scham und Schuldgefühlen führen, wo keine sein sollten.

Jeder Wein erzählt die Geschichte seines Terroir, der Umgebung, in der er gewachsen ist. Und Wein erzählt auch meine Geschichte. Ich habe entschieden, dass sie von innerer Stärke handelt.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf MUNCHIES US.

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