Ein syrischer Geflüchteter machte die besten Falafel von Idomeni

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Flüchtlingskrise

Ein syrischer Geflüchteter machte die besten Falafel von Idomeni

„Ich bin Koch und ich will mit meiner Arbeit eine Botschaft an die Europäische Union aussenden: Wir Syrer sind engagiert. Wir sind keine Terroristen, wir sind nicht gekommen, um ein Land zu überfallen. Wir wollen ein Leben—nicht ein gutes Leben...

Tamer al-Abdullah kümmert sich liebevoll um seine zwei Monate alte Tochter und ist gleichzeitig stolzer Besitzer eines zwei Wochen alten Restaurants. Er ist Vater und Geschäftsmann zugleich und das fordert ihm—gelinde ausgedrückt—ganz schön viel ab. Der 42-Jährige ist einer der 10.000 Flüchtlinge, die in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze in einer Zeltstadt lebten. Sie wollten auf der Balkanroute weiter nach Europa, steckten aber seit den Grenzschließungen im März auf fest. Das Flüchtlingslager wurde schon mit einem Konzentrationslager verglichen: Die Lebensbedingungen sind unwürdig, das Risiko für Ausbeutung hoch. Weil es so riesig und wenig reguliert war, konnten Flüchtlinge hier ihre eigenen Geschäfte aufbauen. In den letzten Wochen sind kleine Imbissstände im Camp aus dem Boden geschossen. Tamers Stand ist etwas Besonderes unter den ganzen normalen Falafelbuden. „In Syrien hatte ich zwei Restaurants!", meint er und windet sich ein Lächeln ab. Sein Blick schweift über seinen bunten Stand: „Hier habe ich diese Tische."

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(19) The master at work

Im syrischen Deir ez-Zor hatte Tamer, links, zwei Restaurants. Alle Fotos von der Autorin

So bescheiden wie alles auch aussieht, Tamer nimmt seine Arbeit sehr ernst. Er trägt einen schwarzen Trainingsanzug, eine Bauchtasche und hat seine grauen Locken nach hinten gekämmt, deutlich sieht man seine Geheimratsecken. Es wäre vermessen, seinen Stand als ein „Top-Restaurant" zu bezeichnen, er steht schließlich in einer Zeltstadt und ist, wie viele Dinge in Idomeni, aus einer Notwendigkeit und nicht aus einem Wunsch heraus entstanden. Er befindet sich ganz in der Nähe eines Großraumzeltes, wo Tamer und seine Familie schlafen. Gleichzeitig beweist sein Imbiss aber auch, dass man für gutes Essen keine Top-Location braucht. Zuerst geht es vorbei an den Zigarettenhändlern und den Kamerateams auf der Zufahrtsstraße, dann vor dem Bahnübergang leicht nach rechts einbiegen, vorbei an einer Reihe übelriechender Dixi-Klos. Wenn keine Klos mehr in Riech- oder Reichweite sind, ist Tamer nicht mehr weit. Hier brät er Hühnchen, macht Joghurt-Tahini-Sauce und ruft seinen eifrigen Köchen die Bestellungen durch. „Vorher hatten sie nicht genug Geld, um sich Zigaretten zu kaufen", meint Tamer liebevoll. „Jetzt arbeiten sie bei mir."

(4) The view from the deep-fryer

Das Flüchtlingslager von der Fritteuse aus gesehen

Kochen ist für Tamer etwas ganz Natürliches. Geboren wurde er als eines von sieben Geschwistern in Deir ez-Zor, einer Stadt am Euphrat. Hier hatte sein Vater ein Restaurant und Tamer ist quasi in der Küche aufgewachsen. Als sein Vater starb, haben er und seine Brüder das Restaurant verkauft und den Erlös unter sich aufgeteilt. Abdullah, Ahmed und Hossein haben mir ihrem Anteil ein Restaurant in Ägypten eröffnet. Zwei Brüder haben ein Lokal in Saudi Arabien eröffnet. Tamer aber blieb und eröffnete mit seinem Erbteil zwei Restaurants in Deir ez-Zor, eines mit syrischer Küche, ein anderes mit eher westlichem Fast Food. „Ich war glücklich", erinnert er sich—zwei Unternehmen, zwei Autos und ein Haus. „Da kann man nicht meckern, das war ein gutes Leben."

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(18) The fried delights of Tamer's stall, including eggplant, potato, ejjeh, felafel

Frittierte Leckereien an Tamers Stand: Auberginen, Kartoffeln, ejjeh und Falafel

Aber als die Proteste 2011 in einen Bürgerkrieg umschlugen, wurde die Stadt besetzt. Tamer ist mit seiner Familie—seiner schwangeren Frau Nedda, drei Töchtern und einem Sohn—nach Azaz geflohen, einer Stadt in der Nähe von Aleppo, und hat dort in der Hoffnung auf Besserung ein Restaurant eröffnet. Azaz, wie sich auch Anfang diesen Jahres gezeigt hat, ist heftig umkämpft. Als die Stadt im Februar von Russland bombardiert wurde, musste Tamer mit seiner Familie erneut fliehen, dieses Mal nach Meidan Ekbis, einer Wüstenstadt an der Grenze zur Türkei.

(6) Felafel is the staple of Idomeni small business

Falafel werden in den kleinen Geschäften in Idomeni am meisten verkauft

Auf der weiteren Reise hatten sie viel Pech. Nachdem sie einem Schleuser 100.000 Syrische Lira [umgerechnet circa 400 Euro] bezahlt hatten, mussten sie erst tagelang warten. Als sie dann versuchten, über die Grenze zu kommen, wurden sie dreimal von türkischen Grenzschützern geschnappt und zurückgeschickt. Tamer hat dann noch weitere 200 Euro gezahlt, teilweise um die Grenzbeamten zu bestechen. „Wir sind direkt am Grenzübergang rüber", erinnert sich Tamer. „Sie haben uns gesehen." Sie blieben dann nur zwei Wochen in der Türkei, Tamers älteste Tochter hat hier ihren Verlobten geheiratet und ist dann nach Syrien zurückgekehrt. Die Überfahrt nach Griechenland wurde zwei Mal abgebrochen, noch bevor sie in See gestochen waren. Beim dritten Versuch ging es dann nachts in einem überfüllten Schlauchboot los, aber das füllte sich schnell mit Wasser. Spanische Freiwillige und die griechische Küstenwache kamen ihnen zu Hilfe und so erreichten sie am 28. Februar Lesbos. Nedda war da im neunten Monat schwanger, die Wehen setzten ein und ihre Tochter kam gesund zur Welt.

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(7) A classic felafel wrap, with most of the trimmings

Ein klassischer Falafel-Wrap

Nur ein paar Tage nach der Geburt machte sich die Familie mit der Fähre und mit dem Zug auf den Weg nach Norden nach Idomeni. Als sie ankamen, hatte Mazedonien Tagesobergrenzen für Flüchtlinge eingeführt undkurz danach die Grenze komplett geschlossen. Die neugeborene Sara hat ihr erstes Bad in der Nähe von Thessaloniki bekommen und die Familie hat sich darauf eingestellt, zu warten. „Vorher war alles einfach", meint Tamer und wirft einen Blick auf die kümmerlichenBehelfszelte. „Wir sind nicht aus unserem Land geflohen, um hier zu leben. Das ist schlimmer als ein schlechtes Leben, es ist demütigend und entwürdigend."

(9) Customer paying for his meal

Tamers Kreationen schmecken seinen Kunden

Aber Tamerschlägt sich durch. Vor 15 Tagen haben Freiwillige Falafelportionierer verteilt, die Gelegenheit hat er ergriffen. Ein Freiwilliger aus Australien hat ihm einen Tisch gegeben und ihm geholfen, einen zweiten zu bauen. Tamer hat klein angefangen, mit 50 Sandwiches pro Tag. Jetzt macht er 300 und verkauft sie für einen Euro das Stück. Außerdem hat er sein Angebot erweitert: Neben der Fritteuse steht frisch geschnittenes Gemüse, es gibt knusprige Auberginen, Pommes, ejjeh (eine Art Gemüsepuffer) und die nach Tamer besten Falafel im Flüchtlingslager. „So nennen sie andere Leute", wirft er ein. Eine Bäckerei am anderen Ende des Zeltlagers liefert ihm den ganzen Tag frisches Fladenbrot.

(10) Chopped and cooked chicken livers ready for Mexification

Gekochte und gehackte Hühnerleber für Wraps mexikanischer Art

Regelmäßig fährt er nach Poliskastro oder sogar für 180 Euro zusammen mit zwei anderen mit dem Taxi nach Thessaloniki. So kommt er an günstige Zutaten. Preis und Verfügbarkeit schränken ihn ein, er erwähnt die Kebabs aus syrischem Hammelfleisch, aber er versucht, Neues aus dem zu kreieren, das er bekommen kann. Hühnchen liefert tierisches Eiweiß, daraus kann Tamer, wie er stolz erzählt, eine Reihe von Köstlichkeiten zaubern: entweder knusprig gebraten, überbacken oder Fajitas. Einmal beobachte ich ihn dabei, wie er Gewürze für eine aromatische Tomaten-Paprika-Sauce nach mexikanischer Art zusammenstellt—Kreuzkümmel, Koriander, Lorbeerblätter. Da kommen dann kleingehackte, gebratene Hühnerherzen und -lebern rein. Als Gemüseeinlage gibt es Pilze und Mais und wenn der Kunde möchte, wird das geschmorte Hühnchen dann in einen Wrap eingewickelt und mit Pommes und Krautsalat serviert.

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(13) Chicken livers and hearts, ready for wrapping

Die Hühnerlebern und -herzen werden später in Wraps gewickelt

Ab elf Uhr morgens bis spät abends kommen regelmäßig Kunden, die meisten Bewohner des Flüchtlingscamps—Syrer, Irakis oder Kurden—, weniger sind es „Außenstehende"—Freiwillige oder NGO-Mitarbeiter. Um die neue Konkurrenz macht sich Tamer wenig Sorgen. „Bei jedem Unternehmen ist es so, dass nur diejenigen, die einen langen Atem und Erfahrung haben, erfolgreich sein können", meint er. Während der Besitzer eines anderen Falafelstandes mühsam mit einer Schaufel Holz hacken muss, damit er den ganzen Tag den Ofen anheizen kann, hat Tamer Gaskocher. Abends hat er Strom dank der Hilfe von Ärzte ohne Grenzen. „Wir haben das alles Schritt für Schritt selbst aufgebaut", sagt Tamer. „Wir tun das, was möglich ist. Wenn wir in Griechenland Asyl bekommen würden, könnten wir viel besser arbeiten, tausendmal besser."

(15) A chicken liver wrap, and Idomeni's train tracks

Ein Wrap mit Hühnerleber. Und die Bahngleise am Grenzübergang in Idomeni

Für Tamer wie auch alle anderen werden die Zustände im Lager immer unerträglicher. Er berichtet von der dürftigen Ausstattung („Auf diese Toiletten würde man nicht mal seinen Hund schicken.") und der schlechten Informationspolitik. Seinen anderen Kindern—ein Junge, Mosleh, 12 Jahre alt, und zwei Töchter, Hala, 17, und Nawal, 14—entgeht ein wichtiger Teil ihrer Schulbildung. Nedda passt auf die kleine Sara auf und versucht die Kleidung der Familie sauber zu bekommen. Sie ist körperlich und mental am Ende. Ihre älteste Tochter in Syrien erwartet ein Kind. Dass sie ihr nicht helfen kann, schmerzt Nedda sehr. Als sie mir Fotos ihrer schwangeren Tochter zeigt, schluchzt sie.

(17) Felafel comes out, chicken goes in

Wenn die Falafel fertig sind, geht es mit Hühnchen weiter

Tamer hat mehrfach versucht, in Griechenland Asyl zu bekommen. Jedes Mal, wenn er es, wie verlangt, über Skype versucht, geht keiner am anderen Ende ran. Er will nicht in eines der Militärlager, wie die griechische Regierung es empfohlen hatte. Schon vorher hatten sie Pläne verkündet, Idomeni zeitweise zu räumen, jetzt haben sie mit der Räumung des Flüchtlingslagers begonnen. „Wir wollen endlich vorankommen", meint Tamer entschlossen. „Ein Zurück gibt es für uns nicht." Aber diese Entscheidung liegt nicht länger bei ihm. Es wäre zu teuer, einen Schleuser für den Weg über die Grenze zu bezahlen—8.000 Euro für die ganze Familie. Eine Umsiedlung in ein anderes Camp, weiter weg von der Grenze, scheint unausweichlich. Seine Heimatstadt Deir ez-Zor wurde über ein Jahr lang vom IS belagert, seine Restaurants liegen mittlerweile in Trümmern. „Wir sind vor dem sicheren Tod in der Hoffnung auf ein besseres Leben geflohen", meint er. „Wir hätten auch dort sterben können, lieber als hier."

(2) Tamer, 42, owned two restaurants in Deir Ezzor, Syria

„Wir wollen ein Leben—nicht ein gutes Leben, einfach nur ein Leben."

Aber er hat noch nicht alle Hoffnung verloren. Mit Leidenschaft erzählt er, warum er sich entschieden hat, hier ein Restaurant zu eröffnen, und warum er trotz der widrigen Umstände weiter Essen verkauft. „Ich bin Koch", sagt er, „und ich will mit meiner Arbeit eine Botschaft an die Europäische Union aussenden: Wir Syrer sind engagiert. Wir sind keine Terroristen, wir sind nicht gekommen, um ein Land zu überfallen. Wir wollen ein Leben—nicht ein gutes Leben, einfach nur ein Leben."