Ein Trip durch Berlins Absinthbars
Eine Geisterhand im Zyankali. Fotos von Dominic Blewett

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Absinth

Ein Trip durch Berlins Absinthbars

In Berlin gibt es vier Absinthbars. Das sind meiner Meinung nach nicht annähernd genug für die 3,5 Millionen Einwohner. Ich besuchte sie alle an einem Abend.

Das erste Mal probierte ich Absinth in den späten 90ern. Es gingen Gerüchte um, dass eine Bar in meinem walisischen Heimatort eine Kiste mit dem Zeug von irgendwo importiert haben soll—aus Tschechien oder Ungarn oder so. Keiner wusste das so genau, nur, dass es ein Ort war, der nach Wäldern und Kelchen tönte. Wir tranken es am Nachmittag an den Tischen beim Fenster. Draußen peitschte die Meeresbrandung gegen den Kieselstrand. Drinnen peitschten grüne Wellen gegen unsere Gehirne. Wir hatten keine Ahnung, mit was wir es zu tun hatten und die Bar genauso wenig. Die Bartender servierten ihn uns unverdünnt, ohne Löffel und wir warfen die Zuckerwürfel direkt in die Spirituose. Wir tauchten unsere Daumen ins Glas und zündeten die Spitze an. Betrunkener denn je stolperten wir herum ohne eine Ahnung zu haben, was wir uns gerade in den Rachen gekippt hatten. Nicht einmal den Namen des Absinths kannten wir. Vielleicht war es ‚Hill's Absinthe', eine der ersten Versionen die nach Großbritannien importiert wurden, nachdem das ursprüngliche Verbot aufgehoben worden war. Heute weiß ich, dass der unter Absinthkennern als nicht mehr als ein leuchtend grüner, 70-prozentiger Billigwodka angesehen wird. Wir waren kleine Jungs, die sich für Männer hielten.

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Hoffentlich verkauft diese Bar mittlerweile anständigen Absinth und serviert ihn richtig. Ich werfe ihnen nichts vor. „Die grüne Fee" war den Großteil des Jahrhunderts verboten. Sie fiel den paranoiden Behörden, die Angst vor der Wirkung dieses ‚Gifts'—Depressionen, Halluzinationen, Gewalt, Wahn—hatte, zum Opfer. Bis heute ist es Absinth nicht gelungen, sein negatives Image vollständig abzulegen. Wenn man den durchschnittlichen Menschen nach seinen Erfahrungen mit Absinth fragt, lautet die Antwort wahrscheinlich, dass er das Getränk unglaublich gerne probieren würde, aber er wird wahrscheinlich noch hinzufügen, dass er ein bisschen Angst davor hat, durchzudrehen und sein eigenes Ohr abzusägen.

Das wird nicht passieren. Thujon, ein Bestandteil von Wermut und die aktive Zutat im Absinth, wirkt auf den Körper sehr ähnlich wie Koffein. Wenn du beim Absinth trinken Halluzinationen bekommst, dann liegt das daran, dass du so billiges Zeug trinkst, dass es schon fast giftig ist, oder daran, dass du ein Alkoholiker im fortgeschrittenen Stadium bist. Eigentlich solltest du mentale Klarheit erleben, nicht den üblichen Alkoholrausch, der die Sinne trübt, sondern einen Rausch, der die Sinne schärft.

Früher war Absinth ein Phänomen. 1792 wurde die Spirituose in der Schweiz erfunden und gelangte schnell quer durch Europa und in die USA. 1910, kurz bevor Absinth verboten wurde, konsumierten die Franzosen jedes Jahr 36 Millionen Liter. Der Großteil davon wurde während ‚L'Heure Verte' (der grünen Stunde) getrunken, die jeden Tag um 17:00 Uhr begann, als sich die Absinthtrinker in Cafés versammelten, um ihre Sinne zu erweitern. Van Gogh, Rimbaud, Picasso und Verlaine waren große Fans. Ernest Hemingway, der ihn als „Gehirn erwärmende, Ideen verändernde Alchemie" bezeichnete, ebenfalls. Der oft anislastige Geschmack kann manche reizen, aber die Wirkung? Nein.

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Die Absinthauswahl im Druide.

Als ich aufs europäische Festland zog, hoffte ich, mich erneut mit dem Getränk bekannt zu machen—dieses Mal so richtig. Das konnte doch nicht so schwer sein, immerhin war es schon seit mehr als 15 Jahren legal.

Um die Geschichte von Absinth in Deutschland gibt es viele ungeklärte Fragen. Michael Schöll vom Berliner Absinth Depot erzählte mir, dass der Besitzer des Ladens eine „Sammlung pornographischer Karikaturen aus dem Jahr 1912, die mit Absinth in Verbindung standen" fand, die—so weit er weiß—„mehr oder weniger der einzige Beweis für den Konsum von Absinth in Deutschland [zu dieser Zeit]" sind und „deshalb glauben wir, dass Absinth für die Leute verfügbar war, die ihn wirklich in die Hände bekommen wollten". Aber durch den starken Zusammenhang der Karikaturen zwischen Absinth, Prostitution und dem Sittenverfall ist es sehr wahrscheinlich, dass die Spirituose nur in den düstereren und gefährlicheren Ecken Berlins (und möglicherweise anderen größeren Städten Deutschlands) verfügbar war. Laut dem Besitzer wurde Absinth damals mehr als Droge als als alkoholisches Getränk angesehen.

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Absinth Depot.

Heute gibt es in Berlin vier Absinth-Bars—das heißt, vier Bars, die Absinth gewidmet sind. Und das ist meiner Meinung nach nicht annähernd genug für die 3,5 Millionen Einwohner der Stadt. Ich beschloss, alle an einem Abend zu besuchen. Ich nahm meinen Freund Ernests mit. Ja, schon richtig gelesen, nicht Ernst oder Ernest, sondern Ernests, wie der lettische Tennisspieler. Ernests, der Absinth verabscheut, war meine Begleitung und sollte auf mich aufpassen. Für letzteres erwies er sich als relativ nutzlos. In der ersten Bar trank Ernests einen Absinth und wollte das Glas im Laufe des Abends gar nicht mehr aus der Hand geben.

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Unsere Reise begann in der lehrreichen Umgebung des Absinth Depot im Scheunenviertel, Berlins früherem Rotlichtviertel. Dort stehen mehr als 100 verschiedene Sorten Absinth zur Auswahl. Die Wände sind in einem goldenen Lamémuster tapeziert und neben Absinth werden auch Silberlöffel (um die Zuckerwürfel übers Glas zu halten) und Wasserspender zum Verdünnen des Getränks verkauft.

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Wichtiges Warnschild.

Ich nehme einen klassischen Absinth, einen Lemercier Amer, der seit 1811 von einer Familiendestillerie im Südosten Frankreichs produziert wird. Auf der Flasche steht: Ein leckeres, geschmeidiges, leichtes und erfrischendes Getränk mit vielen typischen Absintharomen: Anissamen, Wermut, Sternanis und Lakritze. Noten von Koriander, Engelwurz, Kardamom und Minze; 72 Prozent Alkohol; 30-35 mg Thujon. Sowohl die Aromen als auch der Alkoholgehalt sagen mir zu und ich trinke fröhlich die trübe Flüssigkeit, während ich spüre, wie mein Gehirn immer wärmer wird und ich den Flying Burrito Brothers aus den Lautsprechern zuhöre. Ernests ist immer noch ziemlich entspannt. Sein Absinth hat ein minzigeres Aroma, weil er Anis nicht mag. Es sieht aus und schmeckt ein bisschen wie Listerine und dementsprechend verzieht es ihm auch das Gesicht. Ich stehe zwischen ihm und der Bar, um sein viel verratendes Gesicht vor Michael, dem Barkeeper, zu verstecken, weil ich ihn nicht verärgern möchte. Schnell lenke ich Ernests Aufmerksamkeit auf einen Mann, der gerade das Lokal betritt und eine Sprache spricht, die keiner zu verstehen scheint. Er zeigt immer wieder auf Dinge, nur um sich dann zu weigern, sie zu kaufen. Wir beobachten ihn, bis er den Laden wieder verlässt und unser Blick auf eine unbewachte Tasche neben der Theke fällt.

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Ernests spekuliert, dass es sich um eine Bombe handeln könnte.

„Keine Sorge", sage ich zu ihm, „Wir sind hier nicht am Flughafen", und als wir das nächste Mal hinschauen, ist die Tasche verschwunden.

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Druide.

Vom Absinth Depot in Mitte nehmen wir die U-Bahn zum Druide im Prenzlauer Berg. Wir fühlen uns blendend. Wir springen förmlich, wenn wir gehen und unsere Unterhaltungen haben etwas Literarisches. Wir betrachten die Welt mit missbilligendem, wissendem Blick und in unseren Gehirnen kichert es vor Weisheit und Mitgefühl für die Menschheit.

Schließlich kommen wir in der Bar an. Es ist furchtbar laut und die Tische sind voller schreiendem Pöbel. Backpacker wahrscheinlich. Vor ein paar Jahren wäre ich vielleicht noch mitten drin gesessen, heute bin ich alt, habe ein Wörterbuch und ein Monokel verschluckt und sie stoßen mich ab.

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So gießt man keinen Absinth ein.

Hier kommen die Leute her, um sich mit Absinth volllaufen zu lassen. Es gibt eine Liste mit den zehn beliebtesten Absinthen, die wie eine beschissene Fußballrangliste aussieht. Mit einem Seufzen bestellen wir beide die Nummer 1, Maldoror, ein französischer Absinth mit 66 Prozent Alkohol und 35 mg Thujon. Schneller als ich ihm eine runterhauen kann, taucht der Barkeeper einen Zuckerwürfel in mein Getränk und zündet ihn an. Ich muss zugeben, die kleine blaue Flamme sieht ja hübsch aus, aber innerlich weine ich. Schnell (so trinkt man Absinth definitiv nicht!) kippen wir unsere Getränke hinunter, während ein Auge schon den Ausgang im Blick hat. Dann flüchten wir vor diesem gottlosen Gesindel.

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Falsch, einfach nur falsch.

Im Lauschangriff, eine Tramfahrt vom Prenzlauer Berg nach Friedrichshain entfernt, sinken wir in die gemütlichen Sessel und bestellen an der Bar einen Absinth, obwohl wir unter den zahlreichen Flaschen auf den Regalen keinen sehen. Der Barkeeper steigt auf eine Leiter und holt eine verstaubte Flasche von der hintersten Ecke des Regals heraus. Er schenkt jedem von uns ein Glas ein. Das wars. Wir fragen nach Wasser und bekommen beide ein Glas voll. Verwirrt kippen wir die Spirituose ins Wasserglas und nippen an dem wolkigen Getränk. Was trinken wir da eigentlich? 77,7 prozentiger Absinth aus Sachsen. Schrecklich. Eigenartige Zeichnungen von Augen und Nasen zieren die blutroten Wände der Bar. Ich frage den Bartender, ob das hier die Absinthbar Lauschangriff sei. „Nein", antwortet er, „das ist dieselbe Adresse, aber nebenan. Die ist aber mittlerweile geschlossen."

Immer wieder halten wir uns Neil Youngs Worte aus ‚Hey Hey, My My' vor Augen: „Once you're gone, you ain't never coming back." Wir haben beide Schwierigkeiten zu sprechen. Es ist nicht so, als gäbe es nichts zu sagen. Ganz im Gegenteil, unsere Gedanken taumeln um unsere Zungen herum, aber bleiben kleben, als würde das Organ plötzlich anschwellen. Wir lispeln.

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Im Absinth Depot.

Einer von uns sagt: „Man könnte Zahnpasta auf den Wespenstich schmieren, um den Schmerz zu lindern."

Natürlich könnte man das. Wir sinken tiefer in unsere Sessel, während Rage Against the Machine aus den Lautsprechern ertönt. Es ist an der Zeit zu gehen. Wir machen uns zur nächsten Bar auf, die an der braunen, stummeligen U5 liegt. Unser Geist ist angeregt, aber wir stehen immer noch fest auf unseren Beinen.

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Im Lauschangriff.

Neben uns steht ein Mädchen. Im einen Moment ist ihr Gesicht ruhig, dann sieht sie aus, als würde sie gleich niesen und plötzlich spritzt wässrige, rote Kotze neben uns auf den Boden. Wir rennen vom Gestank davon in den nächsten Wagon, aber auch hier liegt Erbrochenes, oh Berlin. Als der Zug endlich in unsere Station einfährt, greift Ernests nach der Klinke, um die Tür zu öffnen. Als er loslässt, bemerkt er, dass gräulicher, klebriger Kotzebrei am Griff klebt.

Im Zyankali, eine ‚Zyanidbar' in Kreuzberg, nimmt ein Zauberer im Laborkittel mit langen Haaren und einem gewachsten eingedrehten Schnurrbart, der an Dali erinnert, meine Bestellung auf. Tom Zyankali ist eine bekannte Persönlichkeit der Berliner Barszene. Auf der leuchtend gelben Getränkekarte stehen Absinth-Cocktails mit Namen wie ‚Menace to Sobriety', Hapsburg, der stärkste Absinth der Welt, und eine Auswahl an psychedelischen Shots mit Agwa, Cannabis, Mandragoralikör oder Paan. Es gibt auch zwei hausgemachte Sorten Absinth, einer davon wurde in einem Sherry-Fass gelagert. Die Bar schimmert, an den Wänden hängen Gasmasken. Ich schaue mich um und plötzlich ist Ernests verschwunden. Ich entscheide mich für die Kreation von Marilyn Manson, den Mansinthe mit satanischen 66,6 Prozent und beobachte, wie das Wasser aus dem Wasserspender langsam in den Kelch tropft. Schatten zeichnen sich an den Wänden ab und ich hektischer Jazz dröhnt aus den Boxen.

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Im Zyankali.

Marilyn behauptet, er habe den Song ‚The Golden Age of Grotesque' in 12 Stunden auf einer Flasche des grünen Zeugs geschrieben. Als ich seinen Saft runterschlucke, höre ich seinen Songtext: „So my bon mots, hit-boy Tommy Irons, rowdy rowdies, honey-fingered Goodbye Dolls, Hellzapoppin. Open your third nostril…"

Genau das mache ich. Ich atme mit geschlossenen Augen tief ein und höre eine andere Stimme sagen: „Ich erzähl dir etwas über die winzigen Mieder deutscher Prostituierten."

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Die grüne Fee.

„Ja, gerne", erwidere ich und öffne meine Augen. Ernests ist zurückgekehrt. Er lehnt sich vor, als würde er mich in ein Geheimnis einweihen: „Erkundige dich mal über Marilyn Manson im Zusammenhang mit oraler Selbstbefriedigung durch Rippenentfernung." Mein Kopf kippt vor, nicht um es auszuprobieren, sondern weil ich so betrunken bin. Langsam ziehe ich meinen schweren Kopf wieder hoch. Ernests ist verschwunden. Ich gehe eine Runde durch die Bar mit meinen Händen hinter meinem Rücken wie ein Detektiv.

Die Wände sind mit Astronomie-, Chemiepostern und dem Periodensystem dekoriert, daneben hängen anatomische Designs und medizinische Ratschläge—unter anderem, wie man Kopfschmerzen behandelt. Eine Wand in einem Seitenraum ist komplett mit hängenden, lila beleuchteten Tomatenpflanzen bedeckt und während ich diese Wand anstarre, erscheint eine Geisterhand aus der Mitte und reicht mir den Drink, den ich eigentlich in der Hand halten hätte sollen. In einem beleuchteten Kabinett bei der Treppe befindet sich ein Regal voller kleiner Schädel. Und ich frage mich, ob Vögel wohl auch die gleiche Art von Kopfschmerzen bekommen wie wir Menschen? Wenn ja, wie behandeln sie sie? Gibt es eine bestimmte Beere dafür? Oder sind dafür Würmer da? Wo sind ihre Körper? Werden sie zermahlen und in Drinks gemischt? Haben sie ihre Rippen entfernen lassen, um sich selbst einen blasen zu können? Sind sie wie wir? Wie Marilyn?

Nachdem ich meinen Mansinthe ausgetrunken habe, entscheide ich mich für einen der hausgemachten Absinthe. Aber weil ich keinen Gesprächspartner mehr habe und keine Bar mehr auf meiner Liste steht, beschließe ich weiterzuziehen und fahre wieder ans andere Ende der Stadt.

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Absinth im Zynkali.

Obwohl ich die belebende Wirkung des Thujon spüre, bin ich müde geworden. Aber nicht auf die schlaffe Art wie nach einem Bier, Whiskey oder Wein, sondern auf eine kribbelnde Art mit freiem, klarem Geist, der aber außer Reichweite ist, ein bisschen wie nach zu viel Drogen auf einem Festival. Ich lasse mich vom Dunst der grünen Fee einnehmen. Gegen die Wand lehnt ein langes Metallschwert, das—wie sich herausstellt—ein Stuhl ist. Ich setzte mich aber nicht darauf. Ich setzte mich auf etwas anderes. Die Einrichtung der Bar ist, rot und dunkel, plüschig, lederig. Ein Mann geht an mir vorbei und versucht mir ein Low-Five zu geben, peinlich halte ich ihm meine Hand hin, berühre aber kaum seine Handfläche. Es ist ihm aber egal. Ein schwarzer Hund trinkt aus einer Schüssel in der Ecke. An einem Stehtisch stecken zwei Männer ihre Köpfe über einem winzigen Holzbrett zusammen und diskutieren über Schach. Und beim Fenster, neben einem dünnen Mann mit Bart und Dreads, sitzt ein weiterer, der wortlos einen Teller Sushi verschlingt. Ich beobachte, wie sich sein Kiefer und sein Mund bewegen, bis zum allerletzten Stück. Er platziert das Garnelen-Tempura zwischen seine Lippen und meine Augen folgen dem Schwanz, der sich beim Kauen von der einen zur anderen Seite bewegt. Dann wirft er den Kopf wie ein Wolf zurück und der Schwanz ist verschwunden.