Wenn Essen das einzige Stück Heimat ist, das bleibt

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Syrien

Wenn Essen das einzige Stück Heimat ist, das bleibt

Im Kahramanmaraş-Camp in der Türkei können syrische Flüchtlinge ihrer Heimat ein Stück näher kommen: Mit elektronischen Gutscheinkarten können sie eigenständig einkaufen gehen und die Gerichte, die sie an früher erinnern, kochen.

„In meinen Träumen leben wir immer noch in unserem Haus in unserem Dorf", sagt Refia, eine 50-jährige syrische Frau, die in einem Flüchtlingslager in Kahramanmaraş in der Türkei lebt. „Zuhause hatten wir alles. Meine Mutter war alt und sie starb, als ich schon hier war—ich habe sie nie wieder gesehen. Meine Schwester, meine Brüder und mein Vater sind auch noch dort. Ich weine jeden Tag um sie."

Refika, Mutter von drei Kindern, floh vor drei Jahren aus ihrem Dorf Lazkiye, als der Bürgerkrieg in Syrien außer Kontrolle geriert und die Gewalt untragbar wurde. „Wir flohen in andere Dörfer auf der Suche nach Sicherheit, aber schließlich mussten wir in die Türkei fliehen. Mein Mann nahm meinen jüngsten Sohn und mich mit zur Grenze und blieb mit unseren anderen zwei Söhnen zurück", erzählt sie. „Wir gingen stundenlang zu Fuß. Mein Kleid war ganz staubig und meine Schuhe waren zerrissen. Ich konnte während des langen Fußmarsches nicht mehr aufhören zu weinen."

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Nesrin bereitet ihr tebbuli zu. Fotos mit freundlicher Genehmigung des WFP.

Im Lager in Kahramanmaraş fand Refika zumindest den Anschein von Frieden, auch wenn ihr neues Leben ganz anders ist als vor dem Krieg. „Gott sei Dank bin ich mit meiner Familie an einem sicheren Ort. Auch wenn ich hier bei nichts helfen kann, bin ich dankbar, weil sie uns hereingelassen haben. Wir sind jetzt weit von den Bomben entfernt."

Sie befinden sich jetzt zwar in Sicherheit, aber ein Zelt ist kein richtiges Zuhause. Deshalb hat das World Food Programme—die Nahrungsmittelhilfe der Vereinten Nationen, die für die Nahrungsmittelversorgung im Lager zuständig ist—im Rahmen eines Programms die Essensrationen durch Geld und elektronische Gutscheinkarten (E-cards) ersetzt. Das ermöglicht den Flüchtlingen, das zu kaufen, was sie möchten. Kürzlich stellte das WFP eine Rezeptsammlung mit dem Titel VoucherChef vor, in der die beliebtesten Rezepte der Flüchtlinge gezeigt werden, die ihnen einen Ausweg aus diesem Krieg bieten.

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„Wir haben dieses Projekt eingeführt, um zu zeigen, wie die elektronischen Nahrungsmittelgutscheine den Flüchtlingen dabei helfen können, ihre Würde zurückzugewinnen", sagt Berna Cetin, die Sprecherin des türkischen Ablegers des WFP und Leiterin des VoucherChef-Projekts. „Anstatt Ernährungshilfe durch warme Mahlzeiten oder Essensrationen in Anspruch zu nehmen, verfügen sie über die Mittel, ihre eigenen Lebensmittel zu kaufen und ihre eigenen Mahlzeiten zu kochen."

Mit den E-cards können Flüchtlinge in den Supermärkten innerhalb der Camps einkaufen gehen. „Anfangs gaben sie uns Mahlzeiten, aber wir konnten sie nicht essen—sie schmeckten nicht wie unser Essen", sagt Nesrin, eine 20-Jährige, die ebenfalls aus Lazkiye geflohen ist. „Zum Glück wurden nach einer Weile die Supermärkte gebaut und wir bekamen die E-cards. Jetzt können wir alle in unseren Zelten kochen, worauf wir Lust haben."

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Cetin erzählt, dass das Einkaufen in den Supermärkten auch eine soziale Aktivität ist. „Frauen gehen einkaufen. Am Nachmittag treffen sie sich und helfen sich gegenseitig dabei, das Abendessen zuzubereiten", sagt sie. „Das wirkt sich positiv auf die lokale Wirtschaftslage aus, weil die Besitzer und Betreiber der Supermärkte Einheimische sind."

Natürlich gibt es in einem Flüchtlingslager zwangsläufig Einschränkungen. „Wir bekommen E-cards für drei Personen. Die versuchen wir, vernünftig einzusetzen", sagt Refika. „Ich gehe jeden Tag in den Supermarkt und kaufe alles, was wir brauchen. Der Kühlschrank ist zu klein; ich versuche, kein Essen zu verschwenden. Hier in den Supermärkten gibt es alles, was man braucht, aber ich finde, Obst und Gemüse schmecken in Syrien besser."

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Refika schält Auberginen für das maklube.

„Ich gehe jeden Tag einkaufen und hole nur das, was ich für einen Tag brauche", sagt auch Nesrin. „Es gibt in den Geschäften alles, aber die Preise sind höher als in Syrien. Manchmal reichen unsere Gutscheine nicht aus."

Cetin gibt zu, dass manche Flüchtlinge Schwierigkeiten haben, sich anzupassen, weil sie von Zuhause günstigere Lebensmittel gewohnt sind. „Die größte Herausforderung sind die Preise der Lebensmittel. Weil Syrien früher eine starke Landwirtschaft hatte, war das Essen sehr billig. Deshalb haben sie das Gefühl, dass das Essen in der Türkei teuer ist." Cetin erklärt aber, dass die Lebensmittelpreise in Syrien seit dem Ausbruch des Krieges extrem gestiegen sind und in manchen Gebieten des Landes—darunter auch die besetzten und blockierten Städte—herrscht eine massive Nahrungsmittelknappheit.

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Zwei Millionen Flüchtlinge mit Gutscheinen zu ernähren, ist eine finanzielle Belastung für das WFP. Im Dezember verkündete die Organisation, dass sie die Nahrungsmittelhilfe für syrische Flüchtlinge aufgrund budgetärer Defizite einstellen müsse. Dank einer erfolgreichen Social Media-Kampagne konnte das WFP seine Tätigkeiten aber—vorerst—fortsetzen.

Genau deshalb sind VoucherChef und ähnliche Programme wichtig, um auf die Lebensmittelunsicherheit der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. VoucherChef ist aber nicht nur gute PR für die Arbeit des WFP. Die ursprüngliche Idee war, ein Kochbuch mit Rezepten aus den Camps in der Türkei zu veröffentlichen, aber Cetin sagt, ihr und ihren Kollegen sei schnell klar geworden, dass es viele Geschichten auf der ganzen Welt gibt, die nur darauf warten, erzählt zu werden.

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Sayid, eine Syrerin mit vier Kindern, trug mit der Geschichte ihrer Reise ins Zaatari-Camp in Jordanien bei und teilte ihr Rezept für frittierte kubbeh . Najla, die ursprünglich aus Idleb in Syrien stammt, derzeit aber im Boynuyogun-Camp in der Türkei lebt, stellte ihr Rezept für kabsa, eine Art Biryani, zur Verfügung.

„[Mein Job] ist mehr, als nur Nahrungsmittelhilfe zu leisten", sagt Cetin. „Dieses Projekt schenkt ihnen Trost, ein bisschen Normalität und es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl. Ich glaube, es schenkt ihnen Hoffnung und hilft ihnen dabei, mit ihrer Situation umzugehen, weil sie das Gefühl haben, jemand denkt an sie."

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Zurück im Kahramanmaraş-Camp sind Refika und Nesrin mit ihren eigenen Gerichten beschäftigt, während Cetin sie beim Kochen begleitet. „Wir gehen zusammen in den Supermarkt im Camp, kaufen die nötigen Zutaten und kommen zurück ins Zelt, um das Essen zuzubereiten", erzählt Cetin. Sie macht von jedem Arbeitsschritt Fotos und erfährt währenddessen einige ihrer Geschichten. „Sie stellen nicht einfach nur ein Rezept zur Verfügung. Mit ihrem Rezept teilen sie ihre Erinnerungen mit uns. Sie erinnern sich daran, als sie es das letzte Mal gekocht haben oder wo sie früher die Zutaten in Syrien gekauft haben. Die meisten Frauen haben das Kochen von ihren Müttern gelernt. Da viele ältere Familienmitglieder immer noch in Syrien sind, kommen ihre Sorgen und Ängste um ihre Verwandten hoch."

Refikas Rezept für maklube—ein Reisgericht, dessen Namen auf Arabisch „kopfüber" oder „umgekehrt" bedeutet—ruft solche Erinnerungen hervor. „Während Ramadan kochen wir es sehr oft", sagt sie. „Als ich klein war, arbeitete meine Mutter in einer Tabakfabrik. Nach der Schule ging ich zu den Nachbarn und half ihnen beim Kochen. Ich habe fünf Brüder und Schwestern und habe immer für sie gekocht."

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Nesrins tebbuli ist ein alltäglicheres Gericht. „Ich habe es von meiner Mutter gelernt, aber jede Frau in Syrien kennt dieses Rezept", sagt sie. „Es ist wie ein Snack, eine Beilage oder ein Salat. Jeder macht es auf dieselbe Art."

Ohne die Supermärkte und die E-cards wären tebbuli und maklube wahrscheinlich nicht möglich. Im Bab Al-Salam-Camp, das von der IHH Humanitarian Relief Foundation an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei betrieben wird, bekommen die Flüchtlinge beispielsweise gekochtes Fleisch mit Milch. „Gott sei Dank sind wir am Leben und dürfen weiter leben", sagt Refika. „Es ist mir egal, wenn wir in einem Zelt wohnen—alles ist besser, als ein Leben unter Bomben."

„Wenn wir uns ihre Geschichten anhören, wie sie dem Krieg entkamen, wie dankbar sie für das Wenige sind, das sie haben und wie sie die Hoffnung nicht aufgeben, irgendwann zurückzukehren, macht mich das sehr traurig—aber ich bewundere ihre Kraft, nach allem, was sie erlebt haben", sagt Cetin.

Die Hoffnung stirbt eben zuletzt. „Mein Mann und ich träumen von unserem eigenen Haus, wir hatten nie eins", sagt Nesrin. „Ich habe hier geheiratet und wir bekamen ein eigenes Zelt. Wenn ich zurückkehre, werde ich alles verkaufen, was ich besitze, und mein Mann und ich werden uns ein Haus bauen, in dem wir mit unserem Sohn und Baby leben werden."

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