Jedes Tier hat es verdient, komplett gegessen zu werden
Entenbrust und -herz. Foto von Frank Woelffing.

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Berlin

Jedes Tier hat es verdient, komplett gegessen zu werden

Michael Köhle vom Berliner Restaurant Herz & Niere sieht das Nose-to-tail-Prinzip nicht als Trend. Er und sein Team legen Wert auf bewussten, regionalen Konsum ohne etwas zu verschwenden. Das fängt mit dem Saft an und hört mit dem Fleisch auf.

Michael Köhle ist der ehemalige Restaurantmanager des Hugos und der Mitgründer von Herz & Niere—einem nachhaltigen Restaurant in Kreuzberg, das nach dem Nose-to-tail-Prinzip arbeitet. Sein Geschäftspartner ist der Koch Christoph Hauser, ehemals vom 3 Minutes sur Mer und der Weinbar Rutz. Köhle ist außerdem der Co-Autor des Buchs von Herz & Niere, das demnächst veröffentlicht wird.

Letztes Jahr kauften Christoph und ich 200 Kilo Quitten. Daraus machten wir 60 Liter Saft, 30 Liter Essig und fast 100 Brotlaibe. Wir stellten sogar Quittenlikör daraus her. Die Schale, das Gehäuse, das Fruchtfleisch—als wir fertig waren, war nichts mehr übrig. Wenn wir sagen, dass wir jeden Teil verwerten, dann gilt das nicht nur für Tiere.

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Wir nannten unser Restaurant nicht „Nose to Tail", weil wir keinen englischen Namen wollten. Die deutsche Version wäre „Kopf bis Schwanz", was sich aufgrund der Zweideutigkeit wahrscheinlich nicht unbedingt gut verkaufen würde. Weil wir so lange über unsere Konzepte nachgedacht hatten—sie auf Herz und Nieren geprüft haben—, entschieden wir uns für den Namen Herz & Niere, der auch inhaltlich passt.

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Kalbsherz-Confit, frittierte Rehleber, violette Karotten, Sellerie, Pfifferlinge. Foto von Florian Bolk.

Die meisten Leute glauben, dass es bei uns nur Innereien gibt, obwohl das nicht stimmt. Unsere Speisekarte schreiben wir nie im Vorhinein, wir verändern sie immer, je nach dem, was wir bekommen. Wir haben einen Jäger, der Reh und Wildschwein schießt, aber wir bieten auch jeden Abend ein vegetarisches Menü mit bis zu fünf Gängen an. Interessanterweise sind nicht wenige unserer Stammgäste Vegetarier. Egal ob wir es schmoren, Confit daraus machen oder es dünsten, wir behandeln das Gemüse immer mit dem gleichen Respekt wie ein Stück Fleisch. Unsere Herangehensweise ist ganz anders als die eines typischen vegetarischen Restaurants, wo die Bratwurst wirklich wie eine Bratwurst aussieht und aus Tofu gemacht ist. Solche Gerichte wird es bei uns niemals geben. Wenn jemand darauf besteht, nur Innereien zu essen—und das kommt durchaus vor—, dann können wir ein volles Acht-Gänge-Menü damit zubereiten.

Scallops and vegetables. Photo by Frank Woelffing.

Gefüllter Kürbis, Getreide, Gemüse, Radieschen. Foto von Florian Bolk.

Wir arbeiten mit Restaurants und Lieferanten zusammen, die das ganze Tier schlachten. Ein guter Freund von uns betreibt eine Cafeteria und hat seine eigenen Kühe. In der Cafeteria kann er natürlich nicht mit Eingeweiden arbeiten, aber anstatt sie wegzuwerfen, gibt er sie uns. Auf unserer Speisekarte steht: „Jedes Produkt und Tier hat es verdient, komplett verwertet und gegessen zu werden". Und dafür stehen wir.

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Wir haben keine Cola, Fanta oder Sprite—nur Säfte, die wir selbst pressen. Wenn wir können, sammeln wir Fallobst und lagern es in recycelten Bierflaschen. Wir haben die Sorten Rhabarber, Pflaume und Apfel aus den ersten Äpfeln des Jahres. Dieser Saft hat einen so unglaublich puren Geschmack. Kein Zucker, nichts Künstliches. Nur Äpfel, gepresst und kurz erhitzt, damit der Saft haltbar wird. Das einzige Problem ist, dass man genau das bekommt, was man hineingibt. Manchmal ist ein schlechter Apfel dabei und in solchen Fällen schmeckt die gesamte Ladung nach diesem einen schlechten Apfel und muss weggekippt werden.

Im Februar wurde eine 16-jährige Mutterkuh geschlachtet. Ich finde es toll, wenn wir ein Tier bekommen, das ein langes, erfülltes Leben hatte. Der Geschmack des Fleischs ist ganz anders, viel intensiver. Wenn man in den Supermarkt geht und ein Stück Rindfleisch kauft, stammt das meistens von einem Tier, das maximal eineinhalb Jahre alt war. Ihr Name war übrigens Claudi. Und Claudi war sehr lange bei uns, während wir sie Stück für Stück verarbeitet haben.

Die Innereien muss man sofort verwerten. Wir hatten ungefähr 60 kg Rippen, die wir drei bis vier Wochen lagern konnten. Wir schmorten, portionierten und vakuumverpackten sie. Größere Stücke Fleisch konnten wir am Knochen drei bis vier Monate trockenreifen lassen. Ingesamt ergab ihr Körper mehr als 400 kg Fleisch. Wir wandten sehr traditionelle Konservierungsverfahren an—Pökeln und so weiter. Aus Claudis Bauch machten wir Schinken und wir machten unsere eigene Salami und Bratwurst.

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Auf „Bio"-Zertifikate legen wir nicht sehr viel Wert. Wenn jemand sagt, „Ich habe ein Schwein", besuchen wir lieber die Farm und sehen uns das Tier an. Vor einem Monat hatte das Schwein eines Freundes beispielsweise eine Infektion am Fuß und er verabreichte ihm Antibiotika. Auf einer Bio-Farm würde das Schwein leiden und müsste schlussendlich geschlachtet werden, aber zu diesem Zeitpunkt ist das Fleisch schon wertlos. Uns ist lieber, das Tier bekommt die Behandlung, die es braucht, um unnötige Schmerzen zu vermeiden und wir warten dafür drei Monate, bis die Antibiotika aus seinem Körper komplett ausgeschieden wurden. Wir kommunizieren lieber offen mit dem Bauern oder dem Jäger, anstatt zu sagen: „Du brauchst den Papierkram für ein Zertifikat."

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Der Koch Christoph Hauser. Foto von Frank Woelffing.

Natürlich ist das alles sehr viel Arbeit. Wir haben unseren eigenen Acker, wo wir die meisten unserer Erzeugnisse anbauen. Drei, vier Stunden Jäten und Gießen sind schnell vorbei. Das ist nicht einfach, aber auf der anderen Seite ist es toll, am Morgen dort hinzufahren und es zu sehen. Wenn die ersten Karotten aus den Boden sprießen, freuen wir uns wie kleine Kinder. Das ist ein tolles Gefühl.

Im Winter sind die einzigen Tomaten, die man in unserem Restaurant findet, die die wir eingelegt haben. So überstehen wir die kälteren Monate, mit ein bisschen Hilfe von Grünkohl, Kraut und anderem Wintergemüse. Wir legen einen großen Teil von unserem eigenen Gemüse und dem unserer Lieferanten ein. Wir haben einen ausgezeichneten französischen Lieferanten, der uns jede Woche Kisten voller violetter Karotten und anderen alten Sorten bringt.

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Michael Köhle und Christoph Hauser. Foto von Ricarda Spiegel.

Viele fragen uns, wie wir zu diesem Trend gekommen sind. Darauf antworten wir, „Das ist kein Trend." Die Leute machen das schon seit hunderten von Jahren. Wenn Bauern im Süden Deutschlands ein Schwein schlachteten, verkauften sie die hochwertigsten Stücke und verwendeten den Rest für die eigene Familie. Nichts landete auf dem Müll. Eigentlich tun wir also nur das, was man früher schon tat, nur dass das Ergebnis moderne Gerichte sind. Die Gäste in unserem Restaurant sollten wissen, was sie essen, was aber nicht bedeutet, dass die Gerichte rustikal sein müssen. Unser Ziel ist ein raffinierterer Geschmack, da wir heutzutage in der Küche viel mehr Möglichkeiten haben. Aber wie bereits gesagt, für uns ist das kein Trend. Wir machen uns Gedanken darüber, was wir konsumieren. Das fängt mit dem Saft an und hört mit dem Fleisch auf.

Aufgezeichnet von Diana Hubbell