Ein Barkeeper schüttet Spirituosen in einen Mixbecher
Foto: Ivan Cortez | Unsplash

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Restaurant Confessionals

So ist die Arbeit als Barkeeper, wenn die Camorra deine Stadt regiert

Einmal hielt mir ein Kunde eine Knarre vors Gesicht und sagte: "Ich glaube, ich bin jetzt an der Reihe!"
SS
Übersetzt von Sandra Sauerteig
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aufgeschrieben von Enrico Nocera

Willkommen zurück zu den Restaurant Confessionals , wo wir Leuten aus der Gastronomie eine Stimme geben, die ansonsten viel zu selten zu Wort kommen. Hier erfährst du, was sich hinter den Kulissen in deinen Lieblingsrestaurants und -bars so alles abspielt. Dieses Mal berichtet uns ein Bartender aus Italien, dessen Stadt von der Mafia regiert wird.

Meine ersten Erfahrungen als Barkeeper sammelte ich in einer kleinen Weinbar. Hier verbrachte ich nach der Schule meine Zeit, statt zu lernen. Eigentlich war es kein richtiger Job, doch der mürrische Barbesitzer ließ mich oft Whiskey von fragwürdiger Qualität in Plastikbecher schütten. Dieser erste Kontakt führte zu weiteren Jobs und ich habe mein Leben seither praktisch hinter Tresen verbracht. 2006 eröffnete ich schließlich meine erste eigene Bar. Weitere sollten folgen.

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Ich wohne in Neapel, habe aber viel in Bars und Venues gearbeitet, die sich im Norden der Stadt bis in die Provinz Caserta erstrecken. Hier finden viele Großveranstaltungen mit mindestens 1.500 Gästen statt, bei denen die Schichten länger und verrückter sind, als du es je träumen könntest. Ein Kollege scherzte oft, dass man eine Schicht von weniger als zwölf Stunden kaum Arbeit nennen könne. Mein persönlicher Rekord: Ich arbeitete zwölf Stunden ohne Pause und schenkte fast 900 Drinks aus. Bei dieser Anzahl an Kundinnen und Kunden habe ich so ziemlich alles erlebt.

Einem Kunden beispielsweise ging es an der überfüllten Bar nicht schnell genug. Meine Aufmerksamkeit gewann er, indem er mir eine Knarre vors Gesicht hielt und sagte: "Ich glaube, ich bin jetzt an der Reihe." Ein anderer Kunde war von der langen Schlange vor der Kasse so genervt, dass er mir direkt 50 Euro für eine Wasserflasche bot.

Das seltsamste Erlebnis hatte ich jedoch vor ein paar Jahren. Ein Kollege warnte mich, dass ich gleich einen Kunden bedienen würde, der ein prominentes Mitglied der Camorra war. Ich strengte mich also extra an, dass jeder seiner Wünsche erfüllt wurde. Irgendwann kam dieser 50-jährige Typ – eine Mischung aus Tony Montana und Tomas Milian – in Begleitung von zwei Frauen an die Bar. Er lehnte sich zu mir und sagte mit einem Ton von Überlegenheit: "Gieß mir Wodka in das Glas. Und hör auf, wenn ich es dir sage."

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Genau das tat ich. Doch als ich anfing, zu gießen, wandte er sich wieder den Frauen zu. Das Glas füllte sich schnell. Schließlich lief es über und und der Wodka tropfte von der Bar auf den Boden. Erst da dreht er sich um. Die Flasche in meiner Hand war fast leer. Er schaute mich mit einer Mischung aus Staunen und Verachtung an. Er nahm das randvolle Glas und kippte ein wenig auf den Boden. Anschließend zeigte er auf mich und sagte: "Du bist ein Arsch! Aber das war lustig." Dann ging er einfach.


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Du lernst viel, wenn du in einer Region hinter der Bar arbeitest, in der jeder Teil des Lebens von organisiertem Verbrechen infiltriert wurde. Durch deinen Job lernst du, Menschen einzuschätzen und Körpersprache zu lesen. Du lernst zu unterscheiden, wer zur Camorra, den organisierten kriminellen Familien-Clans, gehört und wer nicht. Mitglieder der Camorra haben es nicht nötig, aggressiv aufzutreten – denn jeder weiß, wer sie sind. Sie brauchen keine Pistole, um andere einzuschüchtern.

Außerdem ist es unmöglich, zu sagen, in welchen Bars die Mitglieder Camorra verkehren. Wichtig ist nur, dass der Laden beliebt ist, denn es ist ihnen wichtig, gesehen zu werden, um ihren sozialen Status aufrecht zu erhalten.

Ein paar Mal erlebte ich den Machtkampf der Familien hautnah mit, wenn zwei Tische versuchten, sich beim Champagnerbestellen zu überbieten. Wenn der erste Tisch zehn Flaschen bestellte, würde der andere Tisch zwanzig bestellen und so weiter. Ein kleines Spiel, dass sich schnell in eine riesige Rechnung verwandelt, manchmal Zehntausende Euro an einem Abend.

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Doch Mitglieder der Camorra waren nicht meine einzigen schwierigen Kunden. Besonders kompliziert wird es, wenn Menschen nicht wissen, wie Dinge in Neapel laufen. Ich rede hier von Typen, die nur zweimal im Jahr tanzen gehen und die ungeschrieben Gesetze der Club-Szene nicht kennen, wie die komplexe Beziehung zwischen Gästen und Türstehern. Denn kompetente Türsteher sind in brenzligen Situationen unerlässlich.

Doch was passiert, wenn ein Türsteher mit einem Gast aneinandergerät, der mit der Camorra in Verbindung steht? Türsteher arbeiten nach ihrem eigenen System. Über ihre Headphones warnen sie ihre Kollegen, wenn ein Kunde den Club betritt, der nur mit Samthandschuhen angefasst werden darf. Oft informiert die PR-Abteilung eines Events die Sicherheitsleute rechtzeitig, ob gewisse Leute anwesend sein werden. Manchmal gehen diese Informationen aber auch verloren: Ich habe in meiner Karriere mehr als einen Sicherheitsmann gesehen, der versuchte, sich vor einem bewaffneten Kunden zu verstecken, den er verärgert hatte.

Ich habe in all den Jahren viel Gewalt gesehen. Doch die physische Grenze des Tresens hat mich immer davor bewahrt, direkter Teil des Geschehens zu werden. Ich blieb Zuschauer. Wenn ein Kampf direkt vor unseren Augen ausbricht, sage ich scherzhaft zu meinen Kollegen: "Super, heute läuft Wrestling im Fernsehen!" Um einen Eindruck vom Gewaltpotenzial zu bekommen, musst du nur einen Blick in die Kiste mit beschlagnahmten Gegenständen werfen, die Türsteher Gästen am Eingang abgenommen haben.

Während ich euch diese Geschichten erzähle, stehe ich hinter dem Tresen meiner kleinen Cocktailbar, ein Glas Whiskey in der Hand. Hier geht es meist ruhig zu. Ich habe drinnen 14 und draußen 16 Sitzplätze. Ich konzentriere mich auf qualitativ hochwertige Produkte und die Beziehung zu meinen Gästen. Ihnen geht es nicht darum, zu sehen und gesehen und zu werden, sondern darum, einen schönen Abend zu verbringen. Das ist für mich eine echte Bar.

Dieser Artikel ist zuerst bei MUNCHIES ITALIEN erschienen.

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