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Flüchtlinge in Deutschland

Geflüchtete zeigen die Orte, die ihnen am meisten bedeuten

Eine Turnhalle, ein Friseursalon und ein schäbiges ehemaliges Hotel – Orte, die ihr Leben für immer verändert haben.
Titelfoto: Haytham in Action | Privat

Seit Angela Merkel im September 2015 "Wir schaffen das" erklärte, sind ein Jahr und fast vier Monate vergangen. Für die 890.000 Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, ist dieses Land jetzt seit über einem Jahr ihr Zuhause. Die Städte, in denen sie leben, sind keine fremden Orte mehr, sondern voller Plätze, die sie täglich mit neuen Erinnerungen füllen. Wir haben fünf junge Menschen getroffen, die 2015 nach Deutschland geflüchtet sind und die in Großstädten wie Hamburg leben oder in kleinen Gemeinden in Sachsen-Anhalt. Sie haben uns erzählt, welche Orte ihnen in Deutschland am meisten bedeuten.

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Ghazwan, 36, aus Damaskus, lebt jetzt in Aschersleben in Sachsen-Anhalt

"Die Arbeitsagentur hat mir ein Praktikum in einem Frisörsalon vermittelt. Nach drei Tagen hat mir die Chefin eine Festanstellung gegeben." Ghazwan im Friseursalon in Aschersleben | Foto: Privat

Ich habe in Syrien und Dubai als Hair-Stylist gearbeitet, meist in teuren Salons in Luxushotels, für Fernsehsender und Modenschauen. Dann habe ich meinen Traum wahr gemacht und 2014 einen eigenen Salon in Damaskus eröffnet, obwohl in Syrien schon Krieg war. Ich dachte, es wird schon irgendwie gehen. Aber dann ist eine Autobombe in der Nähe meines Ladens hochgegangen und hat alles im Inneren des Geschäfts zerstört. Ich bin nach Deutschland geflohen und kam über Umwege nach Aschersleben in Sachsen-Anhalt. Die Arbeitsagentur hat mir dann ein Praktikum in einem Friseursalon vermittelt, das eigentlich 15 Tage dauern sollte. Aber nachdem ich in den ersten drei Tagen 18 Kunden frisiert hatte, hat die Chefin das Praktikum beendet und mir eine Festanstellung gegeben. Obwohl ich am Anfang kaum Deutsch konnte, hat mich meine Chefin immer unterstützt und mir geholfen, wo sie konnte. Ich bin ihr sehr dankbar und respektiere sie sehr. Mittlerweile arbeite ich seit einem halben Jahr im Salon und kann mit den Kunden ganz gut auf Deutsch sprechen. Ich war die letzten vier Monate jeden Morgen von 8.30 Uhr bis 13.30 Uhr in einem Sprachkurs und dann von 14 bis 19 Uhr im Salon. Das ist anstrengend, aber ich will mich wirklich integrieren, solange ich hier bin. Aber ich wünsche mir so sehr, dass Syrien eines Tages wieder so ist, wie es einmal war. Dann würde ich sofort zurückgehen—es ist meine Heimat und meine Mutter und meine Schwester sind noch dort. Ich glaube, viele Syrer träumen davon, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können. Aber solange ich hier bin, versuche ich mich jeden Tag auf das Positive zu konzentrieren. Zum Beispiel auf meine Arbeit im Friseursalon.

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Majed, 23, aus Homs und Norhan, 33, aus Aleppo, leben jetzt in Oschersleben bei Magdeburg

Majed und Norhan wollen keine Bilder von sich ins Internet stellen. Der Ort, der sie zusammenbrachte: das Hotel Körling. | Foto: Mathias Müller

Majed: Die meisten Geflüchteten denken wahrscheinlich nicht so gern an die Flüchtlingsunterkunft "Hotel Körling" zurück. Das ehemalige Hotel liegt an einem Rasthof irgendwo im Nirgendwo, es waren über 100 Menschen darin untergebracht und das Essen war furchtbar. Aber für Norhan und mich ist es der Ort, der alles verändert hat. Ich war schon zwei Monate da, als im Januar 2016 eine neue Gruppe von Geflüchteten in die Unterkunft kam. Dazu gehörten auch Norhan und ihre Familie. Als ich Norhan gesehen habe, war es für mich Liebe auf den ersten Blick. Sie sah für mich aus wie ein Engel. Ich bin zu ihr gegangen und habe ihr das ganz genauso gesagt und sie gefragt, ob sie mich heiraten möchte.

Norhan: Ich war natürlich total überrascht, schließlich kannte ich Majed überhaupt nicht. Außerdem kam er mir jünger vor als ich. Ich bin 33 und Majed ist erst 23. Er hat auch vermutet, dass ich wahrscheinlich älter bin als er und sich darum extra einen Bart stehen lassen, damit er erwachsener aussieht. Ein bisschen geklappt hat das zumindest. Ich habe zwei Tage über seinen Antrag nachgedacht, dann habe ich Ja gesagt.

Majed: Kurz darauf musste ich aber die Flüchtlingsunterkunft verlassen, weil wir Platz für eine neue Gruppe machen mussten. Ich wurde in eine Unterkunft sechs Kilometer entfernt verlegt. Es hat zu dieser Zeit geschneit und war eiskalt, aber ich bin trotzdem jeden Tag die sechs Kilometer zum Hotel Körling gelaufen, um Norhan zu besuchen. Als sie das Hotel Körling dann auch verlassen musste und in eine andere Stadt gezogen ist, lagen auf einmal 30 Kilometer zwischen unseren beiden Unterkünften. Aber ich habe sie trotzdem fast jeden Tag besucht, ob mit einem geborgten Fahrrad oder mit dem Bus. Schließlich haben wir in einer muslimischen Zeremonie geheiratet. Es war natürlich nur eine ganz kleine Feier mit ein paar Familienmitgliedern.

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Norhan: Im Mai haben wir dann endlich eine gemeinsame Wohnung bekommen. Im Augenblick lernen wir beide Deutsch und besuchen einen Integrationskurs. Wir sind sehr glücklich miteinander. Besonders, weil wir im nächsten Jahr unser erstes Kind bekommen. Ich bin im fünften Monat schwanger.

Razia, 26, aus Masar-e-Scharif in Afghanistan, lebt jetzt in Frankfurt

"Ich bin vier Tage die Woche im Café Milena. Mein Sohn kann hier spielen und wird betreut, während ich Deutsch lerne." | Foto: Privat

Mein Mann und ich haben uns an der Uni kennengelernt, wir haben beide Anglistik und englische Literatur studiert. Nach dem Abschluss habe ich als Englischlehrerin gearbeitet, mein Mann hat eine Anstellung in einem Konsulat bekommen. Dann mussten wir plötzlich fliehen. Über unsere Gründe, unsere Heimat zu verlassen, möchte ich lieber nichts sagen. Aber nach unserer Anhörung bei den Behörden in Deutschland haben wir eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre bekommen, was mich sehr freut. Wir leben jetzt seit November 2015 in Deutschland. Unsere Tochter ist vier Jahre alt und geht hier in Frankfurt in den Kindergarten, unser Sohn ist erst eineinhalb. Ich gehe mit ihm jede Woche von Montag bis Donnerstag in das Flüchtlingscafé Milena. Das ist ein Café extra für geflüchtete Mädchen und Frauen und ihre Kinder. Wenn ich dort morgens Deutschunterricht habe, wird mein Sohn gemeinsam mit den Kindern der anderen Frauen betreut. Im Augenblick verbringe ich wirklich viel Zeit im Café Milena. Ich habe hier viele Freundinnen gefunden und die Mitarbeiterinnen unterstützen mich und meine Familie, wenn wir Hilfe mit den Behörden brauchen. Ab nächstem Jahr würden mein Mann und ich gern beide an der Goethe-Universität in Frankfurt studieren und einen Master in Management machen, aber dafür müssen wir sehr gut Deutsch sprechen. Darum konzentrieren wir uns im Moment voll auf unsere Sprachkurse.

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Haytham, 23, aus Damaskus, lebt jetzt in Magdeburg

"Ich glaube, ich war der erste und einzige Ausländer, der beim TTC Wolmirstedt je an der Tischtennisplatte stand. Aber die anderen Vereinsmitglieder haben mich sehr unterstützt." | Foto: Privat

Als ich im August 2015 in Deutschland angekommen bin, wurde ich nach Wolmirstedt bei Magdeburg geschickt. Ich habe mit fünf anderen Syrern in einer Sozialwohnung gelebt und hatte nichts zu tun. Ich habe gegessen, getrunken, geschlafen und bin aufs Klo gegangen. Diese Untätigkeit hat mich fertig gemacht, also habe ich überlegt, was ich in Damaskus gern gemacht habe. Und dann fiel es mir ein: Tischtennis spielen! Ich bin also zum Tischtennisverein in Wolmirstedt gegangen. Ich glaube, ich war der erste und einzige Ausländer, der dort je an der Platte stand. Aber die anderen Vereinsmitglieder haben mich sehr unterstützt! Ich bin dreimal die Woche zum Training gegangen und jedes Mal haben sie mit mir Deutsch gesprochen. Als ich dann einen Deutschkurs machen konnte, haben die Leute in der Halle immer mit mir geübt, was ich in meinem Sprachkurs an dem Tag gelernt hatte. Dadurch, dass ich soviel Sport gemacht habe, ging es mir auch seelisch besser. Dann habe ich beim Tischtennis Franka und Ingo kennengelernt, ein Ehepaar aus dem Verein. Sie kümmern sich bis heute um mich, als wäre ich ihr Sohn. Sie haben mir geholfen, eine eigene Wohnung in Magdeburg zu bekommen, laden mich zu ihren Familienfeiern ein und fragen immer über WhatsApp, ob es mir gut geht. Und als ich in meine neue Wohnung gezogen bin, sind sie extra vier Stunden mit dem Auto zu ihrer Tochter nach Hamburg gefahren, um Möbel für mich abzuholen, die ihre Tochter nicht mehr brauchte. Mittlerweile lebe ich in Magdeburg, weil ich im Januar bei einer Firma als Systemelektroniker anfange. Das war auch in Syrien mein Job. Leider kann ich jetzt nicht mehr in meiner Halle beim TTC Wolmirstedt spielen. Ich trainiere in Magdeburg zwar mittlerweile auch fast jeden Tag in einem Verein, aber trotzdem bleibt die Sporthalle vom TTC Wolmirstedt der Ort, der mir am meisten bedeutet.

Thaer, 26, aus der Nähe von Damaskus, lebt jetzt in Hamburg

"Das Café Refugio ist mein zweites Zuhause." Thaer mit seinem jüngeren Bruder in der Küche des Café Refugio | Foto: Privat

Mein jüngerer Bruder und ich waren auf einem Schiff, das mit 500 Flüchtlingen über das Mittelmeer nach Italien fahren sollte. Aber es ist vor der Küste von Lampedusa gesunken—30 Menschen sind ertrunken. Mein Bruder und ich haben überlebt. Seit eineinhalb Jahren wohnen wir jetzt in Hamburg. Diese Stadt ist an sich schon etwas Besonderes für mich, denn ich finde die Menschen hier so freundlich. Aber der wichtigste Ort in Hamburg ist für mich das Café Refugio. Das Café Refugio ist ein Ort, an dem Geflüchtete sich mit Deutschen treffen können, um sich zu unterhalten, einen Tee miteinander zu trinken und sich gegenseitig zu helfen. Es kommen nicht nur Geflüchtete aus Syrien, sondern auch aus Eritrea, Somalia, Afghanistan und anderen Ländern. Ich bin fast jeden Tag dort und helfe, die Veranstaltungen im Café zu organisieren. Es gibt jeden Tag Deutschunterricht für Geflüchtete, außerdem organisieren wir Schwimmkurse und unternehmen Ausflüge. Ich habe hier so gut Deutsch gelernt, dass ich mittlerweile selbst Geflüchteten helfen kann, wenn sie zum Beispiel jemand brauchen, der ihnen Briefe von Behörden übersetzt oder sie einen Antrag auf Deutsch stellen müssen. Ich kümmere mich auch um andere Aufgaben und helfe, Spenden zu sortieren. Für mich ist das Café Refugio neben meiner Wohnung mein zweites Zuhause. Aber es belastet mich, dass ich nicht weiß, wie meine Zukunft aussieht. Der Aufenthaltsstatus von mir und meinem Bruder ist noch nicht geklärt, weil wir schon 2013 in Italien angekommen sind, also bevor die meisten syrischen Flüchtlinge nach Europa kamen. Aber ich schaue nach vorne und mache ab Januar erstmal ein Praktikum, weil ich gern eine Ausbildung zum Industriekaufmann machen würde. In Syrien habe ich eigentlich Geologie studiert, aber ich glaube, als Geologe wäre es schwer, in Hamburg eine Arbeit zu finden.