Ein junger Mann mit Brille, Bart und Kopfverband macht für ein Selfie eine Grimasse; es handelt sich um Jody Smith, der nach einer Gehirn-OP keine Angst mehr verspürt und sein Leben seitdem neu ausrichten muss
Das ist Jody, ihm wurde die rechte Amygdala entfernt | Alle Fotos: bereitgestellt von Jody Smith
Menschen

Jody wurde ein Teil des Gehirns entfernt, jetzt spürt er keine Angst mehr

"Ich rede hier von der Angst in Situationen, in denen man sterben könnte. Diese Angst wurde mir quasi wegoperiert."
Gavin Butler
Melbourne, AU

Bis er 28 war, kämpfte Jody Smith regelmäßig mit dem Gedanken, dass er eines Tages sterben wird.

Das lag zum Teil daran, dass Smiths Vater und Bruder beide starben, als er noch jung war. Möglicherweise sorgte auch eine körperliche Störung dafür, dass Smiths Nervensystem verrückt spielte. Die Angst vor seiner Sterblichkeit beschäftigte Smith so sehr, dass er Angstzustände entwickelte und keine Energie mehr hatte.

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Das änderte sich, als ein Teil von Smiths Gehirn entfernt wurde. Die rechte Amygdala, um genau zu sein – eine kleine Nervenzellansammlung im Temporallappen, die die Reaktion auf Gefahr steuert, sensorische Informationen analysiert und in bestimmten Situationen Angst auslöst.

Die Folge: Smith spürt absolut keine Angst mehr. Er ist mittlerweile 32 und lebt in New York.

"Wenn ich sage, dass ich keine Angst mehr verspüre, dann beschreibe ich damit ein sehr spezifisches Gefühl", schreibt Smith in einer Mail. "Die Leute nutzen das Wort 'Angst' für viele Dinge, sie sagen zum Beispiel, dass sie sich vor Frauen fürchteten oder Versagensängste hätten. Ich meine jedoch die Angst, die man verspürt, wenn Todesgefahr oder das Risiko einer schweren Verletzung besteht. Das ist die Angst, die bei mir entfernt wurde."

Ein junger Mann mit Brille und blauen T-Shirt fotografiert sich im Spiegel, aus seinem Kopfverband ragen mehrere bunte Kabel

Smith unterzog sich einer Hirn-OP, nachdem er intensive Angst- und Panikgefühle verspürte

Als Smith 26 Jahre alt war, wurde bei ihm Epilepsie diagnostiziert. Etwa dreimal täglich verspürte er ohne Vorwarnung kurze, aber sehr emotionale Gefühlsausbrüche, die ihn denken ließen, dass gleich etwas Schlimmes passiert oder schon passiert ist. Das löste wiederum eine panikartige Kampf-oder-Flucht-Reaktion aus. Selbst für Smith, der schon sein ganzes Leben lang mit Angstzuständen und Existenzangst zu kämpfen hatte, war das eine neue Erfahrung.

Zuerst war nicht klar, dass es sich um epileptische Anfälle handelte, denn meistens waren die Anfälle nur ein wenig lästig. Einige waren allerdings schlimmer als die anderen.

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Einmal merkte Smith bei einem Familientreffen, wie die Symptome aufkamen, und ging deshalb schnell raus, um frische Luft zu schnappen. Plötzlich wurde alles um ihn herum schwarz. 20 Minuten später kam Smith wieder zu sich und er fand heraus, dass er wie betrunken durch den Garten der Nachbarn gestolpert und gekrochen war. Er kann sich kaum mehr an diese 20 Minuten erinnern. Kurz darauf stellte ein Epilepsie-Spezialist die Diagnose. 

"Eine Operation war die einzige Option, um zu verhindern, dass die Anfälle immer schlimmer werden, meinem Hirn schaden und mich möglicherweise sogar umbringen", sagt Smith. Nachdem er zwei Jahre lang erfolglos probiert hatte, die Erkrankung mit verschiedenen Medikamenten zu behandeln, ließ er sich operieren. 

Die OP war in zwei Abschnitte aufgeteilt. Zuerst setzten die Ärzte mehrere Sonden tief in Smiths Gehirn ein und versuchten dann eine Woche lang, einen Anfall auszulösen. Sie wollten so den Hirnteil auszumachen, der das Problem verursachte. "Während dieser Woche habe ich mich absichtlich selbst 'gefoltert', um einen Anfall zu bekommen – ich schlief zum Beispiel kaum und hörte die ganze Zeit Skrillex auf voller Lautstärke", erzählt Smith. Irgendwann wiesen ihn die Ärzte sogar an, ein Bier zu trinken, um die Sache zu beschleunigen.

Als die sieben Tage vorbei waren, einigten sich die Chirurgen nach einer weiteren neuropsychologischen Untersuchung darauf, Smiths Temporallappen zu operieren und dabei die vordere Hälfte des rechten Temporallappens, die rechte Amygdala und den rechten Hippocampus zu entfernen. Drei Tage nach der OP durfte Smith das Krankenhaus wieder verlassen. Und wie er erzählt, merkte er sofort, dass sich etwas in ihm verändert hatte.

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Ein junger Mann in dunklem T-Shirt macht beim Zähneputzen ein Selfie im Spiegel, aus seinem Kopfverband ragen mehrere bunte Kabel

Chirurgen haben bei Smith die vordere Hälfte des rechten Temporallappens, die rechte Amygdala und den rechten Hippocampus entfernt

"Ich war direkt nach der OP total anders", sagt er. "Geräusche, die vorher einen epileptischen Anfall ausgelöst hätten, stressten mich. Dazu entwickelte ich verschiedene Störungen wie ADHS und Erinnerungsprobleme.

In den darauffolgenden zwei Wochen bemerkte Smith aber noch etwas anderes: Er wurde nicht mehr länger von der Tatsache verfolgt, dass er irgendwann stirbt. Das klingt erstmal positiv. Aber mehr als ein Jahr nach der Operation wurde Smith klar, in welchem Ausmaß der Eingriff seine Angstreaktion neu geschalten hatte.

"Ich dachte mir nur: 'Wow, ich wurde gerade gebissen, und es tut weh. Was soll ich jetzt tun?'"

Besonders einschneidend war der Tag, an dem Smith durch Newark im US-Bundesstaat New Jersey lief, und eine Frau fünf Typen auf der anderen Straßenseite auf ihn aufmerksam machte. Die Männer bauten sich bedrohlich vor Smith auf, er verstand,  dass sie ihn ausrauben wollten. Trotzdem ging er gefasst weiter, machte keine Anstalten zu flüchten und passierte die Typen ganz nonchalant. Die waren genauso überrascht wie Smith selbst.

"Dass ich keine Angst hatte, beeindruckte sie anscheinend", sagt er.

Kurze Zeit später fiel Smith auf, dass er ungewöhnlich locker blieb, als er von einer Spinne gebissen wurde.

"Ich schaute die Spinne einfach nur an und schnippste sie nicht mal instinktiv weg", sagt Smith. "Ich dachte mir nur: 'Wow, ich wurde gerade gebissen, und es tut weh. Was soll ich jetzt tun?'"

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Bald darauf fing Smith an, die Grenzen seines neu entdeckten Muts zu testen und sich Situationen auszusetzen, in denen er vor der OP noch richtig Schiss gehabt hätte. Man kennt dieses mulmige Gefühl, wenn man hoch oben vor einem Abgrund steht und nach unten blickt: Herzklopfen, schwitzige Hände, kribbelnde Füße. Dieses Gefühl wollte Smith spüren. Aber er hatte es offenbar verloren.

"Als leidenschaftlicher Wanderer bin ich oft auf Klippen unterwegs. Und das Angstgefühl dort oben war definitiv anders", sagt er. "Natürlich wollte ich weiterhin nicht abstürzen und verkrampfte, wenn mein Fuß irgendwo abrutschte, aber das grundlegende Angstgefühl dabei war nicht mehr vorhanden."

Smith begann, ein wenig mit seiner Angst herumzuprobieren: "Ich lief absichtlich auf das Klippen-Ende zu, um herauszufinden, wie mein Instinkt reagiert."

Smith hatte mit solchen Nebenwirkungen nicht gerechnet. Niemand hatte ihm gesagt, dass seine invasive Gehirn-OP dazu führen könnte, dass er keine Angst mehr verspürt und den Tod nicht mehr fürchtet.

"Ich redete mit meinem Neurochirurgen darüber, und er meinte nur: 'Ja, das ergibt Sinn. Ich habe ja auch deine rechte Amygdala entfernt'", sagt Smith.

Eine abfotografierte Bildzusammenstellung zeigt mehrere OPs am offenen Gehirn und eine entfernte Amygdala

Es gibt auch andere Fälle, in denen die Patienten nach der Entfernung der Amygdala keine Stress- und Traumasymptome mehr verspürten

Sanne van Rooij, eine Dozentin in Psychologie und Verhaltenswissenschaften an der Emory University, beschäftigt sich schon seit Jahren mit Amygdala-Entfernungen und den Folgen davon. Auch sie glaubt Smith.

"Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Entfernung der rechten Amygdala dazu führt, dass sich die operierte Person nicht mehr fürchtet", schreibt sie in einer E-Mail an VICE. "Das passt voll und ganz zu unseren Fallstudien mit Epilepsie-Patienten, die sich einem fast identischen operativen Eingriff unterzogen haben."

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Im Jahr 2020 untersuchten van Rooij und ihre Kolleginnen und Kollegen zwei Patienten, bei denen eine komorbide posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden war. Bei beiden zeigte sich eine erhöhte Angstreaktion bei Dingen, die sie an ihr Trauma erinnerten. Nach der OP, bei der mit einem Laser die rechte Amygdala entfernt wurde, war die posttraumatische Belastungsstörung verschwunden.

"Wenn die komplette rechte Amygdala fehlt, kann das dazu führen, dass die betroffene Person keine Angst mehr verspürt – selbst wenn sie sensorische Informationen geliefert bekommt, die normalerweise Angst auslösen würden."

Die Gehirnchirurgen haben einen wichtigen Dominostein aus der Sequenz entfernt. So könnte ein Spaziergang am Rand einer Klippe nicht mehr die Kettenreaktion im Gehirn triggern, die zu Angst führt. Die sensorischen Informationen werden weiterhin zum Temporallappen gesendet, aber der Teil der Amygdala fehlt, der normalerweise den Alarm auslöst. Der Adrenalinschub bleibt aus. 

"Früher galten angstauslösende Reize immer als essenziell fürs Überleben, aber in der heutigen Gesellschaft ist das Ganze nicht mehr so wichtig."

Es gibt ein berühmtes Beispiel für dieses Phänomen: der weltbekannte Kletterer Alex Honnold, der im Juni 2017 als erster Mensch die 2.307 Meter hohe "El Capitan"-Felswand komplett ohne Seile und Sicherungen bezwang. Seine Amygdala soll "außerordentlich vermindert" sein. Neurowissenschaftler führten einen MRI-Scan von Honnolds Gehirn durch und zeichneten seine Hirnfunktion auf, während sie ihm Bilder zeigten, die eigentlich eine Flucht-oder-Kampf-Reaktion auslösen sollten.

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Obwohl Honnold Fotos von Geisterhäusern und Kriegsgebieten ansah, wurde seine Amygdala kaum stimuliert. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass das zumindest teilweise erklären könnte, warum Honnold immer so furchtlos wirkt und selbst die kompliziertesten Kletterrouten scheinbar mühelos absolviert.

Sind Menschen ohne rechte Amygdala also einem höheren Risiko ausgesetzt? Nicht unbedingt. Van Rooij sagt, ein Verlust des Angstgefühls sei laut der aktuellen Forschung nicht unbedingt besorgniserregend.

Ein junger Mann mit getönter Brille, grauem T-Shirt und Bart steht auf einem Berg und macht ein Selfie

Smith, inzwischen 32, musste sein Verständnis von Angst komplett neu definieren

"Früher galten angstauslösende Reize immer als essenziell fürs Überleben, aber in der heutigen Gesellschaft ist das Ganze nicht mehr so wichtig, da wir die meisten Bedrohungen bereits kennen oder beigebracht bekommen", sagt van Rooij. Inzwischen sei sogar fast das Gegenteil der Fall: "Die Überreaktion auf stressige Reize, während man sich gar nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet, kann extrem hinderlich sein. Zum Beispiel, wenn man in einer sicheren Umgebung an ein Trauma erinnert wird."

Auch Smith geht es so. Seine Angst vor dem Tod ist zwar weg, aber er kann immer noch Gefahren erkennen – indem er Situationen bewusst wahrnimmt und analysiert. Er nennt das seine "logischere Version" von Angst. Smith ist sogar vorsichtiger geworden, seit er mehr über potenzielle Gefahren nachdenkt. 

"Die Furchtlosigkeit ist super."

"Ich will natürlich immer noch keine Fehler machen", sagt er. "Und ich verspüre immer noch den Wunsch, körperliche Schäden zu vermeiden."

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Smith sagt, er sei seit der Operation extrovertierter und gesprächiger. Auch sein Ekelempfinden sei auf ein Minimum geschrumpft: "Früher machte ich mir die ganze Zeit Sorgen, mir irgendwie die Hände schmutzig zu machen. Heute denke ich mir einfach: 'Das wäscht sich schon wieder ab.'" Anders gesagt: Smith geht es besser denn je. "Die Furchtlosigkeit ist super", sagt er. "Die OP hat sich nur negativ auf mein Gedächtnis und meine Konzentration ausgewirkt." 

Brauchen wir die rechte Amygdala also überhaupt? Verursacht dieses Stück weiße Substanz vielleicht mehr Probleme, als es löst, wenn es jedes Mal, wenn es im Flugzeug zu leichten Turbulenzen kommt oder wir vor fremden Menschen eine Präsentation halten müssen, den Panikknopf drückt und das Gehirn mit Stresshormonen überschüttet? Sind wir – wie Smith – ohne diesen ängstlichen Teil unseres Gehirns besser dran?

Um diese Fragen in dieser Reihenfolge zu beantworten: ja, vielleicht und wahrscheinlich nicht. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen einer ordentlich funktionierenden Amygdala und einem gestörten neuronalen Angstsystem, wie bei Epilepsie-Patienten oder bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen.

In solchen Fällen ist die Entfernung eines Glieds aus der Angstkette besser als die Alternative. Für alle anderen ist es wahrscheinlich besser, wenn die Angstreaktion intakt bleibt.

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