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Cocktail-Kultur

Einen guten Cocktail-Bitter macht man aus Tränen

Wenn man beim Feiern anfängt zu weinen, ist das eigentlich ein schlechtes Zeichen. Das British Museum of Food zeigt Cocktailliebhabern, wie sie aus ihren eigenen Tränen Drinks zaubern können.
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Dieser Artikel ist zuerst auf Broadly US erschienen. Like Broadly auf Facebook, wenn du den Start in Deutschland nicht verpassen willst.

Es ist spät am Abend und nasskalt draußen. Meine Augen sind geschwollen und brennen, mein Zug hat Verspätung. Ich bin müde und ehrlich gesagt fühle ich mich ein bisschen weinerlich. Betrunkene ziehen an mir vorüber. Ich halte eine eine wunderschön eingepackte Box umklammert, in der sich zwei antike braune Phiolen befinden. Darin versteckt: meine eigenen Tränen.

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Die letzten zwei Stunden habe ich in einem dunklen Raum verbracht, ganz in Schwarz gekleidet, und aus meinen eigenen Tränen Cocktail-Bitters hergestellt. Der „Bitter Tears" Workshop von Sam Bompas und Harry Parr ist Teil ihrer außergewöhnlichen Cocktailbar Alcoholic Architecture. Im neu eröffneten British Museum of Food kann man bei dieser Veranstaltung alles über die Geschichte von Pflanzenextrakten als Tinkturen und die Bedeutung des bitteren Geschmacks erfahren und dieses Gefühl der Verbitterung am eigenen Leib erleben.

Im Laufe des Abends werden wir zwei Fläschchen mit eigenen Cocktail-Bitters herstellen, nicht nur einfach aus pflanzlichen Aufgüssen, sondern mit einer besondern Note: unseren eigenen Tränen. Die Veranstalterin erzählt mir, dass wir heute das ultimative Geschenk kreieren: „Schenke dich selbst!"

Cocktail-Bitter, diese kräutrigen Auszüge, die in Cocktails gegeben werden, um ihnen einen gewissen Kick zu verleihen. Klassisch im Manhattan oder im Old Fashioned. Die schmuddelige Flasche, auf der kaum noch lesbar Angostura draufsteht, und aus der der Bartender fast mystisch wie bei einem Zaubertrank vier Tropfen in dein Glas träufelt. Ursprünglich wurden sie als Medizin verwendet, um bei Verdauungsproblemen Abhilfe zu schaffen und allgemein das Wohlbefinden anzuheben. Mit Alkohol ließ sich der Pflanzensaft auch gleich besser schlucken. Irgendwann wurde dann aber der ursprünglich rein medizinische Nutzen zur Nebensache und man gönnte gern noch einen kräftigen Extra-Schluck—ist ja gesund. Heute kehren wir aber zu den Wurzeln der Bitters aus Pflanzen zurück: Sie sollen unsere Seele reinigen und erfrischen.

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Da stehe ich also nun inmitten eines Raumes, der nur von weißen Kerzen erhellt wird. Vor mir stehen Becher und Tassen gefüllt mit allen möglichen Pflanzenrinden und -wurzeln. Unser Host heute Abend ist Iska Lupton, großgewachsen und wunderschön. Auch sie ist ganz in Schwarz gekleidet und gestikuliert wie wild mit ihren Armen, während sie spricht und uns die Geschichte der Bitterkeit in all ihren Facetten und der Tränen erzählt.

Iska Lupton leitet den „Bitter Tears" Workshop

Die kulturelle Geschichte der Bitterkeit ist lang und düster. Meist verbindet damit automatisch etwas Negatives. Selbst in der Natur ist das so: Unsere Geschmacksknospen nehmen Bitteres viel stärker wahr als zum Beispiel Salziges oder Saures, weil Bitteres in der Natur meist giftig ist.

Und das sieht man auch in der Psychologie: Bitterkeit ist nicht eine der „typischen" sieben Basismotionen, wie sie der Vorreiter der Psychologie, der Amerikaner Paul Ekman, beschrieben hat: Überraschung, Verachtung, Freude, Traurigkeit, Wut, Ekel und Angst. Eher eine Mischung aus allen Emotionen mit Ausnahme der Freude. Für Ekman ist Bitterkeit die Grundlage für Hass.

In der deutschen Sprache hat Bitterkeit vor allem etwas mit Groll und Verdruss zu tun. Für viele Psychologen ist dieses Gefühl extrem gefährlich und kann Beziehungen zerstören. Um diese Wunden zu heilen, muss die Bitterkeit von innen nach außen gekehrt werden und eine Möglichkeit das zu tun, ist zu weinen.

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Es gibt drei Arten von Tränen: Basale Tränen befinden sich fast immer auf unserer Netzhaut, damit diese auch gut befeuchtet ist. Reflextränen werden produziert, wenn wir äußeren Reizen wie zum Beispiel Staub ausgesetzt sind. Bei den emotionalen Tränen schließlich sind die Ursachen nicht hundertprozentig geklärt. Das, so erklärt man mir, ist der Heilige Gral der Tränen.

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Normalerweise bringt mich so schnell nichts zum Weinen, aber heute bin ich fest entschlossen: Ich werde weinen! Und wenn irgendwie möglich, werden das emotionale Tränen sein, die ich dann in meine Phiolen abfüllen kann.Tränengefäßewerden schon in der Bibel erwähnt. In Psalm 56:8 betet David zu Gott: „Zähle die Wege meiner Flucht; fasse meine Tränen in deinen Krug." Der Legende nach haben die Frauen während des amerikanischen Bürgerkrieges ihre Tränen in Fläschchen abgefüllt und ihren Liebsten geschickt. Aber Tränen für den Cocktail? Das ist was Neues.

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Die Autorin nimmt ein paar Geruchsproben

Nach dem kurzen Vortrag bekomme ich eine Pipette, ein Reagenzglas und zwei braune Glasfläschchen in die Hand gedrückt. Um mich herum stehen zehn Frauen und zwei Männer. Die beiden Herren der Schöpfung stehen da voller Tatendrang, aber irgendwie auch zurückhaltend, als hätten sie die Cocktailparty eines Hexenzirkels gesprengt. Ab jetzt habe ich 50 Minuten Zeit, um ordentlich zu heulen.

Um den Tränenfluss zu erleichtern, helfen uns die Veranstalter mit einer Reihe von sogenannten „Erfahrungen". Zuerst sitze ich unter einem schwarzen Stück Stoff und höre Musik. Das sind die Songs, die sich Bompas & Parr für ihre eigene Beerdigung wünschen. Ich bekomme Nirvana, Radiohead und irgendein Streicherquartett auf die Ohren. Depressiv, gruftig, sanft. Ich nicke zustimmend mit dem Kopf—aber keine Tränen.

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Der Raum der Schmetterlinge

Weiter zu Erfahrung Nummer zwei: Der Raum der Sinne. Zuerst bin ich einem quadratischen Raum, wo kleine Schokotröpfchen ausliegen. Ich soll mir eines nehmen und mich voll auf den Geschmack konzentrieren. Ich esse fünf und gleich noch mal fünf. Meine Gedanken driften ab. Weiter zum Raum der Schmetterlinge, wo an der Decke zahlreiche Schmetterlinge umherflattern. Ich versuche, an die Vergänglichkeit des Lebens zu denken … Nein, wieder nichts, und das obwohl es ziemlich warm ist und ich anfange zu schwitzen. Schnell raus hier, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Langsam mache ich mir auch Sorgen, dass offensichtlich irgendwas mit meiner Gefühlswelt nicht stimmt. Bin ich zu kalt?

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Mit einem starken Cocktail in der Hand schaue ich mir so an, wie weit die anderen schon gekommen sind. Um mich herum überall schöne Frauen mit Pipetten—ich wette, die können alle wunderbar weinen. Hoffentlich werde ich nicht die eklige Rotznase der Gruppe sein, wo ich mich doch mit einer fetten Erkältung plage.

Warum wir weinen—also körperlich—, wird schon lange diskutiert. Weinen ist vielleicht ein soziales Signal oder dient der Beruhigung, man weiß es einfach nicht. Erstmalig wurde Weinen auf Steintafeln der Kanaaniter erwähnt, also im 14. Jahrhundert vor unserer Zeit, so Literaturkritiker Tom Lutz. Darin wird die Göttin Anat erwähnt, die den Tod ihres Bruders, des Erdgottes Ba'al, beweint. „Sie hat sich an ihrer Trauer gelabt und Tränen wie Wein getrunken." Oh, das passt perfekt zu meinem Plan: Aus der Bitterkeit soll Vergnügen werden, oder zumindest aber ein guter Drink.

Doch da ist immer noch ein Problem: Ich habe immer noch nicht geweint. Iska Lupton meint, ich soll trotzdem schon mal die Basis für meinen Cocktail-Bitter zusammenstellen. Ich entscheide mich für eine starke Grundnote Grapefruit, dazu ein wenig Enzian, Kardamom, Kümmel und viel, viel Nelke.

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Der „Notfalltisch" mit Zwiebeln

Die Zeit ist fast vorbei, eine Zutat fehlt noch. Ich gehe zum „Notfalltisch", nehme mir das Messer und schneide eine perfekt geformte Zwiebel damit auf. Ich atme tief ein und gehe sogar so weit, mir ein bisschen vom Zwiebeldunst in die Augen zu wehen. Von einem Stück ziehe ich die feine Membran ab und reibe mir damit die Augen. Der Schmerz ist unerträglich und ich breche in Tränen aus. Ein breites, triumphierendes Grinsen erfüllt mein Gesicht. Schnell versuche ich, an etwas Trauriges zu denken: ein kleines Kätzchen allein auf der Autobahn, die weltpolitische Lage, die globale Erwärmung und die Tatsache, dass ich nie einen Preis in der Schule gewonnen habe.

Ehrlich gesagt bin ich eher fröhlich. Ich fange die Tränen mit meiner Pipette auf und gebe sie auf den letzten Drücker in die kleinen Fläschchen. Mit denen im Gepäck werden wir dann wieder auf die kalten, dunklen, nassen Straßen Londons geschickt.

Nachtrag: Fünf Tage später, nachdem mein Liebster langsam den Ekel vor „Schenke dich selbst" überwunden hatte, darf ich uns endlich ein paar Old Fashioned machen. Ob das gut geschmeckt hat? Na ja, ich mache durchschnittlich gute Cocktails, also war das jetzt nicht so schrecklich. Er meinte aber, dass es so einen kratzenden, strengen Nachgeschmack gab. Ah, er wird mich schon noch vermissen, wenn ich nicht mehr da bin.