Menschen

Darum schiebst du Zeug auf, das du in zehn Minuten erledigt haben könntest

Prokrastination hat weniger mit Zeitmanagement als mit deinen Gefühlen zu tun.
Ein schwarzer Mann am Schreibtisch, der auf sein Handy schaut und prokrastiniert. Mit unseren Ratschlägen lernst du, wie du seltener Aufgaben aufschiebst
Collage: VICE staff | ImageGetty

Letztens habe ich bei Twitter Leute gefragt, wann sie mal eine Aufgabe aufgeschoben haben, die eigentlich schnell erledigt gewesen wäre. Ich konnte mich vor Mentions kaum retten. Ein paar Beispiele:

  • "Im Februar habe ich neue Passfotos machen lassen. Seitdem liegen sie in meiner Schublade, weil ich mich nicht aufraffen konnte, einen Termin beim Amt zu machen."
  • "Ich habe gestern eine Glühbirne von der Außenbeleuchtung am Haus ersetzt. Ich habe insgesamt drei Minuten dafür gebraucht. Die alte war seit zwei Jahren kaputt."

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Egal, ob du deinen Pflanzen wochenlang beim Leiden zuschaust, bevor du sie umtopfst, oder deine Hausarbeiten aus Prinzip in der Nacht vor dem Abgabetermin schreibst: Menschen prokrastinieren so ziemlich alles.

Aber warum? Warum machen wir uns nicht einfach sofort an unsere Aufgaben, wenn uns durch das Aufschieben nur Probleme entstehen?

Joseph Ferrari ist Psychologiedozent an der DePaul University in Chicago und hat das Buch Still Procrastinating? geschrieben. Er sagt, dass Prokrastination lange Zeit als Zeichen von Faulheit oder schlechter Selbstorganisation angesehen worden sei. In Wahrheit handele es sich dabei aber um eine Vermeidungsstrategie.

"Die meisten Menschen verstehen Prokrastination als Zeitmanagement-Problem. So sieht es auf den ersten Blick ja auch aus", sagt Fruschia Sirois, die an der University of Sheffield zu Prokrastination forscht und an dem Buch Procrastination, Health, and Well-Being mitgearbeitet hat. "Aber es hat gar nicht viel mit Zeitmanagement zu tun, sondern viel mehr mit Gefühlsmanagement."

Hier sind ein paar Gründe, warum wir auch relativ einfache Aufgaben meiden, und was wir dagegen tun können.


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Du schiebst eine Sache auf, weil es keinen Grund gibt, sie nicht aufzuschieben

Prokrastination kann negative finanzielle, persönliche oder berufliche Konsequenzen haben. Manchmal aber auch irgendwie nicht. Nehmen wir einen abgelaufenen Personalausweis. Eigentlich müsstest du nur einen Termin beim Bürgeramt machen und die Sache wäre erledigt. Aber wenn du dich gerade aufgrund der Pandemie eh nicht viel bewegst, warum die Eile?

Ferrari weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft uns nicht dafür belohnt, Dinge früher zu tun. Wenn man Steuern nachzahlen muss, könnte das Finanzamt auch sagen: "Wenn Sie vor dem 15. September zahlen, wird Ihnen ein Teil erlassen."

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Tim Pychyl, Psychologe an der Carleton University und Leiter der Procrastination Research Group, sagt, dass es helfen könne, die erledigten Aufgaben zu feiern. "Wir müssen uns auf die guten Gefühle konzentrieren, die wir haben, wenn wir unser Ziel erreichen."

Es klingt vielleicht altbacken, aber selbst wenn du keine To-Do-Liste hast, solltest du dir die Dinge aufschreiben, die du erledigt hast – oder die, die du anfängst. Hake sie ab und verbuche sie als Erfolg für den Tag. Das positive Gefühl kann dir dabei helfen, mehr zu schaffen. Pychal sagt: "Es gibt dir das Gefühl effizient zu sein."

Und es gibt noch mehr gute Neuigkeiten: "Es gibt dann eine Aufwärtsspirale. Fortschritte fördern unser Wohlbefinden und unser Wohlbefinden führt zu weiteren Fortschritten."

Etwas an der Aufgabe selbst hält dich davon ab, sie zu machen

"Prokrastination ist eine Vermeidungsstrategie", sagt Sirois. "Was mache ich, wenn ich mit Papierkram unangenehme Gefühle verbinde? Ich schiebe ihn auf und schon fühle ich mich besser." 

Auch Unsicherheit sei ein gängiger Auslöser von Prokrastination. Wenn eine Aufgabe für uns neu ist oder sich besonders wichtig anfühlt, gehen wir sie weniger gerne an. Hier greift eine einfache Regel: Weniger Selbstbewusstsein führt zu mehr Vermeidung.

Vielleicht schiebst du die Aufgabe auch auf, weil du dir Sorgen darüber machst, wie andere dich dafür bewerten. Der gesellschaftliche Selbstwert ist laut Ferrari nicht zu unterschätzen. "Menschen ist es extrem wichtig, was andere über sie denken." Und tendenziell bevorzugten sie es, dass andere von ihnen denken, dass sie sich nicht genug Mühe gegeben haben, und nicht, dass es ihnen an Fähigkeiten mangelt. 

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Diese Versagensangst kann dich davon abhalten, die Sache überhaupt anzugehen – selbst wenn es sich nur um eine Mini-Aufgabe handelt, wie auf eine E-Mail zu antworten oder eine SMS zu schreiben. Und andersherum, falls du bisher gute Arbeit geleistet hast: Was ist, wenn du das Niveau nicht aufrechterhalten kannst? Was, wenn du es das nächste Mal nicht so gut hinkriegst?

Vielleicht macht die Aufgabe aber auch einfach keinen Spaß. Laut Sirois sind Menschen generell auf Genuß aus. Deswegen schieben wir Sachen auf, selbst wenn sie schneller erledigt wären, als die Friends-Folge zu gucken, die wir schon fast auswendig kennen.

Du versuchst ein emotionales Problem rational zu lösen

Viele Gründe dafür, warum wir Dinge aufzuschieben, haben eine Sache gemein: Sie sind mit negativen Gefühlen verbunden. Im Kern sei Prokrastination, sagt Pychyl, eine "gefühlsgeleitete Bewältigungsstrategie".

Allerdings beinhalten viele Ratschläge für Prokrastinierende rationale Lösungen: Teil die Aufgabe in kleine Blöcke auf, arrangiere deinen Zeitplan neu, geh spazieren, schließe die 47 Tabs in deinem Browser. Diese Tipps können manchen Menschen auch tatsächlich helfen.

Das große Problem ist allerdings, dass es sich hier um rationale Lösungen für eine irrationales, emotionales Problem handelt. Sirois sagt, man könne sein Umfeld zwar so gestalten, dass es weniger anfällig für Prokrastination sei, die Lösung sei das aber nicht. Stattdessen solle man diese Tipps als Gerüst benutzen, von dem aus man weiter arbeitet.

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Wenn es dir für eine bestimmt Aufgabe an Selbstbewusstsein mangelt, hilft es laut Sirois sicherzustellen, dass du alle Informationen und Ressourcen hast, die du dafür brauchst. Ist die Aufgabenstellung eindeutig? Hast du noch Fragen? Wenn du dich bereits am Anfang schlecht vorbereitet fühlst, ist die Motivation weiterzumachen entsprechend gering.

Wenn du dich um diese Dinge gekümmert hast, wird dir auch der Anfang leichter fallen. Und denke vor allem nicht zu viel über die Aufgabe nach, sonst kann sie in deinem Kopf zu etwas viel Größerem werden, als sie eigentlich ist.

Du steckst in der Schamspirale

Prokrastinierende sind laut Sirios oft eher hart zu sich selbst. Sie denken, dass außer ihnen niemand prokrastiniere und die Aufschieberei sie selbst zu furchtbaren Menschen mache. Aber: "Niemand sonst denkt das! Du treibst dich nur selbst an, du verstärkst die negativen Emotionen."

Die Selbstkritik führt vor allem dazu, dass du die Aufgabe noch mehr vermeiden willst. Am Ende denkst du vielleicht mehr über das Aufschieben nach als die Aufgabe selbst. Dieses Muster nennt sich auch "prokrastinierende Wahrnehmung", deine Gedanken drehen sich primär um die eigene Aufschieberei.

Sirois sagt, dass Menschen sich in so einem Fall schnell fragen: "Was stimmt nicht mit mir?" Das löst das Problem allerdings nicht und liefert auch keine echten Erkenntnisse. Stattdessen solle man sich fragen: "Warum tue ich mich mit dieser Aufgabe so schwer?"

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Du fragst nicht nach Hilfe

Prokrastinieren ist fast immer eine Schlacht, die du alleine kämpfst. Aber alle tun es. Das heißt, du kannst mit anderen immer darüber sprechen: "Erkenne, dass du nicht die erste Person bist, die etwas aufschiebt – und garantiert auch nicht die letzte", sagt Sirois. "Ich finde es sehr wichtig, es zu normalisieren und dem Aufschieben die Schuld und Scham zu nehmen, die Betroffene oft verspüren."

Wenn die Aufschieberitis bei dir so regelmäßig auftritt, dass sie dich in deinem Privat- und Berufsleben einschränkt oder davon abhält, deine Ziele zu erreichen, solltest du dir vielleicht professionelle Hilfe suchen. Chronisches Aufschieben kann auch ein Symptom von Angststörungen, Depressionen oder einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sein.

Darüber zu reden, kann so oder so bei der Bewältigung helfen. Eine Studie, an der Sirois mitgearbeitet hat, kam zu dem Ergebnis, dass sozialer Support einen Teil des durch das Aufschieben verursachten Stresses wegnehmen kann. Du kannst dir emotionale Unterstützung suchen – und dir praktische Hilfe holen: "Hast du das schon mal gemacht? Kannst du mir ein paar Ratschläge geben?"

Natürlich gibt es einen Haken: Wenn du zu denen gehörst, die eine negative Sicht auf Prokrastination verinnerlicht haben, ist es umso schwerer, jemanden um Hilfe zu bitten. Sei nicht so streng zu dir. Erwarte auch nicht, dass du deine Tendenz zur Prokrastination mit dem Lesen dieses Artikels bewältigt hast. Gib dir Zeit, sonst prokrastinierst du nur umso mehr.

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