FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Wie können wir mit der Bluttat in Ottakring umgehen?

Ein illegal in Österreich lebender Kenianer zertrümmert einer Frau, die er nicht mal kannte, mit einer Eisenstange den Kopf. Wie geht man mit so einer Tat um?
Foto: Wikipedia | Plani | CC BY-SA 3.0

Es ist der 4. Mai 2016, 9:30 Uhr. Ich liege auf meiner Couch, trinke einen Kaffee, hab mein McBook Air auf dem Schoß und überlege, wie es wäre, wenn man alle Asylbewerber aus dem Land werfen würde. Sieben Stunden zuvor hat ein Mann einer Frau am Yppenplatz, 600 Meter Luftlinie von der Couch, auf der ich gerade liege, mit einer Eisenstange den Schädel zertrümmert. Der Nigerianer kannte die Frau nicht, sein Asylantrag war abgelehnt worden, er hielt sich illegal im Land auf. Das 54-jährige Opfer hatte nichts getan, es wollte einfach nur zu seinem Job als Reinungskraft in einem Wettbüro.

Anzeige

Ich bin rasend wütend. Ich sehe mich als einen politischen, relativ gut informierten Menschen. Aber ich bin eben auch ein Mensch. Ich wohne in der Gegend, habe Freunde, Schwestern, eine Mutter, einen Bruder. Ich lese die Biographie des Täters: 21 Jahre alt, seit sechs Jahren in Österreich, wegen mehreren Delikten überführt, zwei Mal verurteilt. Asylantrag abgelehnt, seitdem illegal im Land. Ja, so etwas macht rasend. Ich stelle mir vor, wie befriedigend es wäre, das Gesicht des Täters ebenso mit einer Eisenstange zu bearbeiten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich schreibe in einen Chat: "Warum hat man den nicht eingesperrt? Warum nicht abgeschoben?" Was ich aber auch ein bisschen denke: Warum sperrt man sie nicht alle ein? Warum schiebt man sie nicht alle ab? Ich schäme mich dafür. Ich weiß, das sollte ich nicht denken.

Es ist knapp 14:00 Uhr. Ich habe mittlerweile gehört, dass der Täter offenbar schwerst psychisch krank ist und noch nicht vernommen werden konnte. Aus dem Nigerianer ist mittlerweile auch ein Kenianer geworden. Das ist zwar das andere Ende von Afrika, aber kann ja mal passieren. Ist immerhin nicht Europa oder Amerika und irgendwie schauen die ja auch alle gleich aus. In den Medien kommen immer mehr grausige Details der Tat ans Licht. Die Boulevardmedien vermengen den Fall mit dem Sexualvergehen an einer 17-Jährigen in Linz und der brutalen Vergewaltigung einer 21-jährigen Studentin durch drei afghanische Asylbewerber am Praterstern.

Anzeige

Ich lese die Statistiken, denen zufolge es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Zahl an Sexualvergehen 2016 bislang signifikant gestiegen ist. Ich denke an Statistiken, denen zufolge Asylbewerber weniger kriminell sind als Einheimische. Ich denke an die Studentin, deren Kopf gegen die Kloschüssel gedonnert wird, während sie vergewaltigt wird. Ich lese die Statistiken. Und ich erwische mich dabei, dass irgendwo in mir ein Restzweifel bleibt, ob diese wirklich stimmen können. Wütend bin ich immer noch.

Wie kann man auf solche Taten antworten, ohne den Boden der Vernunft zu verlassen?

Der Nachmittag schreitet voran. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass der Täter offenbar nie Asyl beantragt hat, aber auch das kann ja mal passieren. Ich lese irgendwo, dass es schon 2014 eine Raubserie in Wien-Favoriten gab, bei der ein 21-jähriger Rumäne mit einer Eisenstange Frauen aufgelauert und sie krankenhausreif geprügelt hat. Davon hatte ich bislang nicht gehört. Ist ja auch ein Europäer, der nicht gleich ausschaut wie alle anderen. Insgeheim weiß ich natürlich, warum die Attacke eines Schwarzafrikaners im Wien Anfang 2016 mehr Aufmerksamkeit bekommt als die eines weißen Rumänen zwei Jahre zuvor. Ich wische das innerlich weg. Das macht es doch nicht besser, oder?

Auf Facebook postet Falter-Chefredakteur Florian Klenk mehr Infos zu dem kenianischen Tatverdächtigen, der auf einmal Francis N. heißt. Er wurde zwei Mal rechtskräftig verurteilt, saß zwei Monate ab, ging bereits im Juni 2015 mit einer Eisenstange auf einen Passanten los. Die Anwohner hatten Angst vor dem obdachlosen, psychotischen Mann, dem sich keiner annehmen konnte oder wollte, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen und ihm gleichzeitig zu helfen. In den sozialen Medien sagen viele, die den Yppenplatz kennen, dass Francis N. den Leuten vor Ort bekannt gewesen wäre, aber niemand etwas getan hätte. Ein Behördenversagen. Ein Anwohner schreibt unter den Text von Klenk, dass eine am Tatort anwesende Polizeibeamtin jetzt den Job wechseln will, weil die Bilder des Tatorts zu grausam waren.

Anzeige

MOTHERBOARD: Dieses Wiener Start-up sammelt Geld für eine Refugee-Unterkunft

Es ist früher Abend. Den ganzen Tag tobte die Debatte vor allem im linksliberalen Milieu, weil man dort erstens mehr Skrupel hat und zweitens nach solchen Taten die Befürworter eines liberalen Asylrechts immer das Gefühl haben, sich präventiv gegen Vorwürfe wehren zu müssen: Hättet ihr nicht die Stimmung erzeugt, durch die dieser Mann ins Land kommen konnte, wäre die Reinungskraft heute noch am Leben. Die Grünen haben Pressemitteilungen ausgesendet, Peter Pilz hat etwas zu "Law & Order" gepostet. Sie mussten auch schnell reagieren, weil wohl die Angst besteht, solche medienwirksamen Taten können dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer in der Stichwahl zum Bundespräsidenten helfen.

Die Gewaltat von Ottakring oder die Vergewaltigung vom Praterstern werfen Fragen auf, die einer Antwort bedürfen. Wo haben die Behörden versagt? Wo fehlen ihnen Ressoucen? Wer hätte das verhindern können, und zu welchem Preis? Wie kann man das in Zukunft verhindern? Wie kann eine Gesellschaft darauf antworten? Und wie schafft man es, dass ihre Mitglieder zivilisierte, angemessene Antworten geben?

Das ist nicht so leicht, wie es sich auf den ersten Blick liest. Allen Menschen mit ein bisschen Empathie dreht sich bei solchen Verbrechen der Magen um. Und es ist auch normal, dass der Mensch in seinen Reaktionen erstmal reflexartig überzieht. Das Schlimme ist nicht, wenn man im ersten Moment "Alle abschieben!" denkt. Schlimm wird es erst, wenn man diese Gedanken nicht mehr reflektiert—und bei ihm bleibt.

Anzeige

Zivilisation heißt: Statistiken mehr zu glauben als meinem Hausverstand.

Man kann nicht jedes dieser Verbrechen verhindern. Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Die Polizei kann nicht überall sein. Totale Sicherheit gibt es nicht. Der Mensch in seinem Naturzustand ist ein Gewaltwesen, ein Tier. Wir alle haben diese Triebe: Wut, Egoismus, Rache. Wenn mich jemand auf der Straße blöd angeschaut, ist es mir in zwei von drei Fällen egal. In einem von drei würde ich gerne hingehen und ihm irgendwas durchs Gesicht ziehen. Aber der Mensch ist nicht mehr im Naturzustand. Er hat sich Gesellschaftsverträge gegeben, wie es die großen Theoretiker des 18. Jahrhunderts nannten. Ich töte meinen Nachbarn nicht, weil ich darauf vertraue, dass der Staat dafür sorgt, dass er mich auch nicht tötet. Der Mensch hat sich zivilisiert.

Zivilisation heißt eben auch: Statistik schlägt Einzelfall, so schlimm der Einzelfall auch sein mag. Zivilisation heißt: Durchzuatmen, bevor man voreilige Schlüsse zieht. Zivilisation heißt auch: Neun schwarzhaarigen Arschlöchern nacheinander zu begegnen, und deshalb das zehnte trotzdem nicht als Arschloch zu sehen, wie es Sascha Lobo vor ein paar Wochen ausdrückte.

Die Decke der Zivilisation ist dünn. Auch in mir steckt ein Wolf, der dem Menschen ein Wolf ist. Ich kämpfe jeden Tag dafür, zivilisiert zu sein. Nicht in Vorurteile zu verfallen. Der Statistik mehr zu glauben als meinem Hausverstand. Meistens gelingt es mir. An Tagen wie diesem ist das schwieriger als an anderen. Aber es hat auch niemand behauptet, dass es einfach sein würde.

Es ist spätabends. Ich denke an an den Druck, den die Medien jetzt aufbauen müssten, um eine Veränderung in den Behördenwegen zu erreichen. Ich denke an die Frau, die ihr Leben lassen musste, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. An Francis N. denke ich nicht mehr. Ich mache mich auf den Weg zu einem Treffen. Mein Weg wird mich über den Yppenplatz führen. Ich bin nicht mehr wütend.

Der Autor ist auf Twitter: @L4ndvogt