Drogen

Silvester muss meinetwegen nie wieder so werden, wie es einmal war

Man hetzt von Party zu Party, steht in vollen S-Bahnen und kotzt am Ende aufs Büffet.
Die Überreste einer Silvesterparty Eine leere Verpackung von Feuerwerkskörpern liegt neben abgebrannten Feuerwerkskörpern
Foto:  IMAGO / Mike Schmidt

In Berlin ist Silvester schon deswegen stressig, weil man ausnahmsweise bereits um Mitternacht irgendwo sein muss. An normalen Wochenenden sitzt man da noch in WG-Küchen und trinkt Wein aus Tetrapaks. Der Club macht eh erst um 1 Uhr auf und die Kneipe 24 Stunden lang nicht zu. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, warum Silvester so nervig ist und es mir null weh tut, dass Corona uns nun schon zum zweiten Mal die Party stiehlt.

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Denn selbst wenn wir das Vorglühen auf den Nachmittag vorverlegt haben, um uns schon um 23 Uhr auf der Party des Bruders einer Kommilitonin unserer Mitbewohnerin ein Glas teuren Whiskeys aus der mittelmäßig versteckten Minibar stehlen zu können, ist das alles purer Stress.

Im Grunde ist Silvester nämlich ein schreckliches Fest. Alle wollen alles auf einmal. Jedes Jahr feiern tausend Menschen tausend Partys, was zusammen eine Million Silvesterpartys macht, bei denen man sich verpflichtet fühlt, auf jeder einzelnen ein Glas guten Whiskeys zu klauen. 

Leider ist es auf der ersten dieser Partys immer am besten, weswegen man sich ein zweites Glas nimmt, mit dem Gastgeber verquatscht, den Zeitplan zerstört und diejenigen in der Reisegruppe düpiert, die doch noch zur Party ihrer besten Freundin wollten: "Wir hatten gesagt nur eine halbe Stunde!" Also trennt sich die Gruppe, um sich um "Punkt 12 Uhr" dann auf dieser einen Brücke in Kreuzberg zum Anstoßen zu treffen. Was nie klappt.

Silvester verbringen Menschen, die in größeren Städten leben, also zum größten Teil in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das geht allen so, weswegen U- und S-Bahnen gnadenlos überfüllt sind. Und am Ende geht die Nacht vor allem deswegen so lang, weil man auch dem letzten Arbeitskollegen noch zugesagt hatte, auf seiner Party vorbeizukommen, auch wenn es mittlerweile 4:30 Uhr ist und die Party nur noch aus dem Gastgeber besteht, der gerade mit seiner Mitbewohnerin bumst, und dessen besten Kumpel, der bereits auf dem Sofa eingepennt ist.

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Also frustriert nach Hause, schlaf- und volltrunken durch die Stadtviertel wanken, die noch hellwach sind. Denn nicht umsonst ziehen Medien gerne Kriegsvergleiche, wenn sie über den Böllergebrauch bestimmter Gegenden schreiben. Und auch, wenn Kriegsvergleiche immer pietätlos sind – tatsächlich will man in dieser Zeit nicht in Neukölln sein. Hier regnen Böller auf Passanten und Raketen fliegen auf Autos. Schreckschusspistolen knallen um dich herum und du weißt nie, ob du nicht ins Kreuzfeuer eines D-Böller-Gefechts marodierender Jugendbanden gerätst. 

Als Kind war Silvester ein magisches Fest

Warum sind wir überhaupt bereit, uns diesen Stress anzutun? Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in unserer Kindheit. Damals war Silvester die Nacht, in der wir lange aufbleiben durften. Es gab kein Limit. Während meine Mutter im Wohnzimmer mit ihren Freunden feierte, durften mein Bruder und ich und all die Kinder, die die alleinerziehenden Freundinnen meiner Mutter mitgebracht hatten, so lange fernsehen, bis es Zeit wurde, Dinge in die Luft zu jagen. 

Silvester war eine magische Nacht, in der gesellschaftliche Konventionen außer Kraft gesetzt schienen. Gesellschaft setzte ich damals nämlich mit dem streng willkürlichen Regime meiner Mutter gleich. Plötzlich schien alles möglich. Terminator 2 um 22:15 Uhr? Klar! Zwischendurch gab es fettiges Fingerfood. Das Ende des Films verpassten wir, denn um 00 Uhr wie gesagt: Böllern. Danach, wenn die Eltern genug geböllert hatten und weiter ballern wollten, ging es zurück vor den Fernseher, wo wir dann heimlich das Nachtprogramm des Privatfernsehens schauten, das uns durch die einsamen Nächte des neuen Jahres tragen würde.

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Wie kann man eine solche Nacht nicht überhöhen? Das kriegt man nicht aus sich raus, selbst wenn man plötzlich erwachsen und die erzieherische Willkür einer Anarchie gewichen ist, die nur durch die eigene Selbstdisziplin im Zaum gehalten wird – also oftmals gar nicht.

Pünktlich zur erreichten Volljährigkeit gab es dann plötzlich keine Regeln mehr. Irgendwer aus unserer Gruppe frustrierter Dreiviertelstarker hatte deswegen immer zu viele Böller dabei. Schon weil wir feiern mussten, dass die Beschränkungen von damals nicht mehr galten. Die Proliferation von Feuerwerkskörpern schritt voran. Einmal wollte ich Rambo spielen, zündete gleich zwei Chinaböller an, einen in der linken, einen in der rechten Hand, um sie dann beide bedeutungsschwanger in die Ferne zu werfen. Nur vergaß ich den linken – Körperkoordination war nicht mein größtes Talent, ich definierte mich über andere Dinge als meine Sportlichkeit, über Rambo zum Beispiel. Der Böller platzte in meiner Hand und ich verstehe bis heute nicht, warum ich noch alle Finger habe.

Ein anderes Mal war ich der Typ mit dem Rucksack voller Sprengkörper. Wir waren auf einer dieser Partys, für die man 25 Euro Eintritt zahlen musste, um dann ein minderwertiges Buffet vollkotzen zu können. Es war jedenfalls 00 Uhr, meine Freunde wollten böllern. Ich hielt mein unzusammenhängendes Gestammel aber gerade für einen sehr erfolgreichen Flirt, weswegen ich den anderen die Erlaubnis erteilte, meinen Kram zu verfeuern. 

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Nur vergaß ich das bald. Und als ich eine Stunde später selbst etwas zerstören wollte, Rambo und so, war alles weg. Ich war stinksauer, beschuldigte meine Freunde des Diebstahls und konnte kaum beruhigt werden. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich noch alle Freunde habe.

Mit dem erwachsenen Feiern von Silvester kam aber noch ein weiterer Faktor ins Spiel. Einer, der – das verstand ich aber erst später –, auch der Grund gewesen sein muss, warum meine Mutter in diesen Nächten ihre Freunde eingeladen hatte, um ohne Rücksicht auf sorgerechtliche Pflichten zu feiern: der Sex.

Wer ungeküsst nach Hause geht, hätte gleich dort bleiben können.

Ich weiß nicht, wer es sich ausgedacht hat, dass man an Silvester zu knutschen hat. Am besten um Punkt 12 Uhr, wenn die Sektkorken um dich herum, die Raketen über dir und die Böller in deiner Hand knallen, willst du einen Menschen im Arm halten und ihm deine kalten Lippen auf die seinen drücken, gern mit Zunge. 

Dieses Versprechen auf eine sexuelle Handlung begleitet jeden Jahresumbruch, als sei es ein Gesetz, an das sich alle zu halten haben. Wer ungeküsst nach Hause geht, hätte gleich dort bleiben können und das nächste Jahr kann sowieso nichts werden. 

Vielleicht ist es der Jahresumbruch selbst. Dieses Gefühl, Zeuge von etwas zu sein, das größer ist als du und ich. Das wollen wir teilen und weil die meisten Menschen nicht richtig kommunizieren können, stecken wir eben anderen die Zunge in den Hals, um unsere Ergriffenheit zu artikulieren. So wie der Soldat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Krankenschwester auf den jubelnden Straßen New Yorks küsste, küssen wir eben die letzte Person, mit der wir uns vorher einigermaßen nett unterhalten haben.

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Vor einigen Jahren bekam ich meinen obligatorischen Silvesterkuss erst lange nachdem die Feier vorbei war. Zufällig verließ ich gleichzeitig mit ihr die Party, wir hatten einen ähnlichen Heimweg, also unterhielten wir uns in der Bahn noch ein bisschen und machten irgendwann rum. Ich glaube nicht, dass sie wirklich mit mir rummachen wollte, ich glaube eher, dass sie das Gefühl hatte, dem Geist Silvesters und sich selbst gegenüber verpflichtet zu sein: Ungeküsst wollte sie nicht nach Hause. Und ich erst recht nicht. Wiedersehen wollte sie mich trotzdem nicht.

Geknutscht hatten wir aber und für einen kurzen Moment schien es so, als übertrüge sich das Versprechen dieser Nacht auf das kommende Jahr. Wenn ich schon heute – in der allerersten Nacht – knutsche, wie viel werde ich dann erst in den kommenden Nächten knutschen? Vielleicht ja sogar mit ihr, von der ich da noch nicht weiß, dass sie mich schon bald ghosten wird.

Vielleicht geht es an Silvester gar nicht darum, alles auf einmal zu haben, sondern um die Suche selbst. Der Weg ist das Ziel. Buh, wie ausgelutscht. Aber vielleicht muss sich in dieser Nacht voller Frustration und Stress eben alles einmal zeigen, was unsere Existenz ausmacht: harte Arbeit und langweilige Warterei, Ekstase und Frustration, Liebe und Enttäuschung, Sex und Drogen und Gefahr und Terminator 2

Vielleicht ist Silvester also doch ganz geil. Und vielleicht wäre ich doch sehr froh, wenn ich 2022/23 nicht wieder gemütlich und im engen Kreis zu Abend essen muss.

Wenn ihr Robert zu eurer Silvesterparty einladen möchtet, schreibt ihm auf Twitter und Instagram und VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.