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Gentrifizierung

Der Hiltl-Chef versteht dein Problem mit der Gentrifizierung der Langstrasse nicht

Rolf Hiltl sagt, er möchte Drogendealer und Prostituierte von der Strasse holen. Und somit die Langstrasse womöglich einschneidend verändern.
Foto links von Sarah Deniau; Foto rechts von VICE Media

Im September wird die Geschichte der Gastronomie an der Zürcher Langstrasse um ein Kapitel erweitert. Was im Normalfall niemanden wirklich interessiert – gefühlt wechselt an der Langstrasse fast jeden Monat ein Imbiss oder Kiosk den Betreiber – hat dieses mal eine andere Dimension: Die Vegi-Restaurant-Kette Hiltl eröffnet eine neue Filiale an der Langstrasse. Im Herzen der Langstrasse an der Ecke zur Brauerstrasse, wo sonst Transprostituierte das Strassenbild prägen, will Hiltl mit Räuchertofu und Rüebli-Ingwer-Saft der gehobenen Preisklasse eine Alternative zu Happybeck-Mozzarellagipfel und den unzähligen Dönerläden anbieten. "Wieso sollen aber neben den sonstigen Anwohnern nicht auch Junkies und Prostituierte gesundes Essen bekommen können?", erklärte Hiltl-Inhaber Rolf Hiltl 2014 sein Projekt gegenüber 20 Minuten.

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Dieses Statement kam nicht bei allen Leuten gut an, manche bezeichneten die Aussage als abschätzig gegenüber Randständigen an der Langstrasse, die sich das Essen nicht leisten können. Dass für den Neubau auch noch das Perla-Mode (ein ehemaliger Textilladen, der vom Künstlerkollektiv "Friction" als beliebter Kulturraum benutzt wurde) weichen musste, verstärkte die Abneigung von Anwohnern, Langstrassengängern und Gentrifizierungsgegnern noch mehr. Schon kurz nach dem Abriss des Perla-Mode und noch bevor überhaupt das Kellergeschoss des Neubaus stand, wurde die Fassade der angrenzenden Wand – fast schon als Warnung – mit Farbbeuteln beworfen.

Seit einigen Tagen ist das Gerüst um das neu gebaute Hiltl-Gebäude weg und die Mieter haben ihre Wohnungen mit Ausbaustandard im "gehobenen Durchschnitt" oberhalb des Restaurants bereits bezogen. Doch bevor nur ein Seitanschnitzel über die Theke ging, macht das Hiltl einen Einstand nach Mass und verprellt seine Anwohner mit einem das Sonnenlicht reflektierenden Aludach, das schlimmer blendet, als das Putzlicht deines Lieblingsclubs früh morgens. Nun versucht das Hiltl – das seine Lokale bisher im Kreis 1 und am Hauptbahnhof betreibt – bei den Leuten im Kreis 4 Pluspunkte zu sammeln, indem es gezielt Randständigen, Prostituierten und Drogendealern für die zu besetzenden Jobs sucht. Plakate in den Schaufenstern des Restaurants sollen auf die neue Mitarbeiterpolitik aufmerksam machen.

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Plakate zur Verfügung gestellt von ruflanz.ch

"Die Kampagne wurde bewusst im Neonröhrenschilder-Stil gestaltet, wie er charakteristisch ist für die Zürcher Langstrasse. Passend zur Botschaft, weicht die Tonalität bewusst von der Norm ab", erklärt Markus Ruf von der verantwortlichen Werbeagentur Ruf Lanz das Konzept gegenüber VICE. "Mit einzelnen Sujets werden darüber hinaus spezifische Zielgruppen der Zürcher Langstrasse angesprochen: beispielsweise Cabaret-Tänzerinnen oder Prostituierte, die aussteigen und in einem anderen Job Fuss fassen wollen", führt er weiter aus.

Wollen Prostituierte und Grasdealer wirklich bei Hiltl arbeiten? Werden alle Obdachlosen an der Langstrasse bald vegan? Stehen sich die Cappucino-Mums anstatt vor dem Hiltl im Kreis 1 bald an der Brauerstrasse die Füsse neben Prostituierten platt, um morgens die besten Plätze im Lokal zu ergattern? War Rolf Hiltl denn überhaupt schon mal an der Langstrasse? Um die Fragen, die das neue Hiltl an der Langstrasse aufwirft, zu beantworten, haben wir Rolf Hiltl gleich selbst gefragt.

VICE: Meint ihr das ernst mit der Kampagne oder existieren die Plakate, bei denen ihr Prostituierte und Grasdealer als zukünftige Mitarbeiter sucht, nur um euer Image an die Langstrasse anzupassen?
Rolf Hiltl: Wir meinen das ernst und unser Anliegen wurde von Ruf Lanz mit einer Prise Humor genial umgesetzt. In erster Linie wollen wir damit zeigen, dass wir auch Menschen eine Chance geben, die in unserer Leistungsgesellschaft Mühe haben. Dafür arbeiten wir mit verschiedenen Organisationen zusammen, die uns auch Leute vermitteln. Die soziale Verantwortung gegenüber der Gesellschaft ist immer mehr von den Unternehmen zum Staat gefallen. Wir wollen auch an der Langstrasse Verantwortung übernehmen. Die Kampagne soll das an unseren Schaufenstern an der Ecke Langstrasse/Brauerstrasse den Bewohnern und Passanten auch zeigen.

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Wird so nicht aus dem Elends-Image der Langstrasse Profit geschlagen? Manche Prostituierte werden womöglich nicht einmal gut genug Deutsch können, um die Plakate zu verstehen.
Das ist nicht unser Ziel. Die Reaktionen vor Ort sind wohlwollend und positiv. Die Menschen bleiben vor den Fenstern stehen, sprechen miteinander darüber, erklären sich gegenseitig die Message. Es wird darüber geschmunzelt und die Ernsthaftigkeit gleichzeitig erkannt. An der Langstrasse wird noch – ganz anders als in anderen Stadtteilen von Zürich – miteinander gesprochen. Und wir glauben, dass so auch diejenigen, welche die Plakate vielleicht nicht selbst lesen können, die Botschaft verstehen und sich bei Interesse bewerben können. Es werden alle angesprochen, die es auf dem Arbeitsmarkt aus den unterschiedlichsten Gründen nicht so einfach haben.

Wie viele Prostituierte und Grasdealer haben sich bis jetzt gemeldet?
Die Bewerbungen kommen laufend rein und gerade habe ich gesehen, dass uns durch einen Partner ein Langzeitarbeitsloser vermittelt wurde, der gerne hier arbeiten würde.

Wie soll denn der typische Gast im Hiltl an der Langstrasse aussehen?
Das ist so Zeug, das Marketingleute immer bestimmt haben wollen. Wir werden nie den Hiltl-Gast definieren. Auch an der Langstrasse sprechen wir ein bunt gemischtes Publikum an. Come as you are!

Der bisherige Hiltl Club hat schon ein ziemlich spezifisches Kreis 1-Publikum. Wird der neue Club an der Langstrasse undergroundiger?
Wir nehmen die Umgebung, die Geschichte, die Vibes vom Quartier und vom lokalen Umfeld auf. An der Langstrasse wird der Club entsprechend etwas undergroundiger.

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Du meintest einmal, auch Junkies und Prostituierte haben gesundes Essen verdient. Werden an der Langstrasse bald alle vegan?
Wir wollen gesundes Essen demokratisieren. Die Langstrasse muss nicht vegan werden – Vielfalt ist schön und gut. Für alle, die sich unser Essen nicht leisten können, verteilen wir morgens zu klar definierten Zeiten Tragtaschen mit kostenlosen Speisen und hausgemachten Getränken, die hygienisch einwandfrei sind und gut schmecken, wir aber nicht mehr verkaufen können. Zudem existiert seit Jahren unser "Buffet mit Herz". Soziale Einrichtungen verteilen Gutscheine an Bedürftige, die damit in Randzeiten bei uns speisen dürfen. Zudem kommen bei Buffet-Schliessung soziale Institutionen vorbei und schöpfen übrige heisse Speisen, welche sie noch in der Nacht an hungrige Menschen auf der Strasse verteilen können.

Dein Lokal gilt für viele als ungeliebtes Beispiel für die Gentrifizierung der Langstrasse.
Die Langstrasse war schon immer ein spannendes Quartier, das ständig im Wandel war. Ich habe einige Dokus über die Langstrasse gesehen. Eine davon war aus dem Jahr 1971 – schon damals haben sich Leute beschwert, dass früher alles besser war, mitunter weil Gebäude abgerissen wurden und Neues entstand. Ich glaube, dass sich Städte und Quartiere weiterentwickeln dürfen – das gilt auch für die Langstrasse.

Wenn hier ein Coop, eine Migros oder sonst ein Laden neu eröffnet, hört man auch nichts von dieser Polemik. Wir sind seit vier Generationen ein Zürcher Familienbetrieb, der soziale und ökologische Verantwortung übernimmt und nicht irgendein Grosskonzern.

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Haben auch in Zukunft Randständige an der Langstrasse Platz? Ansonsten wird es für sie in Zürich wohl eng.
Ich glaube, dass auch in Zukunft Leute unterschiedlichster Couleur weiterhin hier Platz haben werden – das ist ja das Spannende an diesem Quartier. Mit unserer Mitarbeiterpolitik tragen wir auch unseren Teil dazu bei.

Wie soll die Langstrasse denn in zehn Jahren aussehen, wenn es nach dir geht?
Hoffentlich behält sie ihren einzigartigen Charakter! Ich hoffe, dass sie Neues dazugewinnt aber Altbewährtes auch bestehen bleibt, ähnlich wie bei uns im Hiltl. Etwas Mühe habe ich mit den Partyhorden, die an der Langstrasse an den Wochenenden – befeuert durch den stetigen Nachschub aus 24-Stunden-Shops – schon für ziemlich heftige Zustände sorgen.

Wo gehst du denn an der Langstrasse so aus?
Ich bin gerne in der Stubä – das sind unsere Nachbarn und wir haben ein freundschaftliches Verhältnis zueinander. Letztens war ich wieder einmal in der Bar3000 und der Zukunft. Das sind gute Leute, die das betreiben.

Wird das Dach auf dem Hiltl für immer so göttlich leuchten? Ich frage für meinen geblendeten Mitbewohner.
Das tut mir leid, dass es euch blendet. Der Architekt und Inhaber der Liegenschaft hat mir versichert, dass das Aluminium bald eloxieren und nicht mehr blenden wird.

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