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Krankheit

Eine Aargauerin verliert ihre halbe IV-Rente, weil sie Online-Aktivistin ist

Aufgebrachte Bürger schwärzten sie anonym bei der Invalidenversicherung an.
Foto links: Brigitte Obrist auf Facebook | Foto rechts: freegreatpicture.com


Über Twitter ein Statement rauszuhauen, geht ziemlich schnell – bei Bedarf auch mal beim Einschlafen, wie vermutlich bei Donald Trumps legendären "Covfefe"-Tweet. Auch die Aargauer Internet-Aktivistin Brigitte Obrist tweetet häufig ihre Meinung. Durschnittlich setzt Obrist 15.5 Tweets pro Tag ab, wie sie selbst auf Twitter vorrechnet. Ein 10-Finger-Schreiber mit mindestens 200 Anschlägen pro Minute braucht für diese Tweets, wenn er denn überhaupt die maximale Zeichenzahl ausreizt, kaum länger als 15 Minuten. Auch wenn darin die Denkzeit für einen Tweet nicht eingerechnet ist, wirken die Tweets von Obrist mehr wie lockere Gedanken als lang durchdachte Statements – die Social Media-Aktivitäten von Obrist sind demnach mehr eine Nebenbetätigung als ein Fulltime Job. Eine Unbekannte ist die 55-jährige nicht: Brigitte Obrist war früher Sexarbeiterin, betrieb ein Bordell und setzte sich lange in der Aidsprävention ein, berichtete die NZZ 2016 in einem Artikel. In ihrer Twitter-Biographie beschreibt sich Obrist selbst als "sozialpolitisch interessiert" und tweetet meist aus einer sozialkritischen Perspektive.

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Weil Brigitte Obrist an chronischen Cluster-Kopfschmerzen leidet – eine der heftigsten Formen von Kopfschmerzen, die etwa 0.1 Prozent der Bevölkerung betreffen – kann sie seit 17 Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen. Deshalb bezieht sie eine Invalidenrente von rund 700 Franken pro Monat. Ab Dezember erhält sie nur noch die halbe Invalidenrente von rund 354 Franken, wie watson berichtet. "Die Versicherte hat eine sehr gute Fähigkeit, die Social Media zu verfolgen und sich darin in vielfältiger Weise zu äussern", begründete die IV-Stelle des Kantons die Kürzung der Leistungen. Das Pikante an der Sache: Vor zwei Jahren erfuhr die Online-Aktivistin, dass ein neues Gutachten über ihre Krankheit erstellt werden soll. Weil sie deswegen Akteneinsicht verlangen konnte, weiss sie nun, weshalb ihr IV-Anspruch neu beurteilt werden sollte: Mehrere Leute beschwerten sich anonym bei der IV-Stelle, dass Obrist angebe, arbeitsunfähig zu sein, aber trotzdem aktiv auf Social Media sein könne. Einer davon unterschrieb seinen Brief mit den Worten: "Ein wütender (zensiert), der hier Steuern zahlt!"

Obrist selbst rechnete daraufhin in einem Facebook-Post vor, dass die Invalidenversicherung bis zu ihrer Pensionierung rund 38.000 Franken einspart und stellt in Frage, ob diese Massnahme überhaupt so viel einspart, wie die ganze Abklärung gekostet hat. Gegenüber watson kritisiert sie zudem, dass der Gutachter sich grossteils auf die Aussagen dieser anonymen Beschwerden berief und diese teilweise sogar wörtlich in seinen Bericht übernahm.

Manche Kantone, wie beispielsweise Thurgau, bieten Online per Formular sogar einfache Möglichkeiten an, vermeintliche IV-Betrüger anonym anzuschwärzen. Früher setzte die Schweizer IV-Behörden auch Detektive ein, die bei Verdacht IV-Bezüger ausspionierten, um allfällige Betrugsfälle zu beweisen – bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Praxis kritisierte, weil die Schweiz dazu keine Rechtsgrundlage habe. Diese Aufgabe scheinen nun aufgebrachte Mitbürger zu übernehmen, die dabei sogar anonym bleiben können. Dass eine Arbeitsunfähigkeit nicht zwingend heisst, dass man den ganzen Tag nur im Bett liegt – Cluster-Kopfschmerzen treten zwar nur schubartig, dafür als sehr heftiger Schmerz im Augenbereich auf und gelten als unheilbar – interessiert die anonymen Anschwärzer wohl nicht.

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