FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Schamhaare, Abtreibungen und Gekreische – So bekämpft Kunst Rassismus

Ein Künstler in Berlin will "böse weiße Männer" bekehren, indem er ihre Penisse umprogrammiert. Wahnsinn oder Methode?
Foto: Suzie & Léo

Du hältst dich für einen ziemlich aufgeklärten Typen? Der nichts gegen Frauen, Schwule und Ausländer hat, der Donald Trump, AfD und den Brexit eher nicht so geil findet? Nun, vielleicht sehen das deine Schamhaare ganz anders. Darüber schonmal nachgedacht? Unter der Gürtellinie könntest du heimlich ein Rassist und Sexist sein. Dann müsste dein Penis dringend mal angeschrien werden, damit er wieder zur Vernunft kommt.

Anzeige

Michael Portnoy jedenfalls sieht das so. Der Performance-Künstler aus New York hat am vergangenen Wochenende in Berlin eine einmalig-absurde Aktion gestartet: Er hat 19 Männer nackt auf Liegen gebunden und ihren Unterleib mit Gesängen, Geräuschen und Geschrei malträtiert. Mit seiner Performance "Progressive Touch – Total Body Language Reprogramming" will er den Männern das innere Schwein austreiben. Ohne Zuschauer, an einem geheimen Ort, keine Details vorab. Einzige Bedingung für die Freiwilligen: Ihr Schamhaar musste mindestens drei Zentimeter lang sein.


Bei Broadly: Wer hat Angst vor Vagina-Kunst?


Uns stellt sich da natürlich die journalistische Frage: What the fuck? Was zur Hölle machen die da? Ist das Quatsch? Wie funktioniert so eine Umprogrammierung? Und warum drei Zentimeter? Also haben wir bei den Beteiligten nachgefragt. Weil die Teilnehmerplätze schon belegt waren.

Victor war dabei. Zwei Tage später wirkt der 45-Jährige immer noch leicht verstört. Was ihm genau passiert ist, kann er nur schwer in Worte fassen. "Ich wurde am Samstagabend abgeholt und mit verbundenen Augen durch die Stadt gefahren", erzählt er. Eigentlich ist der Film-Set-Designer nur eingesprungen, weil ein Freund, der sich freiwillig gemeldet hatte, doch nicht konnte. "Mit Nacktsein habe ich kein Problem und ich sah's als lustige Erfahrung", sagt er.

Helfer des Künstlers fragten ihn im Auto aus: ob er in einer Beziehung sei, hetero oder schwul, sexuelle und politische Präferenzen, wie er Trump finde. An einem Fabrikgelände irgendwo in Berlin angekommen wurde er in einen Keller geführt. In einem dunklen Vorzimmer, immerhin beheizt, musste Victor sich ausziehen und dann in einen größeren Raum gehen, in dem vier Stühle standen. Kopfüber wurde er am ersten Liegestuhl festgebunden, die Füße höher als der Kopf. "Ich hatte aber keine Angst, dass ich gleich mit Scheiße beschmiert werde oder so", sagt Victor.

Anzeige

Der Künstler Michael Portnoy und seine Partnerin, die Schauspielerin Lily McMenamy, traten ein und legten sofort los. Was genau sie machten, fällt Victor immer noch schwer zu beschreiben. "Sie tanzten um mich herum, aus Boxen kamen arhythmische Musik und langgezogene Töne, wie singende Sägen, sie hat dazu gekreischt, er klang eher bassig." Das Wenigste waren Wörter, vieles unverständliches Gemurmel. Immer wieder englische Worte wie "Body" oder "White Male". "Es war ein bisschen angetrippt", erinnert sich Victor. "Ich habe schon mal LSD genommen, das hatte sowas davon."

Foto: Suzie & Léo

Einiges fand Victor lustig bis gaga. Etwa als der Künstler schrie: "Why you kiss men?" Anderes etwas übertrieben, etwa ob er Frauen zu Abtreibungen zwinge. Geil hat es Victor jedenfalls nicht gemacht, obwohl die Gesichter nah an sein Gemächt kamen. Doch wie fand er es eigentlich? Victor reibt sich die Augen und versucht, sich an Details zu erinnern, aber ihm fallen kaum noch welche ein. "Es war total wirr." Also hat die Hypnose gewirkt? Oder ist das alles einfach nur sinnlos?

So kommen wir nicht weiter. Also fragen wir Michael Portnoy selbst: Was soll das? "Es ist eine Mischung aus Eins-zu-Eins-Theater und sexuellem Slapstick", sagt der Künstler, "und das einzige Publikum ist das Schamhaar." Der 46-Jährige mit Samtsakko und wachen Augen wirkt eigentlich, als wüsste er, was er tut. Aber da eines seiner Hauptkonzepte der "Relational Stalinism" ist, in dem der Künstler sich sozusagen zum Diktator über die Performance-Teilnehmer aufschwingt, kann man daran auch wieder zweifeln.

Anzeige

Portnoy scheint sich jedenfalls etwas dabei gedacht zu haben: Er will das "White Male Problem" lösen, die vielen weißen Heteros, die für Trump und Brexit stimmen, mit Musik und Tanz bekehren. Denn Vorurteile säßen bei jedem tief verborgen. "Jeder Gedanke, jede Idee hat einen eigenen Rhythmus im Körper", erklärt er. Dieses System könne man aber zum Absturz bringen und rebooten, indem man es mit Sinneseindrücken überlädt.

Aber warum muss man dafür ausgerechnet den Penis besingen? "Das Schambein ist einer der Knochen im Körper, der am meisten bei Tönen schwingt", begründet er. Und wozu drei Zentimeter Schamhaar? Schalldämpfer, sagt er. Aha.

Foto: Suzie & Léo

Ist das also Kunst oder hat das Zweck? Das "KW Institute for Contemporary Art", das Portnoy nach Berlin eingeladen hat, scheint jedenfalls daran zu glauben, dass sein seit drei Jahren entwickeltes Konzept, das er schon in Schweden und Großbritannien getestet hat, nun reif ist, erstmals zur Umerziehung von Männern eingesetzt zu werden. "Michael spielt mit Humor, aber er nimmt die Performance sehr ernst", teilt das Institut mit. Also müssten wir einfach nur alle nackt sein und mit Tamburins um Penisse tanzen und singen, um AfD-Wähler und Brexit-Befürworter zu bekehren? Hatten die Hippies am Ende doch Recht?

"Ich stelle jetzt keine großen Behauptungen auf und habe auch keine wissenschaftlichen Studien", sagt Michael Portnoy. Natürlich sei das Ganze absurd. Aber er sehe durchaus Resultate. Die Teilnehmer seien ja nicht nur kunstinteressierte Liberale, auch Geschäftsmänner und Politiker seien dabei gewesen. "Für einige Leute war es eine augenöffnende Erfahrung, sie gingen wie Kinder mit glänzenden Augen raus."

Und wie war es für Victor? Der 45-Jährige hat sich vorher nicht als Rassisten und Sexisten gesehen und tut es auch jetzt nicht. Also überhaupt keine Veränderung? Doch: "In der Nacht danach habe ich so intensiv geträumt wie seit Ewigkeiten nicht", berichtet er. "Ich bin morgens richtig beschwingt über die Straßen gelaufen, die Sonne schien, alles wirkte positiver." Victor schweigt und schaut verträumt in die Luft. Seine Augen glänzen für einen Moment kindlich-glücklich. Nicht wie die eines bösen weißen Mannes. Sondern wie jemand, der im Reinen ist mit sich und der Welt. Selbst wenn in dieser Welt seine Schamhaare angeschrien werden.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.