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Die Olympischen Spiele verletzen die Menschenrechte

Zu sagen, dass die Olympischen Spiele traditionell auf Respekt und Gleichberechtigung beruhen und man deshalb die Winterspiele in Russland boykottieren sollte, ist kompletter Müll.

Eine äußerst heterogene Vorführung, um die bevorstehenden Olympischen Spiele in Sotschi zu feiern

Wenige Monate vor den Olympischen Spielen im russischen Sotschi ist unter Internetnutzern, Medienexperten und LGBT-Aktivisten eine hitzige Debatte darüber entbrannt, ob westliche Nationen die Spiele wegen Russlands neuer anti-homosexueller Gesetzgebung boykottieren sollten. Obwohl Uneinigkeit darüber herrscht, wie man den russischen Gesetzgebern eine deutliche Nachricht schicken könnte—ob durch einen kompletten Boykott, einzelne Protestaktionen während der Spiele oder indem man das Großereignis in ein anderes Land verlegt—, haben beide Seiten der Debatte den gleichen Ursprung. Denn Russlands Haltung, Homosexualität als kriminellen Akt einzustufen, wird einstimmig als ein ungeheuerlicher Angriff auf die Menschenrechte angesehen. Doch diese Debatte übersieht dabei, dass die Olympischen Spiele Menschenrechte verletzen, ganz egal wo sie stattfinden.

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Einige der lautesten Stimmen in dieser Diskussion haben argumentiert, dass Russlands anti-homosexuelle Gesetzgebung dem vereinigenden und gleichberechtigten Charakter des olympischen Wettstreits widerspreche. Kristopher Wells hat beispielshalber im Edmonton Journal geschrieben: „Die moderne olympische Bewegung beruht auf den Prinzipien von Gleichberechtigung, Fairness und Respekt gegenüber allen. Die Spiele sind der Moment, in dem die Welt innehält und alle Länder zusammenkommen, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rasse, Kultur, Gesellschaftsschicht, Erbe, Alter oder sexuelle Orientierung.“

Ähnlich hat sich auch Barack Obama bei Jay Leno geäußert: „Wenn Russland den olympischen Geist aufrecht erhalten will, sollte jede Entscheidung auf der Rennbahn, im Schwimmbecken oder auf dem Schwebebalken fallen. Die sexuelle Orientierung der Menschen sollte dabei keinerlei Rolle spielen.“

Obwohl es nett ist, sich die Olympischen Spiele als Fels in der Brandung für Frieden und Gleichberechtigung vorzustellen—in einer Welt voller Diskriminierung—, hat die Geschichte der Spiele gezeigt, dass Aussagen wie diese sich als problematisch und haltlos entpuppen können. Wenn man wirklich genau hinschaut, erweist sich die olympische Gleichberechtigung als stumpfer, dämlicher Mythos. Und zwar aus folgenden Gründen.

Ein Auflauf von Olympia-Gegnern in Vancouver

Ausweisung und Vertreibung

Eine mit UN-Geldern durchgeführte Studie des Center on Housing Rights and Evictions (COHRE) hat herausgefunden, dass zwischen den Spielen 1988 in Seoul und Peking im Jahr 2008 mehr als zwei Millionen Menschen vertrieben wurden, um für die Großveranstaltungen Platz zu machen. Diese Vertreibungen betrafen in erster Linie arme Leute und ethnische Minderheiten. Sie wurden aus ihren Häusern vertrieben, zurück blieben teure Immobilien, die sich die meisten ehemaligen Bewohner nicht mehr leisten konnten.

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In den sechs Jahren vor den Spielen in Seoul im Jahr 1988 wurden 48.000 Wohnhäuser abgerissen. Dadurch verloren 720.000 Menschen ihr Zuhause. Vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 waren sogar 1,25 Millionen Menschen betroffen. Im Vorfeld der Sommerspiele in Atlanta im Jahr 1996 wurde den 9.000 Obdachlosen der Stadt mit Festnahme gedroht und mehr als 2.000 Sozialwohnungen wurden dem Erdboden gleichgemacht.

Vor den Spielen in Barcelona verringerten sich die Chancen für Betroffene eine Sozialwohnung in der Stadt zu erhalten um mehr als 75 Prozent. Zudem wurden fast alle Roma in umliegenden Gemeinden vertrieben. Und derzeit sehen sich, obwohl die Spiele in Brasilien erst 2016 stattfinden, zahlreiche Bewohner der Favelas in Rio ebenfalls von Zwangsräumung bedroht. Von Zustimmung kann nur selten die Rede sein. Bewohnern Londons wurde im vergangenen Jahr gesagt, sie sollten sich nicht so anstellen, wenn sie sich dagegen wehrten, dass auf ihren Dächern Raketenabwehrsysteme installiert wurden. Und auch die Winterspiele 2010 in Vancouver wurden in Gebieten ausgetragen, die von den dortigen Ureinwohnern nicht abgetreten worden waren (80 in der Region beheimatete Stämme verweigerten ihre Zustimmung).

Neue Machtbefugnisse für die Polizei

Die offiziellen olympischen Statuten lassen wenig Raum für Widerspruch oder Protest. In den Regeln steht geschrieben: „Keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder auf Rasse basierender Propaganda ist auf dem Boden der olympischen Stätten erlaubt.“ Ein neues Gesetz, das gerade noch rechtzeitig vor den Spielen in London 2012 verabschiedet wurde, ermöglichte es 13.500 britischen Einsatzkräften und mehr als 10.000 privaten Sicherheitsleuten, gewaltsam in Privathäuser einzudringen und jegliches Material zu zerstören oder sicherzustellen, das nicht von den Olympischen Gremien abgesegnet wurde.

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Ein ähnliches Gesetz in Vancouver erklärte jegliches Material, das die Olympischen Spiele nicht in ein gutes Licht rückte, für rechtswidrig und erlaubte es Polizisten, solches Material selbst in Privathäusern sicherzustellen. Nach heftigem öffentlichem Protest wurde dieses Gesetz in Vancouver zwar entschärft, doch die Abgeordneten von British Columbia—ganz nach dem Vorbild vorheriger Austragungsorte wie Seoul, Atlanta, Sydney und Athen, verabschiedeten dennoch ein Gesetz, das es erlaubte, Obdachlose im Fall von extremem Wetter (wie Winter!) gewaltsam in speziellen Unterkünften unterzubringen oder sie zeitweise sogar ins Gefängnis zu stecken, wenn die Unterkünfte voll waren.

Städte für das Eintreffen von Touristen aus aller Herren Länder „herauszuputzen“ beinhaltet auch Polizeiaktionen, die einschüchtern sollen und mit denen „Unerwünschte“ aus dem Straßenbild vertrieben werden sollen. Zusätzlich zu Razzien auf Obdachlose und Roma im Vorfeld der Olympischen Spiele in London 2012 führte die Londoner Polizei eine Reihe von Durchsuchungen durch, um Sexarbeiter einzuschüchtern. Sogar die LGBT-Gemeinschaft wurde bereits vor Jahren Ziel dieser Razzien und zwar in den Monaten vor den Spielen in Montreal im Jahr 1976, als in der Stadt ein starker Anstieg an Durchsuchungen in Badeanstalten und Treffpunkten von Schwulen festzustellen war.

Unternehmen mit desaströsen Menschenrechtsbilanzen werden olympische Sponsoren

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Ohne einen Hauch von Ironie wurde tatsächlich BP als „Hauptpartner für Nachhaltigkeit“ der Sommerspiele von London ausgewählt. Eine Firma mit einer äußerst fragwürdigen Menschenrechtsbilanz, die in erster Linie für die furchtbare Ölkatastrophe im Golf von Mexiko bekannt ist, an deren Folgen die lokale Meeresfrüchteindustrie bis heute leidet. Der „Nachhaltigkeitspartner“ für die kommenden Spiele in Russland wird DOW Chemical sein, ein Unternehmen, das für mehr als zehn Jahre die Verantwortung für ein Gasleck abgestritten hat, das mehr als 25.000 Menschenleben gekostet hat.

Profit und Schulden

Während das Internationale Olympische Komitee (IOC) dank Sponsorengeldern und dem Verkauf von TV-Rechten gewaltige Gewinne einfährt (383 Millionen Dollar in 2008), hinterlässt es den Bewohnern der Austragungsorte gewaltige Schuldenberge. Das IOC-Austragungsorte-Abkommen besagt zudem, dass die Olympischen Spiele, da es sich um eine gemeinnützige Organisation handelt, keine Steuern an die Austragungsländer zahlen müssen auf Geld, das während der Zeit der Wettkämpfe umgesetzt wird. Da das IOC zudem nur sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen muss, gibt es keine Angaben über die Gehälter der IOC-Direktoren und keiner weiß, wohin die satten Gewinne fließen.

Bereits in der Vergangenheit waren Präsidiumsmitglieder in Bestechungsskandale verstrickt. Sie nahmen „Geschenke“ an im Gegenzug für ihre Stimme bei der Abstimmung über den nächsten Austragungsort. Einerseits kosten die olympischen Feiern oft das Zehnfache der ursprünglich angesetzten Beträge, andererseits sind es die Austragungsorte, die auf den immensen Kosten sitzenbleiben und jahrelang die Schulden abbezahlen. In Montreal dauerte es 30 Jahre, bis der Schuldenberg in Höhe von zwei Milliarden Dollar getilgt war, den sich die Stadt durch die Spiele eingehandelt hatte. Vancouver kam im Vergleich dazu mit einer Milliarde Dollar Schulden noch glimpflich davon. In Griechenland sorgten die Kosten der Olympischen Spiele für ein Neun-Milliarden-Euro-Loch im nationalen Haushalt, das das Land auf absehbare Zeit lahmlegen dürfte.

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Und all das ist nur eine Kostprobe von dem, was die Olympischen Spiele zu bieten haben. Während also Einigkeit darüber herrscht, dass es bei den kommenden Winterspielen in Sotschi um die Menschenrechte nicht allzu gut bestellt sein dürfte, gibt es noch viele weitere Gründe, warum diese globale Feier des Sports zahlreiche sehr alarmierende gesellschaftliche Probleme mit sich bringt.

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