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Kriminalität

Berliner U-Bahn-Treter zu fast 3 Jahren Haft verurteilt

Wegen der Folgen eines Autounfalls hatte ein Gerichtsexperte den Angeklagten zuvor für vermindert schuldfähig befunden.
Foto: imago | STPP

Als Swetoslav S. dem Gutachter von seiner brutalen Tat erzählt, beginnt er zu weinen. Er greift nach dessen Hand und lässt sie nicht mehr los.

So berichtet es Gerichtsgutachter Alexander Böhler am letzten Prozesstag im Berliner Landgericht. Er ist der Letzte, den das Gericht anhören will, bevor es die Beweisaufnahme im Fall Swetoslav S. schließt – und den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren und elf Monaten Haft verurteilt.

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Es ist ein Fall, der Berlin und Deutschland seit mehr als neun Monaten beschäftigt. Im Oktober 2016 besucht die Studentin Jana K. eine Freundin und verpasst ihre S-Bahn. Weil ihr kalt ist, geht sie runter zur U-Bahn, um sich aufzuwärmen. Sie zieht sich die Kapuze ins Gesicht und hört Musik über Kopfhörer – dann tritt ihr S. in den Rücken. Sie stürzt die Treppe herunter, bricht sich den Arm. S. und seine Freunde fliehen.

Das Gericht hat zum letzten Prozesstag keine Zeugen mehr geladen, nur Gutachter Böhler. Und der ist vorbereitet. Mehrere Aktenordner breitet er auf einem Tisch neben der Staatsanwaltschaft aus. Böhler erzählt, er habe den Angeklagten nicht als brutalen Schläger kennengelernt. "S. war im Gespräch freundlich. Sehr weich und fast devot", sagt er. Ängstlich sei er gewesen und vor allem verwirrt: Mal hält S. die Dolmetscherin für seine Anwältin, mal für seine Schwester.

Dann fällt das Mikrofon aus. Böhler muss sich umsetzen. Er mosert, packt seine Akten zusammen und erzählt am Zeugentisch weiter, von der Vergangenheit des Angeklagten.

S. stammt aus ärmlichen Verhältnissen in Bulgarien. Seine Eltern halten Tiere, sein Vater schlägt ihn, auch seine Mutter schenkt ihm wenig Aufmerksamkeit. S. besucht nur ein Jahr die Schule, sammelt danach Muscheln und verkauft sie. Schön sind nur die Besuche seines Onkels, der einmal in der Woche den Fernseher voller bunter Bilder vorbeibringt.

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Mit 15 verliebt er sich in ein Mädchen und schwängert sie. Für ihre Familien ist das eine Schande, sie verstoßen die Kinder. Kurz danach bekommt seine Freundin das zweite Kind. S. beginnt zu stehlen, anfangs nur Lebensmittel, später auch Kabel und Handtaschen.

Ein Abend im Jahr 2009 sollte ihn schließlich für immer verändern. Er trifft sich mit Freunden. Sie trinken, trinken noch mehr. Auch der Fahrer des Autos, mit dem sie später losfahren. Das Fahrzeug gerät von der Straße ab und knallt in eine Böschung. S. kann sich aus dem Wrack retten. Er kommt ins Krankenhaus, wird operiert und fällt ins Koma.

Danach, sagt Gerichtsgutachter Böhler, ist S. ein anderer. "S. hat damals ein Frontalhirnsyndrom erlitten", sagt Böhler. Es beeinträchtigt die geistige Leistung des Angeklagten, sein Gedächtnis ist beschädigt. Bei lediglich 67 liegt sein IQ. Das gilt als leichte geistige Behinderung.

"Der Angeklagte leidet an Affektinkontinenz", sagt Böhler. "Gefühlsdurchfall." Anders als die meisten Menschen setze er Gefühle sofort in Handlungen um, denke vorher gar nicht darüber nach. "Durchbrüche" nennt das Böhler. In solchen emotionalen Momenten rastet S. aus. Triggern können das aufputschende Drogen. So wie wohl in der Tatnacht.

S. zieht im vergangenen Oktober mit Freunden durch Berlin. In einem Dönerladen besorgen sie sich Alu-Folie, einer erhitzt darauf Crystal, den Rauch zieht S. durch einen Geldschein. Den Rest rauchen sie in einer Glaspfeife. Zwischendurch nehmen sie Kokain und trinken Wodka. Danach: Blackout, keine Erinnerungen mehr. Irgendjemand weckt S. in der Endstation der U8.

Dass er Jana K. eine Treppe herunter getreten hat, daran erinnert ihn erst seine Mutter. Sie hatte ihn auf dem Überwachungsvideo erkannt, das die Berliner Polizei veröffentlicht hatte. S. flieht mit dem Bus zu einer Schwester nach Frankreich. Als er kurz vor Weihnachten zurück nach Berlin fährt, erkennt ihn ein Fahrgast und ruft die Polizei. Noch am Busbahnhof nehmen ihn Polizisten fest.

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