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partytourismus

Wir sind eine Nacht lang mit Party-Touristen durch Berlin gezogen

163 Leute haben sich an diesem Tag dazu entschlossen, bei einem Pub Crawl mitzulaufen. Wir wollten sehen, wie Party-Touristen das Berliner Nachtleben erleben.
Alexander Brust

Bist du schon einmal abends irgendwo hingegangen und hast dich gewundert, wo die ganzen betrunkenen Partytouristen herkommen und—noch viel wichtiger—wo sie hingehen? Besonders in Berlin passiert es so gut wie jeden Tag, dass Gruppen junger Menschen aus der ganzen Welt fröhlich gröhlend und trinkend an dir vorbeiziehen. Aber wie kann man als Mensch, der in diesem Alter vor zehn Jahren noch jeden Sommer auf Mallorca gefeiert hat, eigentlich in Berlin feiern? Wir haben versucht das rauszufinden und sind auf das Phänomen „Pub Crawling" gestoßen, bei dem eine Gruppe an Menschen einem Guide von Bar zu Bar folgt und sich so um nichts kümmern muss. Natürlich konnten wir es uns nicht verkneifen, zusammen mit Arbeitskollegen an einer dieser Veranstaltungen teilzunehmen und haben den Abend aus unserer jeweiligen Sichtweise für dich dokumentiert:

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Vorbereitung

Philipp:
Pub Crawl. Die Freunde fragen, was das ist. Eine Kneipen- und Clubtour für Touristen. Reaktion: alle Lachen. Am Alexanderplatz verlauf ich mich, passiere dabei einen Club namens Traffic. Wenn wir hier nicht noch später am Abend landen werden …

Vincent:

Das letzte Mal war ich vor dem 'Feiern' in der 6. Klasse so angespannt, als ich vor der Schulparty beim Frisör war. — Vincent Bittner (@farbenwut)19. Februar 2016

Mit gutem Whiskey-Cola aus dem Supermarkt trinke ich mich schon mal warm und beschließe, den ganzen Abend über meine Gedanken unter

PubcrawlBerlin

zu twittern, damit ich mich später an alles erinnern kann.

Treffpunkt am Hostel

4 coole Bars und Clubs. Und Trinkspiele! Und Tanzwettbewerbe! Und VIP-Eintritt! Kann das überhaupt schlecht werden? Foto: Vincent Bittner

Philipp:
Ich komme etwas zu spät zu dem Hostel, an dem wir uns treffen. Drei Leute warten schon, die Stimmung ist gedrückt. Jeder kriegt ein Bändchen. Eine Markierung. Wie der Baum, der vom Hund angepisst wird. Im Hostel gibt es einen Kicker: Mein Kollege von Thump und ich verlieren 0:10 gegen die Angeber von Vice Sports. Kein guter Anfang, aber bei weitem nicht die herbste Niederlage des Abends.

Vincent:
20 Minuten nach neun Uhr bin ich da—also zehn Minuten zu früh. Ich hole unsere engen, roten Bändchen von einer Blondine in einem engen, roten Kleid ab. In diesem Trendy-Hostel gibt es schon mal kein Gratisgetränk und wir schlagen uns die Zeit, bis es losgeht, mit einer fairen Partie Kicker tot—die Thump natürlich mit 38:1 gegen die Prolls von Vice Sports gewinnt.

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Der Weg zur ersten Bar

Philipp:
Um 22 Uhr geht es los. Wir sind 163 Leute.163! Der Mob zieht los und hält ein paar Meter weiter an. Einer der Guides, er heißt Mark, stellt sich auf einen Stein und gibt die Marschroute vor: „OK guys, we are now heading to the first bar. Make sure to show your wrist band to the bouncer!" Er hüpft von dem Stein und die Armee folgt ihm. Wir laufen über den Alexanderplatz, vorbei an der AlexOase, einer Strandbar. Zum Glück geht es nicht da rein. Rein in die Bahn. Zwei Stationen. Rosenthaler Platz. Vor dem Cosmic Kaspar müssen wir kurz warten, weil Mark, der Guide, etwas mit den Bouncern klären muss. Eine Gruppe von Briten—es stimmt wirklich—fängt an „In the Middle Of The Street Our House" zu johlen. Ich überlege, einfach über die Straße zu laufen, um abzuhauen. Selbst von einem Auto angefahren zu werden, wäre weniger schmerzhaft.

Vincent:
163 Leute versammeln sich also um einen Guide—einen Führer, sozusagen—der auf einer Parkbank steht und etwas von Free Shots und Bändchen plärrt, bevor wir wie ein Schulausflug in die U-Bahn Richtung Rosenthaler Platz steigen. Derweil versucht mein kleines Grüppchen herauszufinden, welche Teilnehmer aus welchem Land kommen und überlegt sich Geschichten für die eigene Persönlichkeit heute Nacht. Einmal Aktionskünstler aus Belgien, bitte.

Die erste Bar—Cosmic Kaspar

Die Gang präsentiert stolz ihre Bändchen. Foto: Vincent Bittner

Philipp:
Hinein in die erste Bar, die irgendwie ein Club ist. Die Sound-Anlage klingt wie die aus einem tiefer gelegten Golf III, mit Bassrolle hinten drin. Die Musik selbst klingt wie Stahlgewitter. Fun ist ein Stahlbad, fällt mir da wieder ein. Die ersten Männer führen ihren besoffenen Paarungstanz auf und drehen wie die Irren an einem Steuerrad an der Seite des DJ-Pults. Dabei röhren sie wie ein Hirsch, der seinen Lockruf in den Wald sendet. Ich bin immer noch nicht betrunken, habe aber auch Angst, es zu werden. 15 Jahre Gefängnis sind nicht Teil meines Lebensplans.

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Vincent:
Anders als meine Kollegen, beschließe ich, alles richtig zu machen und fange mit einem Jackie-Cola-Gemisch an—das schlappe zehn Euro kostet. Drei junge Engländer halten meine Entscheidung für gut, es ist ihr erster Tag in Berlin und sie freuen sich über die coole Location. Leider verstehe ich sonst nicht wirklich, was sie sagen, da die Anlage einfach nur Krach von sich gibt und mich meine Beine auf die Tanzfläche ziehen. Neben mir stehen Typen, die irgendein Steuerrad drehen, als würde ihr Leben davon abhängen. Kurz bevor wir weiterziehen, verrät mir die junge Dame im engen roten Outfit, dass sie jeden Abend sexuell belästigt wird. Auf die Frage, was denn das Schlimmste wäre, was je passiert ist, erzählt sie von einer 35-jährigen, die sich hier in die Hose gepinkelt hat.

Der Weg zur zweiten Bar

— Vincent Bittner (@farbenwut)February 19, 2016

Philipp:
Aus dem Schickimicki-Mitte geht es zurück ins Dresden Berlins, dem Alexanderplatz. Nach dem Ausstieg aus der Bahn werden irgendwelche Proleten-Lieder angestimmt. Ich versuche mit Abstand zu der Gruppe zu laufen. Das Unwohlsein nimmt zu. Wir laufen über den Alexanderplatz, vorbei an der Alex-Oase. Halt, alle bleiben stehen. Wir gehen in die AlexOase.

Vincent:
Eine Spanierin möchte gerne wissen, woher ich bin. Ich erzähle ihr, ich bin aus Belgien und bringe ihr belgisch bei—bevor mich meine Begleiter später darüber aufklären, dass es diese Sprache gar nicht gibt. Als sie mich fragt, wo in Belgien ich wohne, suchen meine Augen Gegenstände im Raum, wie in einem schlechten Film. Da liegt ein Stein auf dem Tresen. „Felsen …" Jemand sitzt auf einer Kante. „… kant. I am from Felsenkant. It's in the east-west." Sie freut sich und sagt, das ist wirklich eine coole Stadt, da wollte sie schon immer mal hin. Plötzlich stehen wir vor der AlexOase am Alexanderplatz. Ich versuche einen Guide zu fragen, warum er diesen Job macht und ob er Spaß hat—„Free drinks and party every night!" ist seine Antwort.

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Die zweite Bar—AlexOase

Philipp:
Teppichboden. Ein Zelt drum herum. Stimmung wie auf einem Schützenfest. An einem Tisch sitzen zwei junge Gespielinnen mit einem alten Typen, der wie eine Mischung aus Franz Beckenbauer und Ottfried Fischer aussieht. Irgendwann hängt er sich ein gelbes Neonarmband um sein Ohr und macht komische Tanzbewegungen. Die überpflegten Begleitungen gackern, er steht auf und holt Getränke für alle. Auf der Tanzfläche gibt es ein Leipziger Allerlei der Ballermann-Klassiker. Ein mehrfach verdautes Leipziger Allerlei. Punjabi MC. Nirvana im Remix von Martin Garrix. 50 Cent. Miami von Will Smith. Die ersten Selfies werden gemacht. Das kleine Bier kostet 4 Euro.

Vincent:

Hab mir grade das Lied beim DJ gewünscht, das schon läuft. Will Smith - Miami — Vincent Bittner (@farbenwut)19. Februar 2016

Ich kaufe mir Wodka-Bull für 8,50 Euro und versuche, so viele Gratis-Shots wie möglich herauszuhandeln, bevor ich etwas den Überblick verliere. Um mich perfekt in meine Rolle als Partytourist einzufinden, beschließe ich, mir beim DJ etwas zu wünschen. Leider läuft genau dieses Lied, während ich den Wunsch ausspreche.

Der Weg zum ersten Club

163 Teilnehmer am Alexanderplatz. — Vincent Bittner (@farbenwut)19. Februar 2016

Philipp:
Wir testen die Gefolgsamkeit der Gruppe und stimmen Scooter an. Spontan machen 50 Leute mit. Wir gehen über die Straße und laufen auf diesen Club namens Traffic zu. Und gehen rein.

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Vincent:
Nachdem ich einen Typen überzeugt habe, dass er aussieht, wie das uneheliche Kind von David Guetta und Avicii, habe ich plötzlich das Bedürfnis, Lieder vom jährlichen Fest in meinem kleinen Dorf in Bayern zu singen. Die Leute stimmen entweder mit ein oder singen etwas Anderes. Ist mir auch egal. Hoffentlich wird der erste Club besser als die zweite Bar.

Der erste Club—Traffic

Diese Leute hätten die Party vielleicht mal auf den Würstchenanteil checken sollen. Foto: Vincent Bittner

Philipp:
Drinnen zeigt sich, ohne Übertreibung, die Apokalypse. So stell ich mir das L1 in Leipzig vor. Die Musik ist viel zu laut, die Leute sehen alle gleich aus. Mit weißen T-Shirts uniformierte Gattungswesen. Hier halte ich es keine fünf Minuten aus. Nach vier Shots und drei Übergriffen von zwei Typen auf eine Frau aus unserer Gruppe die Ernüchterung: Null Bock mehr auf den weiteren Abend. Wir begeben uns auf die Tanzfläche. Mein Thump-Kollege scheint wirklich Spaß zu haben. Auf dem Dancefloor ist das Schwarzlicht bis zum Anschlag aufgedreht. Immerhin sehen die anwesenden Macker dadurch auch ihrem Verhalten entsprechend aus: wie Vampire. Ich kann gar nicht so viel trinken wie ich kotzen möchte und verzichte daher auf weiteren Hart-Alk.

Vincent:
Alles dreht sich. Ich muss wohl noch mehr Wodka-Bull und Gratisshots in mich pumpen. Turn Up, Mate! Irgendwer begrabscht irgendwen—ich muss trinken und tanzen. Nach einigen Minuten finde ich mich selbst auf dem Podest neben dem DJ wieder und ziehe meine Begleiter zu mir nach oben, damit es aussieht, als ob alle so viel Spaß wie ich haben. In einem kurzen Moment geistiger Klarheit, schaffe ich es mein Handy zu zücken und den Videoknopf zu drücken, bevor alles und jeder um mich herum wieder in einem blauen Meer aus Top-40-Musik verschwimmt.

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Der Weg zum zweiten Club

Philipp:
Um 1 Uhr 45 geht es weiter. Einer fragt in gebrochenem Englisch den Guide namens Mark, wo es nun hingeht: „Now we're going to the Matrix." Endlich, das Matrix wollte wirklich schon mal von innen sehen. Die Gruppe ist deutlich kleiner geworden.

Vincent:
Anscheinend habe ich unsere Jacken in einen blauen Müllsack gestopft und an der Gaderobe abgegeben. Während ich mir diesen zurückhole, photobombe ich Leute, die in einem Instant-Foto-Automaten sitzen. Erinnerungen für die Ewigkeit. Wobei ich mich an den Rest des Weges nicht wirklich erinnere.

Der zweite Club—Matrix

I <3 Matrix Foto: Vincent Bittner

Philipp:
Das Matrix. Wie erwartet. Doch es ist bei weitem nicht die schlimmste Station des Abends. Durch den Alkohol vernebelt laufen wir in der Großraum-Disco in einen Raum, der leer ist. Ein Mitarbeiter des Matrix' folgt uns auf dem Fuß und fragt allen ernstes, ob wir von „Berlin, Tag und Nacht" seien. Wir geben die maximale Anzahl von unterschiedlichen Antworten und fragen ihn, um abzulenken, ob ihm sein Job Spaß macht. Natürlich, antwortet er, als hätte er die Antwort wie eine Vokabel auswendig gelernt. Allerdings nur, wenn die Gäste nett sind, fügt er hinzu. „Na dann haben Sie ja grad Spaß", sagt einer aus unserer Gruppe. Der Mitarbeiter lächelt gequält.

Vincent:
Endlich im Tempel des Durchschnitts angekommen. Wer sagt, dass das Berghain gut ist, war wohl noch nie nach fünf Stunden pubcrawling im Matrix. Irgendetwas mit einem Drehort von Berlin Tag und Nacht passiert, irgendjemand spricht, aber ich befinde mich bereits betrunken im Himmel (wahlweise: in der Hölle) aus twerkenden Hintern zu Nirvana-Martin-Garrix-Mash-Ups, während all meine Kollegen verloren gehen. Diese Spaßbremsen.

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Das Ende des Abends

— Vincent Bittner (@farbenwut)February 20, 2016

Philipp:
Um halb vier verlassen wir das Etablissement. Ich muss noch woanders hin, denke ich. Das darf nicht das Ende sein. Die Motivation bei meinen Kollegen scheint gering zu sein. „Ich muss erst mal was essen", nuschelt der eine. Klares Anzeichen für Volltrunkenheit. Eine Falafel später sind wir im Prince Charles. Session Victim spielen. Endlich gute Musik. Die Leute tanzen entspannt. Der Abend findet ein gutes Ende. Nicht wegen, sondern trotz Kneipen-Tourismus. Nie wieder Pub Crawl.

Vincent:
Mehr Alkohol getrunken. Sechs Stunden als Basic-Bitch sind genug. Taxi. Nach Hause. Ich erzähle dem Taxifahrer von einem Video, in dem ein Typ nur mit einem Bonsai Musik macht. Ich liebe Bonsais.

Der nächste Morgen

Philipp:
Nach zwei Ibu 400 und der Einsicht, doch relativ viel getrunken zu haben, frage ich mich, was wohl mein von Wodka besamter Kollege heute beim Aufwachen gedacht hat. Schämt er sich? Ja, er schämt sich.

Vincent:
Langsam dämmert mir, dass ich gestern nur so viel Spaß hatte, weil ich ziemlich viel getrunken hatte. Irgendwie freue ich mich darüber, dass die auf dem Werbeplakat versprochenen Trink- und Tanzspiele nie stattgefunden haben. Heute gehe ich vielleicht doch lieber wieder normal feiern …

Heute Abend wasche ich meine Seele übrigens im — Vincent Bittner (@farbenwut)20. Februar 2016

Fassen wir also zusammen: Wer kein Schamgefühl besitzt oder sich einfach nur betrinken möchte, ohne die Sorge zu haben, dass es langweilig wird, ist bei einem Pub Crawl goldrichtig. Allerdings sollte man als Tourist vielleicht doch darauf verzichten, wenn man das wahre Nachtleben einer Stadt kennenlernen möchte und nicht wie ein Schaf mit viel Geld von einer Weide zur nächsten gescheucht werden will. Aber immerhin kommt man gratis und ohne Anstehen ins Matrix—falls man das überhaupt möchte.