Die Künstlerin Elizabeth Willing schleckt Maiswürmchen, bis die Zunge schmerzt

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Kunst

Die Künstlerin Elizabeth Willing schleckt Maiswürmchen, bis die Zunge schmerzt

Die australische Künstlerin Elizabeth Willing arbeitet mit Essen und muss dafür einiges über sich ergehen lassen.

Elizabeth, erzähl doch mal von deiner Arbeit. Warum verwendest du Essen für deine Kunst?

Seit neun Jahren arbeite ich jetzt schon mit Essen als Material. Ich verwendete es ursprünglich, weil mein Professor mir empfahl, mich von meinen Interessen und meinen Hobbies für meine Arbeit inspirieren zu lassen. Ich habe immer schon gerne gekocht, besonders aber gebacken. Es war für mich oft ein Weg, um Stress abzubauen. Also begann ich Konfekt im Studio und in der Galerie zu backen: Toffees, Marshmallows, Honigwaffeln. Die meisten Sachen waren einfache Kombinationen aus Zucker und Hitze, eine einfache und günstige Alternative zu traditionellen Kunstmaterialien. Anfangs verwendete ich die Architektur der Galerie als meine Leinwand, aber mein Interesse, die strukturellen Einschränkungen von Konfekten zu erforschen, stieg immer weiter und so begann ich, autonome Skulpturen aus diesen Materialien zu gestalten. Bis heute faszinieren mich die potentiellen architektonischen Eigenschaften von Essen, aber auch das Potential für multisensorische Erfahrungen von Essen als Kunstmaterial finde ich spannend; die eigenartige Position, die Essen und Interaktion im Kontext der Galerie einnehmen und die politischen und wirtschaftlichen Bedenken über das mechanisierte Lebensmittelsystem, an dem wir uns alle auf irgendeine Weise beteiligen müssen, wenn auch auf reaktionäre.

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Goosebump

Pfeffernüsse werden in Australien importiert und in Supermärkten verkauft. Sie gelten als exotisch und die Australier haben das Gefühl, sie sollten sie zu Weihnachten essen. Meine Mutter hat sie ein paar Mal zu Weihnachten gekauft. Ich war von ihrer harten weißen Schale sofort begeistert und stellte mir vor, wie sie perfekte getarnt auf der Wand in einer Galerie aussehen würden. Also verwendete ich Zuckerguss und klebte die Pfeffernüsse in einem repetitiven Design auf eine neun Meter lange Wand.

Die Lebkuchen schufen eine Textur auf der Wand und stießen einen Geruch aus, versteckten ihr leckeres Inneres aber unter der Oberfläche. Nach ungefähr einer Stunde nach Eröffnung der Ausstellung, rief ich ein paar Leute zusammen und wir fingen an, die Pfeffernüsse von der Wand zu essen. Wir konnten aber nur die obere Hälfte der Lebkuchen runteressen, weil wir wegen unserer Nasen und Kinne nicht nah genug an die Wand rankamen. Nachdem ich den ersten Lebkuchen gegessen hatte, fingen die anderen Besucher zuerst zögernd, dann voller Begeisterung an, das Kunstwerk aufzuessen. Zuerst wurden die Lebkuchen auf Kopfhöhe gegessen, dann mussten die höher und niedriger platzierten erreicht werden, wie ein Diagramm. Die Leute kletterten sich gegenseitig auf die Schultern, um die Kekse zu erreichen.

Ich verwende verschiedene Systeme, um meine Arbeiten interaktiv zu machen. Manchmal ist es ein offensichtlicher Teil der Arbeit, andere Male initiiere ich es selbst, aber oft gibt das Werk selbst einen Hinweis darauf, indem Spuren vorherigen Konsums auf der Oberfläche sichtbar sind. Bei Goosebump waren Zahn- und Lippenstiftabdrücke auf den Keksen zu sehen. Überraschenderweise aßen die Besucher die Kekse den ganzen Monat, in dem die Ausstellung geöffnet war. Konfekt strahlt für mich auf eine gewisse Weise Langlebigkeit aus, mit Zucker als natürliches Konservierungsmittel. Mir gefällt es, dass die Leute, egal, ob sie zur Eröffnung oder nach drei Wochen kamen, die Arbeit immer auf ähnliche Art erleben konnten.

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Afternoon Pick‐me‐up

Auf Eiskonfekt bin ich in Deutschland das erste Mal gestoßen. Besonders die glänzenden, bunten und schön gefalteten Hütchen, in denen sie verpackt sind, gefallen mir. Ich schuf ein interaktives Werk: Es begann als ein Bild auf der Wand, das während der Ausstellung aufgegessen wird und sich so im Laufe der Zeit drastisch verändert. Die bunten Verpackungen verlangen geradezu danach, geöffnet zu werden und die Schokolade herauszunehmen. Die Innenseite der Verpackungen ist weiß. Je mehr Zuseher teilnehmen, desto mehr wird die Wand im Grunde in ihren ursprünglichen, weißen Zustand zurückversetzt. Ich war überrascht, als die Leute anfingen, mit diesem Werk zu interagieren, weil ich dachte, es wäre klar, dass sie zuerst die Schokoladen von den Ecken essen würden, weil die leichter aus der Verpackung zu holen sind. Aber die Leute wollten die Pralinen aus der Mitte und machten sich so selbst das Leben schwerer. Viele Schokoladen wurden übrig gelassen mit Fingernägelabdrücken an den Rändern. Wenn man eine interaktive Arbeit gestaltet, bei der man genau planen kann, wie die Leute reagieren und sich verhalten, werden die Leute immer versuchen, es auf ihre eigene Art zu machen. Wenn ich die Regeln der Galerie als Raum breche, dann wollen sie mich auch ausstechen. Manchmal ist es frustrierend, manchmal aufregend und manchmal überraschend, wenn ich eines meiner Werke der Öffentlichkeit in die Hände gebe.

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Piping

Ich arbeitete schon seit Jahren mit Spritzbeuteln, aber wollte eine Skulptur machen, die selbstständig spritzt—eine performende Skulptur. Also machte ich einen riesigen Spritzbeutel und füllte ihn mit einem kommerziellen Produkt, das wir in Australien mock cream nennen. Es ist im Grunde festes pflanzliches Fett und Puderzucker—genau das Richtige für unser heißes Wetter, weil es nicht wie normale Sahne schmilzt.

Der Spritzbeutel wurde dann zwischen zwei Stühle gelegt und mit einem Spanngurt befestigt. Die Skulptur presste während der Ausstellungseröffnung immer wieder Sahne heraus, sodass sich ein schöner Haufen bildete. Manchmal kamen Leute vorbei, öffneten ihren Mund und stellten sich unter die Öffnung, aus der die Sahne kam. Wenn die Sahne zu langsam herausfloss, zog ich einfach den Gurt enger. Was ich nicht bedachte hatte: Durch den immensen Druck der Stühle wurde das pflanzliche Öl durch den Stoff des Spritzbeutels gepresst und „schwitzte" deshalb große Mengen klares Fett im Laufe des Abends aus, sodass sich eine große Fettlache am Boden bildete. Wenn ich darüber nachdenke, hatte das Kunstwerk etwas sehr Menschliches, weil es unkontrolliert flüssige und feste Substanzen produzierte.

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Mould

In Australien mögen wir am liebsten weiche Lakritze. Eines Tages experimentierte ich damit, Lakritze ganz flachen zu pressen und war ganz begeistert von den vielen Farben des scheinbar schwarzen Materials. Ich dachte mir, die Gelb-, Orange- und Brauntöne kommen am besten zur Geltung, wenn ich die Lakritze auf eine Fensterscheibe presse, wie Buntglas. Es dauerte zwei oder drei Tage, bis dieses Werk fertig war. Gemeinsam mit meiner Mutter presste ich Lakritz auf das Fenster und strich es in alle Richtungen, bis das ganze Fenster damit bedeckt war. Wir hinterließen ganze feine Fingerabdrücke auf der Oberfläche und unsere Hände schmerzten extrem. Es war ein sehr intimer, aber auch anstrengender Prozess. Meine Mutter ist die beste Helferin, die man sich vorstellen kann, weil sie Keramikerin ist und deshalb genau weiß, wie sie mit ihren Händen arbeiten muss. Man muss sie aber auch im Auge behalten, weil sie Kunstmaterialien und Snacks nicht auseinanderhalten kann. Bei der Ausstellungseröffnung war das Werk nicht von außen beleuchtet und so sah es recht fest, hart und eigentlich ziemlich eklig aus. Tagsüber war es jedoch transparent und wenn die Sonne direkt ins Fenster schien, erfüllte ein Anisgeruch die gesamte Galerie.

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1000 licks

Ich war so aufgeregt, als ich Maiswürmchen entdeckte, besonders als ich bemerkte, dass sie aneinander kleben, wenn man sie abschleckt. Sie schmecken nicht nach besonders viel und sind Verpackungsmaterial sehr ähnlich. Mein Vater verwendete früher für Pakete ein sehr ähnliches Produkt aus Puffreis, das wir manchmal aus Spaß aßen. Ich wollte die Maiswürmchen neu in den Kontext von Verpackungsboxen situieren, die im Kontext industrieller Materialien verwendet werden. Ich sitze da und sehe Filme an, während ich stundenlang Maiswürmchen abschlecke und in eine Box lege. Ich schaue in die Box, überlege mir, wo ich ein Stück hinlegen könnte. Dann schlecke ich die Seiten ab, die haften sollen. Wenn ich dabei faul bin, hält die Skulptur nicht zusammen, denn jedes Würmchen muss mit den anderen, die es umgeben, zusammenhalten. Meistens sehen ich mir Filme oder Serien an, während ich diese Skulpturen mache und meistens schaffe ich nur ein Paket pro Tag, weil mir ansonsten die Zunge weh tut. Jeder fragt, wieso ich nicht einfach Wasser oder einen Schwamm verwende. Das habe ich auch schon versucht, aber nur mit meiner Zunge habe ich die nötige Kontrolle über die Menge der Feuchtigkeit und die Platzierung. Besonders Spaß macht der Moment, wenn eine Box voll ist und ich das Kunstwerk vorsichtig herausschüttle. Für die Ausstellung im Bethanien beschloss ich erst fünf Tage vor der Eröffnung, einen Maiswürmchen-Würfel in die Ausstellung aufzunehmen, also musste ich ungefähr 20 Packungen in vier Tagen abschlecken. Tagsüber arbeitete ich in der Galerie und am Abend musste ich Würmchen abschlecken.

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Cheese sunsets

Wir haben ein Produkt in Australien, das Schmelzkäse sehr ähnlich ist—Kraft Singles—, beides ist im Grunde industriell verarbeiteter Käse. Ich war schockiert, als ich sah, dass dieses Produkt in deutschen Supermärkten nicht im Kühlschrank, sondern in den Regalen liegt und somit jeglichen Anspruch verliert, Käse zu sein. Die Tatsache, dass das Produkt ohne Kühlung ein Ablaufdatum sechs Monate in der Zukunft hat, inspirierte mich dazu, eine Skulptur daraus zu machen. Ich fing an, große „Bögen" herzustellen, indem ich die Ecken mit einem Käsepapier, um meine Hände vor dem Käse zu schützen, von zwei Stücken Käse aufeinander presste. Die Käsestücke ließen sich ganz gut verbinden, weil das Produkt eher flüssig, als fest ist. In der ersten Woche bekommt es eine ähnliche Konsistenz wie Wachs, empfindlich, aber hart. In den Wochen danach krümmt und hebt sich der Käse auf unvorhersehbare Art vom Boden und wird schließlich so hart wie trockene Pasta. Wenn die Skulptur die endgültige Form erreicht hat, beginnt sie oranges und gelbes Fett zu schwitzen, ganze Pfützen davon. Dabei geht die Farbe der Skulptur teilweise verloren. Manchmal wische ich das Fett auf, manchmal lasse ich es aber auch, weil mir der Glanz ganz gut gefällt. Bei der Show im Bethanien sah ich, wie ein Hund das Fett von den Käseskulpturen schleckte. Das ist nicht das erste Mal, dass Tiere meine Arbeit auffressen.

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Dann wünschen wir dir weiterhin noch viel Erfolg!

Wenn du in Berlin bist, kannst du dir Elizabeths Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien anschauen. Sie läuft noch bis 29.3.

Hier gehts zu ihrer Website.