Zu Besuch in Großbritanniens erstem „legalen“ Rotlichtbezirk
„Sarah“, eine der Sexarbeiterinnen von Holbeck

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Zu Besuch in Großbritanniens erstem „legalen“ Rotlichtbezirk

Der Mord an einer Prostituierten in Holbeck, wo Sexarbeiterinnen auf einem verwalteten Grundstück ihrer Tätigkeit offiziell nachgehen dürfen, hat Zweifel an der Sicherheit dieses Pionierprojekts aufkommen lassen.

Egal wie man es dreht und wendet, alle Bemühungen, die Gefahren von Sexarbeit auf der Straße zu mindern, werden lediglich unvollständige Ergebnisse hervorbringen—selbst dann, wenn sie sich als effektiv erweisen. So lange Sexarbeit nämlich kriminalisiert wird (und das ist in Großbritannien der Fall), müssen Maßnahmen, die wirklich etwas Positives bewirken wollen, eigentlich außerhalb des gesetzlichen Apparats getroffen werden.

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Deshalb sollte man die Polizei von West Yorkshire und den Stadtrat von Leeds auch für deren bahnbrechenden Vorstoß vom Oktober 2014 loben, durch den es Sexarbeitern möglich gemacht wurde, auf einem Industriegrundstück in Holbeck (ein Stadtteil von Leeds) ihrer Tätigkeit nachzugehen, ohne dabei ein Eingreifen der Polizei befürchten zu müssen. Man sagt, dass Sexarbeiter dank dieser Maßnahme jetzt häufiger die Leute anzeigen, die sie ausbeuten. Außerdem gingen die Beschwerden von genervten Anwohnern zurück.

Drei Wochen, bevor die Maßnahme am 11. Januar 2016 permanent etabliert wurde, fiel die 21-jährige Sexarbeiterin Daria Pianko jedoch in dem von 19:00 bis 07:00 Uhr offenen und von den Behörden betriebenen Bereich einem Mord zum Opfer. In einer vor diesem Verbrechen durchgeführten Untersuchung der University of Leeds heißt es: „Die augenscheinliche Abnahme der Polizeipräsenz während der Betriebszeiten gibt Anlass zur Sorge und hat dazu beigetragen, dass sich die Sexarbeiter nicht wirklich sicherer fühlen." Dr. Teela Sanders, die Autorin des Untersuchungsberichts, lieferte dazu noch mehrere Verbesserungsvorschläge—darunter erhöhter Polizisteneinsatz, mehr Straßenbeleuchtung, Überwachungskameras und automatische Kennzeichenerkennung.

Die Gedenkstätte für Dara Pionko | Alle Fotos: Darren O'Brien/Meta4 Photos

Auch wenn man der Polizei von West Yorkshire nicht die Schuld am Tod von Pionko in die Schuhe schieben kann, bleibt dennoch die Frage bestehen, ob die polizeiliche Gewährleistung der Sexarbeiter-Sicherheit im besagten Bereich vernachlässigt oder falsch angegangen wurde. Da andere Behörden ebenfalls über die so noch nie dagewesene Maßnahme nachdenken, sollten die örtlichen Polizeibeamten besser mit gutem Beispiel vorangehen und vernünftige Lehren aus den schrecklichen Vorkommnissen in Holbeck ziehen.

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VICE hat am 8. Januar eine Anfrage bei der Polizei von West Yorkshire eingereicht, in der wir wissen wollten, ob die Empfehlungen von Dr. Sanders in irgendeiner Art und Weise berücksichtigt worden waren und ob die Polizeipräsenz tatsächlich zurückgeschraubt wurde. Am 3. Februar wurde die Anfrage um weitere 20 Tage nach hinten verschoben, denn die Beamten müssen erst noch entscheiden, ob es wirklich dem öffentlichen Interesse dient, diese Informationen rauszugeben.

Trotz der Verzögerung sind wir schon auf Anzeichen gestoßen, dass der verwaltete Bereich finanziell vernachlässigt wird. Während einer Versammlung des Stadtrats von Leeds am 14. Oktober 2015—also mehr als zwei Monate vor Pionkos Tod am 23. Dezember—sprach Angela Gabriel, die Verantwortliche für Holbeck, von einer allgemeinen Unterfinanzierung.

„Es wurden zwar schon Fortschritte gemacht, aber man hat sich dennoch darauf verständigt, dass das Holbecks Problem sei und dementsprechend auch in Holbeck bleiben sollte. Uns stehen kaum finanzielle Mittel zur Verfügung", meinte sie.

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Gabriel hat Interviewanfragen zur genaueren Erklärung der von ihr angesprochenen Punkte wiederholt abgelehnt. Ihre Zurückhaltung passt dabei sehr gut zu der Empfindlichkeit der Personen, die im verwalteten Bereich involviert sind, der von der „Safer Leeds"-Vereinigung in Zusammenarbeit mit örtlichen Sexarbeiter-Einrichtungen geleitet wird.

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Das ganze Projekt ist in vielerlei Hinsicht ein voller Erfolg: Dank eines bemühten Vertrauensbeamten besteht nun ein engeres Verhältnis zwischen den Sexarbeitern und der Polizei, was wiederum zu einem 80-prozentigen Anstieg von zur Anzeige gebrachten Verstößen und Angriffen geführt hat. Zwei Vergewaltiger konnten so hinter Gitter gebracht werden. Alle Partner des Projekts stehen voll und ganz hinter der Sache.

Als ich mit einer freiwilligen Kontaktarbeiterin (die aufgrund der Art der Partnerschaft anonym bleiben wollte) sprach, erfuhr ich dennoch, dass trotz der „großen beidseitigen Bemühungen" keine wirklichen Sicherheitsvorkehrungen bestehen—und das nur, „weil es überall Einsparungen gibt."

Ein Teil des industriellen Grundstücks in Holbeck, wo Sexarbeiter zwischen 19:00 und 07:00 Uhr tätig sein können, ohne eine Festnahme befürchten zu müssen

Und so wird das Budget des Stadtrats von Leeds bis März tatsächlich um 180 Millionen Britische Pfund gekürzt werden—ein Rückgang von mehr als 40 Prozent in 5 Jahren. Die Polizei von West Yorkshire hat mit dem gleichen Problem zu kämpfen: Bis 2017 wird deren Budget um mehr als 30 Prozent gekürzt werden und im November stehen sogar noch zusätzliche Sparmaßnahmen an.

Da ist es natürlich nicht komplett abwegig, wenn ein unter Druck stehender Entscheidungsträger durch die Verringerung der Polizeipräsenz in Holbeck Ausgaben einsparen will—wo die tatsächliche Entkriminalisierung der dort vorherrschenden Sexindustrie möglicherweise sowieso Polizeiressourcen schont. Was die Möglichkeit von zurückgeschraubter Polizeipräsenz ebenfalls wahrscheinlich macht, ist die Tatsache, dass viele Sexarbeiter solche Überwachungsmechanismen sowieso als penetrant empfinden.

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„Das ist einfach nicht gut fürs Geschäft. Ich will das hier einfach nur hinter mich bringen und dann wieder nach Hause gehen. Auf Stress mit der Polizei habe ich gar keine Lust. Ein Beamter meinte mal zu mir, dass ich mit einer solchen Einstellung hier keinen Spaß haben würde. Da dachte ich mir nur: ‚Willst du mich verarschen? Als ob hier irgendjemand von uns tatsächlich Spaß hätte'", erzählte mir die 24-jährige Sexarbeiterin Jane (Name geändert), die heroinabhängig und seit zwei Jahren in dem Gewerbe tätig ist.

Als ich mich im Januar für ein paar Stunden mit Jane traf, wartete sie in dem verwalteten Bereich gerade darauf, von interessierten Männern angesprochen zu werden.

„Wenn mir irgendwas passiert, dann kümmere ich mich selbst darum. Polizei brauche ich hier nicht. Das ist reine Zeitverschwendung. Ich sage dir jetzt mal, wie das hier wirklich abläuft: Die Mädels kommen her, verdienen ihr Geld, gehen wieder nach Hause, besorgen sich ihre Drogen, legen sich schlafen und machen dann am nächsten Tag wieder genau das Gleiche. Dieser Routine folgen sie so lange, bis sie ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen haben", meinte Jane zu mir.

Während meines Besuchs fuhr ab und an mal ein Polizeiauto vorbei und ein Fahrzeug einer unterstützenden Organisation war am Straßenrand geparkt. Am frühen Abend kam auch eine Fahrradstreife durch, aber von Fußstreifen fehlte während meines Aufenthalts in Holbeck jede Spur. Einer der beiden Beamten der Fahrradstreife meinte zu mir, dass die Sexarbeiter in ihrem Arbeitsgebiet am besten gar keine Polizisten sehen wollten.

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„Sarah"

Das trifft auf Sarah (Name ebenfalls geändert) nicht zu. Die 32-Jährige arbeitet schon seit 15 Jahren „immer mal wieder" in Holbeck. Früher war Sarah heroin- und crack-süchtig, aber inzwischen ist sie clean und arbeitet nur noch als Sexarbeiterin, um für ihre Kinder sorgen zu können.

„Ich habe schon seit Jahren gesagt, dass es einen Bereich geben muss, wo alle Sexarbeiter in Ruhe ihrer Tätigkeit nachgehen können", meinte sie zu mir. „Diesen Bereich gibt es jetzt schon eine ganze Weile und die Dinge haben sich dadurch gebessert. Der Vertrauensbeamte, der sich mit uns beschäftigt, macht einen fantastischen Job. Seit dem Mord an Daria sind hier zwar wieder vermehrt Polizisten unterwegs, aber das wird mit der Zeit auch wieder zurückgehen. Wenn man allerdings erstmal in irgendein Auto eingestiegen ist, kann die Polizei auch nicht mehr viel machen. Was wir hier wirklich brauchen, ist eine Reihe von Einrichtungen mit Parkuhren und Überwachungskameras. Man bezahlt, geht rein, die Vorhänge werden zugemacht und dann kann man ohne Sorgen seiner Tätigkeit nachgehen."

Dr. Sanders spricht in ihrem Untersuchungsbericht eine solche Lösung ebenfalls an und fordert die Behörden dazu noch auf, „den Ort, wo die sexuelle Transaktion vollzogen wird, auch als den Ort anzusehen, wo die Sexarbeiter dem größten Risiko ausgesetzt sind. Dieser Ort findet im derzeitigen Modell des verwalteten Bereichs keinerlei Beachtung." Hier in Deutschland, in der Schweiz und in den Niederlanden gibt es bereits Initiativen, die dieses Problem zwar lösen, von Safer Leeds jedoch nicht in Betracht gezogen werden.

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Das Problem besteht darin, dass in diesen drei Ländern Prostitution legal ist und damit geregelt abläuft, während das auf Großbritannien nicht zutrifft. „Leider sind wir an einem solchen Punkt noch nicht angekommen", sagte die oben erwähnte Kontaktarbeiterin bei unserem Gespräch. Und wenn es keine Gesetze gibt, dann müssen die Polizisten und die anderen involvierten Personen alternative Wege finden, die Sexarbeiter von Holbeck zu beschützen, ohne dabei zu aufdringlich zu agieren.

„Der verwaltete Bereich wird im Zuge eines speziellen Überwachungsplans regelmäßig von örtlichen Polizeibeamten patrouilliert", meinte ein Pressesprecher der Polizei von West Yorkshire. Auf meine Frage bezüglich der vermeintlich zurückgeschraubten Polizeipräsenz wollte er keine Antwort geben. „Die Ergebnisse der unabhängigen akademischen Untersuchung, in denen man Überwachungskameras, eine bessere Straßenbeleuchtung und so weiter vorschlägt, werden von Safer Leeds derzeit genauestens geprüft, da es ständig Überlegungen gibt, wie man den verwalteten Bereich als Teil von Leeds' Strategie zum Thema Sexarbeit fortlaufend besser betreiben kann."

Es besteht absolut kein Zweifel daran, dass die Polizeiarbeit in Holbeck ein schwieriges und sensibles Thema ist und dass die Polizei von West Yorkshire mit ihrer Beteiligung an dem Projekt einen mutigen und progressiven Schritt gewagt hat. Trotzdem kann man nur hoffen, dass die Vorzeigestrategie durch erzwungene Sparmaßnahmen nicht wieder in Gefahr gerät.