Wir haben 12 Stunden im begehbaren Wahlprogramm der CDU verbracht
Alle Fotos: Josefine Lippmann

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Bundestagswahl 2017

Wir haben 12 Stunden im begehbaren Wahlprogramm der CDU verbracht

Im fedidwgugl-Haus haben wir versucht, Vorzeige-Konservative zu werden. Zu Besuch bei Merkel-Ultras.

Wir umkreisen den Eingang mit den schwarz-rot-goldenen Streifen wie ein Flugzeug, das auf die Landeerlaubnis wartet. In wenigen Minuten öffnet das #fedidwgugl-Haus, das begehbare Wahlprogramm der CDU. An einer der teuersten Adressen in Berlin-Mitte haben wir eine Mission: Wir wollen einen ganzen Tag im CDU-Haus verbringen. 12 Stunden, um aus uns Vorzeige-Konservative zu machen.

10 Uhr, Begrüßung

Das Erste, was wir drinnen sehen, ist das Herzstück des deutschen Konservatismus. Buchstäblich. Ein riesiges Plüschherz, so groß wie eine Milchkuh und genauso schwer. 750 Kilogramm, bestrahlt von roten LEDs, dazu dröhnt ein Puls im immer gleichen Rhythmus.

Seit knapp einer Woche wirbt die CDU auf zwei Etagen eines ehemaligen DDR-Möbelhauses mit dem Slogan #fedidwgugl um Wähler. "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" – das verunglückte Hashtag sorgte für Häme, die FDP kaperte es. Um zu zeigen, was sich die CDU selbst darunter vorstellt, hat sie das erste begehbare Wahlprogramm der Welt erfunden. Bis zur Bundestagswahl hat es 12 Stunden täglich geöffnet.

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Das Plüschherz am Eingang schlägt rund 30 Mal pro Minute, ruhiger als Ruhepuls, so gleichmäßig und unaufgeregt wie die vergangenen zwölf Jahre unter der Regierung von Angela Merkel. Politische Ausreißer wie die Finanzkrise, die Griechenlandkrise oder die Flüchtlingskrise ignoriert der Herzschlag. Immer gleich pumpt er seine Botschaft: Konstanz.

Der jungen Frau, die am Einlass arbeitet, gefällt das. "Mein Herzschlag hat sich längst daran angepasst", sagt sie. Sie deutet auf das Plüschherz und erklärt, dass die prallen Arterien, die aus Herz hinauswachsen, zu den einzelnen Themenwelten des CDU-Hauses führen. Bumm bumm. "Wirtschaft." Bumm bumm. "Europa." Bumm bumm. "Familie." Dort beginnen wir.


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10:30 Uhr

Knapp 850 Umzugskartons hat die CDU aufgetürmt und im Inneren die Themenwelt "Familie" aufgebaut. Alles ist aus Pappe, bloß ein riesiger Landschaftsteppich mit Spielzeugautos verströmt etwas Farbe. Kinder spielen hier keine. Die Mitarbeiter haben die Modellautos, allesamt Oberklassemodelle, ordentlich in den Parklücken einer aufgeräumten Kleinstadt drapiert. Der Raum ist für die "8,2 Millionen Familien mit Kindern unter 18 Jahren", denen es gut gehen soll, schreibt die CDU auf einem Flyer. Dass in Deutschland jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze lebt, schreibt die CDU nicht.

Im Gegenteil: In Dauerschleife läuft ein Clip, in dem Kinder erzählen, was sie mit dem erhöhten Kindergeld machen würden. Sie wollen das Geld sparen oder für Bücher ausgeben. Es sind brave, niedliche Kinder, die so deutsch aussehen, als spielten sie in Heimatfilmen mit. Ein Mädchen antwortet todernst darauf, was sie sich kaufen würde: "Kartoffeln." Kinder-Deutschland 2017, wie es sich die CDU vorstellt.

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11 Uhr

Im nächsten Raum, er heißt Cyber Hero, sollen wir spielerisch Kriminalität im Internet verhindern – am meisten Spaß macht es, mittels eines bewegbaren Regenschirms ein Kind vor Beleidigungen zu schützen: "Minusmensch", "Buffetfräse", "Tränentier" – was man im CDU-Haus so für Beleidigungen hält, die sich Jugendliche heute an den Kopf werfen.

Die CDU will einen Staat, der die Menschen schützt – auch wenn Vorratsdatenspeicherung oder verstärkte Videoüberwachung die Freiheit der Leute einschränken. Bevor wir aber zu viel darüber nachdenken, gewinnen wir das Spiel: "Sie haben Cybermobbing gestoppt und Deutschland sicherer gemacht!" FUCK YEAH! Mit Dopamin-Overkill und geballter Siegerfaust geht es in die Pinkelpause. Dort fragen wir uns, ob sich die CDU eigentlich ärgert, dass es in diesem Haus nur Unisex-Toiletten gibt.

11:30 Uhr

Im Europa-Raum "Youropa" dürfen wir nicht spielen. Möglich wäre ja ein Frontex-Spiel gewesen, in dem wir der CDU-Forderung folgen und abgelehnte Asylbewerber so schnell wie möglich abschieben. Oder eins, in dem eine Jens-Spahn-Figur englische Sprachpanscher mit dem Duden verprügelt. Aber nein. Hier können wir uns einen von 20 Begriffen aussuchen, den wir mit Europa verbinden. Unterschreiben kann man mit seinem Namen, die Botschaft wird anschließend metergroß auf einen Sternenhimmel projiziert. Wir suchen uns "Gerechtigkeit" aus und unterschreiben: "Nur mit der SPD". Da lacht sogar der verschwiegene Security-Mann ein bisschen.

12 Uhr

In einem namenlosen Nebenraum sind die Roboter "Emma" und "Dave" aufgebaut und müssen die Wünsche der Besucher entgegennehmen. Dazu schreibt man auf ein Touchpad, ein Roboter imitiert die Handschrift, der andere klatscht den kleinen Zettel an die Wand: "WM-Sieg" steht da oder "CDU". Aber auch: "Freibier". Und: "Detlef möchte Wohlstand für alle".

Wir schreiben: "Freiheit für Emma und Dave" – dann gibt es plötzlich Probleme. Dave kriegt es nicht mehr hin, die Zettel aufzunehmen. Wie einem kraftlosen Kranken fällt ihm das Papier herunter. Haben wir mit unserem Wunsch Dave dazu gebracht, die Arbeit niederzulegen? "Probleme mit dem Unterdruck-Ansaug-Mechanismus", erklärt der Mitarbeiter. "Das geht schon den ganzen Tag so."

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14 Uhr

Gegenüber in der Kneipe, wo die Bierdeckel schimmeln und die Polster seit Eröffnung dieselben sind, interessiert sich niemand für den neuen Nachbarn.

Die Wirtin erzählt, dass Angela Merkel sie am Tag der Eröffnung des CDU-Hauses in der Kneipe besucht hat. Persönlich, inklusive Personenschützer vom BKA. Die mächtigste Frau der Welt in einer der schäbigsten Kneipe von Berlin-Mitte. "Die Merkel fragte, ob wir nicht mal vorbeischauen wollen", sagt die Wirtin. "Aber ich musste ja arbeiten." Sie zuckt mit den Schultern, als sei Weltpolitik in dieser Kneipe ein Ärgernis wie getrocknetes Kerzenwachs auf dem Tresen.

Die, die am Tresen sitzen, winken ab. "Guck dir das Pennerpack am Alex mal an, die Ausländer", sagt einer der Gäste. Die anderen am Tresen stimmen grummelnd zu. Die Wirtin versucht abzulenken: "Will jemand 'ne Zucchini geschenkt haben?" Keiner reagiert. "Die hat mein Bruder aus'm Garten. Solche Teile sind das", sagt sie und zeigt ihre Unterarme zum Größenvergleich herum. Jetzt sind alle beeindruckt. Das Beste, da ist man sich hier einig, kommt doch immer noch aus Deutschland.

15 Uhr

Am Eingang des CDU-Hauses läuft jetzt ein Video, in dem Angela Merkel die Besucher begrüßt: "Ein Regierungsprogramm ist ja recht abstrakt. Mit diesem Haus wollen wir erfahrbar machen, wie Deutschland auch in Zukunft ein Land bleiben kann, in dem wir gut und gerne leben."

Der Slogan #fedidwgugl ist Teil der Kampagne, die sich die Werbeagentur Jung von Matt ausgedacht hat. Agentur-Gründer Jean-Remy von Matt sagte in einem Interview mit der Zeit, er habe noch nie ein Produkt beworben, das im Wettbewerb so überlegen war wie Angela Merkel. Die Kanzlerin als konkurrenzloser Marktführer der deutschen Demokratie. Seit Wochen steht die CDU in Umfragen bei knapp 40 Prozent – die Frage dieses Wahlkampfs ist nicht, ob Merkel wieder regiert, sondern mit wem.

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16 Uhr

Der nächste Rundgang: Wir bleiben vor den zwei riesigen Leinwänden links und rechts vom Plüschherz hängen. Dorthin wird projiziert, warum Merkel-Deutschland so lebenswert ist.

"Anteil der Öko-Betriebe von 17.000 auf knapp 25.000 erhöht", steht da. Aber was ist denn mit den Betrieben zur Massentierhaltung, die immer größer werden? Bumm bumm, antwortet der Puls. "In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Studenten um 700.000 erhöht." Aber dafür sitzen auch 40 Leute in einem Seminar.

Der Puls duldet keine Nachfragen. Bumm bumm. Läuft doch. Man braucht keine Lösungen, wenn man keine Probleme hat. Das Haus umschließt uns mit warmem Wohlfühl-Schleim der CDU-Rhetorik.

18 Uhr

Nach acht Stunden im CDU-Haus machen wir noch eine öffentliche Führung mit. Mit dabei: Christine und Charly, beide Ende 60, beide echte Merkel-Ultras. Die Rentner waren so begeistert von Merkels Auftritt auf dem Marktplatz in ihrer Bremer Heimat, dass sie heute morgen extra nach Berlin gefahren sind, um das #fedidwgugl-Haus zu sehen. Dort angekommen kuschelt sich Christine ans Plüschherz, streckt beide Daumen nach oben. Charly spornt sie an und macht ein Foto.

Vor einem wandschrankgroßen Bildschirm bringt der Mitarbeiter, der die Führung leitet, den Besuchern die Merkel-Raute bei. Wer sie vor dem Screen richtig macht, dessen Gesicht wird durch ein Merkel-Emoji ersetzt. Christine schafft es sofort. Wieso findet sie Merkel eigentlich so toll? "Weil sie meine Kanzlerin ist und alles gut macht", sagt sie. Wirklich Lust zu reden, scheint sie nicht zu haben, zu sehr ist sie beschäftigt, darüber zu staunen, wie aus ihrem Gesicht ein Merkel-Emoji wird.

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Wir kriegen die Raute nicht hin, Christine kümmert sich um uns. "Bei Ihnen überlappen die Zeigefinger", sagt sie. "Sie dürfen die Daumen nicht so spreizen." Jetzt funktioniert es, acht Merkel-Emojis stehen vor dem Screen. Christine kennt Merkels kompletten Kalender auswendig: Braunschweig, Fulda, Quedlinburg – innerhalb von zwei Tagen! "Solche Doppelgänger wie wir jetzt sind, wären ja was für die Kanzlerin!"

Im Europa-Raum sucht sich Christine ein Wort aus, unterschreibt mit ihrem Namen und fotografiert den Schriftzug, als der sich auf der Leinwand abzeichnet: "Respekt". Ausgerechnet der zentrale Begriff von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

21:30 Uhr

Spät am Abend kommt ein Mann Anfang 30 ins Gebäude. Er arbeitet für einen hochrangigen SPD-Politiker, er sagt, er sei ein Sozi auf Feindbeobachtung. Im Raum der Familie hört er auf einem Lautsprecher die Geschichte eines Vaters, der die Geburt seines Sohnes verpasst hat. Der Grund: Es gab keine Elternzeit für ihn. "Ich habe viele erste Male verpasst", sagt der Vater, erste Schritte, erste Worte, erste Liebe. Wenigstens sein Sohn könne jetzt das Vatersein genießen, wegen der CDU-Elternzeit. Der Sozi verzieht das Gesicht

"CDU-Elternzeit?", poltert er. "Ja, klar, ein klassisches Unionsprojekt." Das gleiche sagt er bei Kindergelderhöhung, er ist stinksauer. Beide Projekte gehen auf die SPD zurück, beide reklamiert jetzt die CDU für sich. Ein Etikettenschmuggel, das Dilemma der SPD. Merkels CDU verleibt sich alle sozialdemokratischen Erfolge ein. "Jaaaaa! Deutschland geht's ja so geil!" Er hält das nicht aus. "Ich geh mir jetzt einen ballern", sagt er und rennt nach draußen zum nächstbesten Kiosk, um sich ein Beruhigungsbier zu besorgen. Wir folgen ihm. Das haben wir uns nach 12 Stunden im CDU-Haus verdient.

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