"Ich wollte immer Zigeunerin sein": Wir haben das 95-jährige Instagram-Model aus Wien getroffen
Markus Strasser / PARK

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Popkultur

"Ich wollte immer Zigeunerin sein": Wir haben das 95-jährige Instagram-Model aus Wien getroffen

Sogar die amerikanische Vogue hat über sie berichtet. Erni Stollberg lässt der Hype aber eher kalt.

"Es ist halt immer wieder was. Kleinigkeiten." Unseren ersten Gesprächstermin musste Ernestine "Erni" Stollberg absagen. Die 95-Jährige war das Wochenende zuvor im Spital gewesen und brauchte noch Zeit, um sich zu erholen. Eine Woche später sitzt sie mir grinsend, mit azurblau lackierten Fingernägeln gegenüber, eingehüllt in Wide-Leg-Jeans und einen Hauch Gleichgültigkeit gegenüber dem ganzen Internet-Hype, der sich in den vergangenen Monaten um ihre Person entwickelt hat. Ernestine Stollberg ist nämlich das wohl bekannteste österreichische Model seit – naja, seit Larissa Marolt.

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Erni wohnt vis-à-vis vom Wiener Concept Store PARK in der Mondscheingasse. Früher sei sie hier gelegentlich vorbeispaziert, irgendwann habe man sich schließlich kennengelernt, erinnert sich Besitzer Markus Strasser: "Dann haben wir vor zweieinhalb Jahren die Bonni bekommen, und dann bist du öfter gekommen." Bonni ist die cremefarbene Pudeldame, die meistens damit beschäftigt ist, neue Kundschaft zu begrüßen. Erni begann damals, täglich ins PARK zu kommen, um sie zu besuchen – heute kommen Menschen aus aller Welt, um Erni zu besuchen.

Die Idee, Erni als Model für den Instagram-Account des Stores zu verwenden, kam relativ spontan – und erfuhr ziemlich schnell ziemlich viel Zuspruch. Falter und Kurier berichteten 2016 direkt über "Wiens coolstes Model", immer mehr Menschen wurden auf die Bilder, vor allem aber auf Erni aufmerksam. Im April dieses Jahres ruft dann plötzlich die amerikanische Vogue an. "Das hat die große Welle losgetreten", so Markus Strasser gegenüber VICE. Aus den 460 Followern, die der Instagram-Account von PARK noch vor einem Jahr hatte, sind heute über 21.000 geworden.

Der Vogue-Artikel löste einen regelrechten Hype aus. So gut wie jedes internationale Medium hatte schon bald seine eigene Geschichte über das "Austrian Model Who Found Instagram-Fame at Age 95". Jetzt ist Erni Stollberg so etwas wie ein Star, muss asiatischen Touristengruppen, die nur wegen ihr in die Mondscheingasse pilgern, Autogramme geben und mit ihnen für Selfies posieren. Dabei bleibt sie zwar freundlich, wirklich interessieren tut sie der ganze Rummel um sie aber nicht.

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"Ich mache das für mich. Ich ziehe das an, Ich stelle das vor. Ich stelle mich dort hin, damit die Leute sehen, was es für neue Kleidung gibt." – Erni spricht in einem sehr warmherzigen, gleichzeitig aber auch irre pflichtbewussten und selbstsicheren Ton, wenn es um ihren Beruf geht. Denn genau das ist die Arbeit als Model für sie: ein Beruf. Einer, den sie gelernt hat.

Von Kleinauf sah Erni im Tanzen ihre Berufung – und eine Möglichkeit, um aus Wien rauszukommen. "Ich wollte immer ein Zigeuner sein", lacht sie. Nach der Hauptschule tritt sie einer jüdischen Tanzkompanie aus Ungarn bei, flieht 1939 gemeinsam mit ihnen nach Buenos Aires: "Dort sind wir dann herumzigeunert." Erni kehrt erst nach Kriegsende wieder nach Wien zurück. Vielleicht ist das auch eine Erklärung für diese Leichtigkeit, die ihr innewohnt: Sie hat den Krieg in Österreich nie miterlebt.

Ihrer Zeit als Revuetänzerin hat Erni ihr Körperbewusstsein und ihren Sinn für die richtigen Posen zu verdanken. Sie weiß genau, was sie macht, und sie weiß, wie man es machen muss: "Jeder glaubt, man hüpft nur herum. Aber das stimmt nicht." Erni Stollberg ist keine träge Oma, die jemand hinstellt, in Szene setzt und abfotografiert. Diese Frau versteht ihr Handwerk.

Auch PARK-Besitzer (und Fotograf hinter den Instagram-Bildern) Markus Strasser bestätigt Erni ihre Kompetenz: "In dem Moment, in dem sie vorm Spiegel steht, merkt sie, was sie anhat. Elegant, lustig oder trashig – das inhaliert sie irgendwie. Sie kapiert das Thema." Zwischen Model und Fotograf habe sich eine gute Kooperation entwickelt – und nicht zuletzt auch eine enge zwischenmenschliche Beziehung. "Er ist mein bester Freund", sagt Erni über Markus.

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Wühlt man sich durch die bisher entstandenen Instagram-Fotos, fällt vor allem auf, wie vielseitig Erni ist. Markus betont: "Wir fotografieren ja alles an ihr. Auch die Männersachen." Erni ruft aufgeregt dazwischen: "Ich bin ein Mädchen für alles!" Die lustigen Outfits – von Clown bis Ballerina ist alles dabei – sind ihr allerdings am liebsten. Erni hat nämlich Humor, und davon nicht zu wenig. Als ich sie nach ihrer Meinung zu Schönheit im Alter frage, wird sie sogar kurzzeitig zu Konfuzius: "Entweder ich sterbe jung oder ich werde alt." Deep.

Je länger wir uns unterhalten, desto mehr wird klar, dass Erni keine österreichische Iris Apfel, geschweige denn eine Alpen-Baddie Winkle ist – sie ist ein Model. Die ganze mediale Aufmerksamkeit ist ihr dabei schlichtweg egal. Freuen kann sie sich über ihren erhöhten Bekanntheitsgrad am ehesten dann, wenn sie sieht, dass es – und damit auch sie – gut fürs Geschäft ist.

Für Erni ist der Job als Model aber viel mehr eine Beschäftigung, eine Aufgabe, der sie nur allzu gern nachgeht. Sie habe immerhin "sonst nix zu tun". Markus erinnert sich noch an Tage, an denen sie öfters darüber klagte, wie langweilig ihr sei. Sie wollte mithelfen: "Ich muss was tun. Nur dasitzen, das ist nix für mich."

Das Besondere an der Art, mit der Erni die Mode präsentiert, ist aber wohl die Identifikationsfläche, die eine 95-Jährige jungen Mädchen bieten kann. Im PARK erzählt man etwa von Frauen in ihren frühen 20ern, die ein Oberteil an Erni gesehen und es deshalb schließlich gekauft haben. Um Kleidung zu bewerben, muss man eben keine 17 sein. Die französische Journalistin Sophie Fontanel beschreibt diese Entwicklung in einem Kommentar anhand von Ernis Beispiel als "beflügelnd neu".

Ich bitte Erni abschließend, mir die größte aller Lebensweisheiten zu offenbaren – wie umgehe ich Griesgrämigkeit, Langeweile und einen Kleiderschrank voller Beigetöne, wenn ich mal 95 bin? Wie kann ich so sein wie du? "Dazu muss man selbst einen Kopf haben", entgegnet sie mir nur trocken. Und auch wenn es sie vielleicht nicht kümmert, liebe ich sie jetzt noch ein bisschen mehr.

Franz auf Twitter: @FranzLicht
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