Gruppenzwang und Steine in der Lunge: Dieser Mord unter Teenagern schockierte ganz Kanada
Titelbild: Noel Ransome

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Verbrechen

Gruppenzwang und Steine in der Lunge: Dieser Mord unter Teenagern schockierte ganz Kanada

Vor 20 Jahren wurde die 14-jährige Reena Virk brutal ertränkt.

Kelly Ellard sitzt eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes ab. Vergangenen Oktober trat sie vor einen Bewährungsausschuss, um ihre Freilassung zu beantragen. Die junge Frau erzählte, dass sie im achten Monat schwanger sei und ihre zukünftige Mutterrolle sie geändert habe. Sie sehe die Welt nun mit anderen Augen.

Im Laufe der 90er Jahre war Kelly – in den Medien auch "Killer Kelly" genannt – häufig das Nachrichtenthema Nummer eins. Ihre Rolle in einem grausamen Mordfall löste einen wahren Medienrummel um ihre Person und ihre Heimatstadt auf Vancouver Island aus. Ihre Tat wurde in mehreren Kunstprojekten, Gedichten, Theaterstücken, akademischen Essays, Dokumentationen und Büchern verarbeitet. Und selbst heute, also 20 Jahre später, fasziniert das oftmals als "nationale Tragödie" bezeichnete Verbrechen weiterhin Autoren, Produzenten von True-Crime-Podcasts und Jurastudenten.

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1997 machte Kelly Ellard noch einen ganz anderen Eindruck. Die damals 15-Jährige lebte in der malerischen Kleinstadt View Royal, trug eine Kurzhaarfrisur und hatte ein Nasenpiercing. In den Monaten vor dem Mord pflegte sie eine intensive Freundschaft zu einem charismatischen und selbstbewussten Mädchen namens Josephine Bell*. Die beiden verband vor allem ihr Interesse an Gangster-Rap, Serienmördern und rücksichtslosen Männern wie dem ehemaligen Mafiaboss John Gotti. Josephine gab immer damit an, Autos zu klauen und Gangmitglieder zu daten. Außerdem träumte sie davon, eines Tages nach New York zu ziehen und sich der Mafia anzuschließen. "Ich werde die erste Auftragskillerin überhaupt", sagte sie. Kelly hob in ihrem Spind die ganzen Zeichnungen auf, die Josephine angefertigt hatte. Darauf zu sehen: Gangster, die Polizisten erschießen, sowie abgetrennte Köpfe und Hände.


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Im Herbst 1997 sahen die beiden Freundinnen ihre Chance, ihre Fantasien Wirklichkeit werden zu lassen und sich als harte Mädels zu beweisen, mit denen man sich besser nicht anlegt. Als Opfer hatten sie Reena Virk auserkoren, eine schüchterne 14-Jährige mit breiten Schultern und unruhigen Augen, die unbedingt dazugehören wollte. Sie verstieß manchmal gegen die Regeln ihrer Eltern und bewunderte die Sorglosigkeit von Josephine. Innen drin war sie jedoch verletzlich. Und wagemutig. Eines Tages schnappte sie sich Josephines Notizbuch, rief einige darin notierte Nummern von Jungs an und erzählte ihnen, dass Josephine nicht so schön sei, wie sie denke, AIDS habe und falsche Augenbrauen trage.

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Diese aufmüpfige Tat machte Josephine natürlich wütend. Sie schmiedete einen Racheplan und trommelte ihre Freundinnen für eine Abreibung zusammen. So bekam ihre Mutter auch zufällig mit, wie Josephine mit Kelly telefonierte und davon sprach, ein Grab zu schaufeln und ein Mädchen zu vergraben. Der Plan war nicht durchdacht und wirkte eher wie die absurde Gewaltfantasien der beiden Mädchen: mehr Wunsch als wirkliche Bedrohung.

Am darauffolgenden Freitagabend war es jedoch soweit: 50 oder 60 Teenager hatten sich wie jede Woche auf einem Feld hinter einer Schule versammelt, um Alkohol zu trinken und zu feiern. Keiner der Anwesenden wusste von Kellys und Josephines Plan und die meisten hatten Reena noch nie gesehen.

Damals gab es noch keine sozialen Netzwerke und ohne Facebook oder Instagram befanden sich die Teenager quasi in ihrer eigenen, kleinen Blase.

Als die Polizei die Party schließlich sprengte, zogen die Jugendlichen weiter unter eine Brücke. Der Boden dort war abschüssig und führte zu einem Salzwasserzulauf namens "Gorge". Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse: Josephine drückte eine Zigarette auf Reenas Stirn aus. Als Reena aufschrie und sich wehren wollte, schlug Kelly mit geballter Faust zu. Sechs weitere Mädels und ein Junge namens Warren Glowatski mischten ebenfalls mit.

Die meisten anderen Teenager standen nur erschrocken da und schauten dabei zu, wie ihre Freunde brutal auf die wehrlose Reena einschlugen und -traten. Schließlich ging ein Mädchen dazwischen und die Menge löste sich auf. Niemand half Reena, die blutend und weinend im Matsch lag und wenig später über die Brücke nach Hause wankte. Dort sollte sie allerdings nie ankommen. Acht Tage später zogen Polizeitaucher ihre schlimm zugerichtete Leiche aus dem Wasser.

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Während dieser acht Tage brodelten die Gerüchte in den Schulen und Kinderzimmern von View Royal. Damals gab es noch keine sozialen Netzwerke und ohne Facebook oder Instagram befanden sich die Teenager quasi in ihrer eigenen, kleinen Blase. Untereinander diskutieren sie, was mit Reena passiert sein könnte, ohne dass die Eltern, Lehrer und die Polizei etwas davon mitbekamen. Laut einem damals beteiligten Jungen wies man sich gegenseitig an, nichts zu petzen.

Am 24. November obduzierte die Gerichtsmedizinerin Laurel Gray Reenas Leiche. Ihr fielen dabei vor allem die schlimmen Verletzungen auf: "Mehrere Hämatome in der Bauchgegend. Eine Konvulsionsverletzung, die man sonst häufig bei Autounfällen sieht. Schwere Prellungen im Gesicht. Eine Prellung in Form eines Sneaker-Abdrucks am Hinterkopf." Außerdem fand Gray 18 Kieselsteine in Reenas Lungen. So kam sie zu dem Schluss, dass das Mädchen im Wasser noch am Leben war. Tod durch Ertrinken lautete ihr Fazit.

Als der Staatsanwalt Don Morrison bei einer gut besuchten Pressekonferenz Details zu dem Todesfall bekannt gab, stockte selbst erfahrenen Kriminalreportern der Atem. Reenas Mörder war kein Familienmitglied oder irgendein psychisch kranker Mensch. Nein, stattdessen hatte man acht Teenager festgenommen. Sechs Mädchen – darunter Josephine – wurden wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Zwei weitere Jugendliche waren Reena auf die Brücke gefolgt, hatten sie erneut zusammengeschlagen und waren mit ihr wieder runter zum Wasser gegangen. Dort hatten sie das Mädchen schließlich gewaltsam ertränkt. Wegen der Schwere des Verbrechens wurden diese Jugendlichen wie Erwachsene angeklagt. Aufgrund dessen konnte Morrison auch die Namen der beiden preisgeben: Kelly Ellard und Warren Glowatski.

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Von allen festgenommenen Teenagern passte Warren noch am ehesten in das gesellschaftliche Bild eines Kriminellen. Der damals 16-Jährige war ein schmächtiger Junge mit Rehaugen und dunklen Locken. Ansonsten wollte man nicht mit ihm tauschen: Seine alkoholkranke Mutter war Jahre zuvor abgehauen und mit seinem Vater zog er von Wohnwagensiedlung zu Wohnwagensiedlung. In den Monaten vor dem Mord wohnte er bei einem Freund, weil sein Vater nach Kalifornien gegangen war. Warren stand auf weiße Baggy-Hosen, Rap-Musik und die Gang der Crips.

Obwohl er Reena nicht kannte und auch nicht Teil von Kellys und Josephines Plan war, trat er unter der Brücke wie von Sinnen auf das Mädchen ein. Am darauffolgenden Tag sollte seine Freundin dann das Blut aus seiner Hose bleichen. Wie die Polizei später erfuhr, beichtete er besagter Freundin auf Knien, dass er Reena zusammen mit Kelly gefolgt sei und Kelly etwas angestellt habe. Aufgrund dieser Aussage nahm die Polizei Warren fest und verhörte ihn stundenlang, ohne ihm einen Anwalt oder einen Elternteil an die Seite zu stellen. Sein Eingeständnis, hilflos daneben gestanden zu haben, als Kelly Reena ertränkte, wurde spöttisch abgetan. Von Seiten der Beamten hieß es: "Du bist der Mann in diesem Fall … und das wird dir zum Verhängnis!"

Das Justizsystem hatte tatsächlich wenig Mitleid mit dem "Mann in diesem Fall": Im Frühling 1999 bezeichnete der Richter Malcolm MacAulay Warrens Aussage in einem zügigen Gerichtsprozess ohne Geschworene (aber dafür mit einem unfähigen Rechtsanwalt) als "unvollständig und unwahrscheinlich". Die Folge für den jungen Angeklagten: eine lebenslange Haftstrafe in einem besonders berüchtigten Gefängnis. Vor dem Gerichtsgebäude sagte Warrens betrunkene Mutter dann mit Tränen in den Augen: "Er hat das Mädchen garantiert nicht getötet."

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Kelly hatte den verhängnisvollen Abend anders in Erinnerung als Warren. Während des ersten Verhörs sagte sie geradeheraus, dass Josephine auf jeden Fall Reenas Mörderin sein könnte. Josephine sage ja immer komisches Zeug und habe jemanden unter die Erde bringen wollen. Sie halte es für cool, Menschen Schmerzen zuzufügen. Kelly selbst sei da ganz anderes. In den Verhören betete sie nun Stereotype herunter, die sie zuvor immer abgelehnt hatte, sie bestand während der Verhöre darauf, dass "Frauen so etwas nicht machen". Sie stellte sich als den Sündenbock dar – eine Strategie, die ihre Anwälte ebenfalls anwenden sollten. Auch bei Beweisen hatte sie eine Ausrede parat. So hatten Beamte eine schwarze Jacke mit Salzwasserflecken aus dem Gorge gezogen. Leicht zu erklären, meinte Kelly, sie sei in dem kalten Gewässer ja mal schwimmen gegangen. Und als immer mehr andere Jugendliche aussagten, dass Kelly damit angegeben habe, Reena "erledigt" und "den Kopf eines Mädchens unter Wasser gedrückt" zu haben, entgegnete sie: "Das sind alles bloß Gerüchte!"

Der Fall von Reena Virk erzeugte eine Art moralische Panik in Bezug auf Mobbing und Jugendgewalt.

Josephine zeigte mehr Loyalität gegenüber ihrer Freundin: Sie weigerte sich, gegen Kelly auszusagen. "Sehe ich aus wie eine Ratte?", fragte sie ihre Mutter. Als Polizisten ihr die Aufnahmen von Kellys Anschuldigungen gegen sie vorspielten, blieb Josephine locker und stellte sich naiv. "Wir reden nicht über Mord und Gewalt", sagte sie den Beamten, "sondern nur über Zigaretten und Make-up."

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Medien und Öffentlichkeit zeigten sich vom aggressiven Verhalten der Teenager geschockt. Der Fall von Reena Virk erzeugte eine Art moralische Panik in Bezug auf Mobbing und Jugendgewalt. Die kanadische Wochenzeitung Maclean's warnte direkt vor hasserfüllten Mädchen, die "sich unbedingt paaren wollen" und "wegen Jungs immer fiebriger werden". Als die Angst vor aggressiven Teenagerinnen immer weiter zunahm, beschwichtigte ein Jugendexperte die Öffentlichkeit: "Die große Mehrheit der jungen Mädchen tut das, was junge Mädchen schon immer getan haben: zur Schule gehen, Hobbys pflegen und flirten."

Die gewaltbereiten Teenagerinnen wurden also entweder verteufelt oder ignoriert. Das führte zu einem noch nie dagewesenen Justizdrama: Letztendlich stand Kelly Ellard dreimal vor Gericht und es dauerte fast zehn Jahre, bis sie endgültig verurteilt wurde. Während des ersten Prozesses spielte sie das sittsame Schulmädchen mit leiser Stimme und leichtem britischen Akzent. Viele ihrer Verwandten waren bei der Gerichtsverhandlung anwesend. Außerdem stand ihr einer von Kanadas besten Rechtsanwälten zur Seite. Der betonte vor den Geschworenen nochmals, dass die Staatsanwaltschaft weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke noch blutige Kleidungsstücke vorgelegt hatte. "Gerücht plus Gerücht ergibt immer noch Null."

Im Jahr 2000 befanden die Geschworenen Kelly für schuldig. Die Richterin Nancy Morrison lobte damals allerdings Kellys Tierliebe und sprach das niedrigste Strafmaß aus. Sie beschrieb die verurteilte Mörderin als "jung, intelligent und aus einer wunderbaren Familie". 2001 erklärte der Supreme Court of Canada das Urteil für ungültig. Der Grund: Man hatte Kelly unsachgemäß verhört. 2004 fand der zweite Gerichtsprozess statt und die Staatsanwältin Catherine Murray lieferte sich eine wahre Frage-Antwort-Schlacht mit Kelly. Dabei kam auch eine andere Seite der Teenagerin zum Vorschein: Sie rollte ständig mit den Augen und redete in sarkastischem Ton. "Ich bin kein Monster", schrie sie. "Ich werde bis zu meinem Lebensende sagen, dass ich Reena Virk nicht getötet habe!" Als sich die Geschworenen nicht einigen konnten, wurde die Gerichtsverhandlung ohne Ergebnis abgebrochen. 2005 wurde Kelly beim dritten Prozess schließlich ohne die Möglichkeit auf Berufung endgültig schuldig gesprochen.

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Im Gefängnis ging Warren Ärger aus dem Weg, sprach vor gefährdeten Jugendlichen und stieg in ein Programm ein, das zwischen Opfern und Tätern vermitteln soll. Er traf sich mit Reenas Eltern, die seine Entschuldigung tatsächlich akzeptierten und seinen Antrag auf eine frühzeitige Haftentlassung unterstützten. 2010 kam Warren schließlich frei. "Warren war der einzige Angeklagte", meinte Reenas Mutter gegenüber der Presse, "der die Verantwortung für seine Taten übernommen hat." Kelly hingegen pochte weiterhin auf ihre Unschuld und verhielt sich hinter Gittern aufmüpfig. So sind in den Gefängnisakten mehrere Regelverstöße eingetragen: In ihrer Zelle wurden Dutzende Zahnbürsten gefunden, die wohl zu Stichwaffen umgebaut werden sollten, und sie gab zu, jahrelang in Gefängnis geschmuggeltes Crystal Meth genommen zu haben.

Kurz nach ihrem 30. Geburtstag sagte sich Kelly jedoch von allen Drogen los und fing an, in der Gefängnisbibliothek zu arbeiten. Außerdem fand sie einen Brieffreund namens Darwin. Im Oktober 2016 berichtete die Vancouver Sun dann darüber, dass die inzwischen 33 Jahre alte Kelly im achten Monat schwanger sei und vorher mehrmals von Darwin – einem "ehemaligen Verbrecher mit Beziehungen zu einer Gang – besucht worden war. Vergangenen Februar übernahm Kelly bei einer ihrer Bewährungsanhörungen zum ersten Mal die Verantwortung für ihre Rolle im Mord an Reena Virk. Ihre Geschichte klingt aber trotzdem ziemlich dubios: Angeblich brachte sie das bewusstlose Mädchen nur zum Gorge "um Wasser auf Reenas Gesicht zu spritzen", damit die aufwacht. Man genehmigte ihr begleite Freigänge, damit sie ihren inzwischen geborenen Sohn zu Arztterminen bringen konnte. Die Geburt des Kindes war laut Kellys Aussage "sehr motivierend" und "die beste Therapie".

In View Royal sind die Nachwehen des Mordes an Reena Virk immer noch zu spüren. Zwar warf die Tragödie Licht auf die dunkle Welt von jungen, zurückgelassenen und unberechenbaren Mädchen wie Jospehine, aber niemand bemühte sich wirklich, etwas an dieser Situation zu ändern. Mit Seven Oaks wurde kurz nach dem Mord zum Beispiel ein staatliches Heim für davongelaufene Teenagerinnen geschlossen, auch sonst gibt es kaum Sozialeinrichtungen für missbrauchte oder traumatisierte Mädchen. Obwohl Erzieher und Experten immer wieder auf die Notwendigkeit eines Jugendzentrums hinweisen, haben die Lokalpolitiker lieber in den Bau eines Casinos investiert, es wurde nicht weit von der Brücke entfernt errichtet, auf der Reena ihre letzten Schritte getan hat. Auf der dazugehörigen Homepage wird es beworben mit den Worten: "Wo der Spaß beginnt!"

Viele der Mädchen, die damals mit auf Reena eingeschlagen haben, nutzen heutzutage das Internet und teilen in den sozialen Medien Fotos von ihrem Alltag und ihren Familien. Reena Virk kann an diesem modernen Leben nicht mehr teilnehmen. Nach dem Angriff unter der Brücke durchsuchten die Teenagerinnen den Rucksack ihres Opfers und warfen den Inhalt – darunter auch ein Tagebuch – ins dunkle Wasser. Taucher brachten dieses Tagebuch später wieder an die Oberfläche und inzwischen ist es wahrscheinlich irgendwo in einem forensischen Labor oder in einem Aktenschrank weggesperrt. Reenas niedergeschriebene Gedanken, die wir wohl nie erfahren werden, sind alles, was von dem toten Mädchen übrig bleibt.

*Name geändert

Rebecca Godfrey ist die Autorin des Buches Under the Bridge: The True Story of the Murder of Reena Virk.

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