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Weder die Piraterie noch die Amateurmusiker haben das Musikbusiness ruiniert

Die Wahrheit ist, dass die Geschäftsmänner ihre Kontrolle verlieren. Sie müssen nur lernen, damit umzugehen.

Heutzutage werden viel zu viele Diagnosen über die finanzielle Schieflage der Musik- und Filmindustrie angestellt. Dieses Streitthema hat sich zu einer Art Pseudowissenschaft entwickelt, deren Fundament aus fragwürdigen statistischen Analysen und Interpretationen besteht. Die involvierten Akteure schauen sich die Lage an, machen sich ein Urteil darüber und suchen erst im Nachhinein nach den Beweisen, die ihr Fazit untermauern. Der Sündenbock ist schnell gefunden und so sagt man uns, die Piraterie sei an allem schuld. Aber nein, die Piraterie ist lediglich ein leichtes Ziel in einem so wirren Konglomerat von Faktoren. Diese Diagnose ist fehlerhaft und ein einfacher Taschenspielertrick.

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Ich habe schon an anderer Stelle argumentiert, dass das Hauptproblem in der Filmindustrie nicht etwa die Piraterie ist, sondern der Überfluss an beschissenen Produkten—in anderen Worten: schlechten Filmen. Die Zuschauer sind den gängigen Hollywood-Formeln längst überdrüssig. Man könnte meinen, dass es die Lösung wäre, einfach bessere und dynamischere Filme zu machen, doch das entspricht nicht der Hollywood-Realität.

Noch schwieriger als die Diagnose der Filmindustrie-Probleme, oder zumindest das Verständnis der vielen Probleme, gestaltet sich die die Diagnose für die Musikindustrie. Auf Rocknerd argumentiert David Gerard, dass das Vermögen der Musikindustrie nicht durch Piraterie versiegt, sondern weil der Amateurismus ein Marktungleichgewicht hervorgerufen hat.

„Musiker und Plattenfirmen beklagen, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können. Das Problem ist nicht die Piraterie—es ist der Wettbewerb“, so Gerard und fügt hinzu: „Es gibt zu viel Musik und zu viele Musiker, dabei sind die Amateure häufig gut genug für die breite Masse der Öffentlichkeit. Das ist gesund für die Kultur, jedoch nicht für die Ästhetik und erst recht nicht für richtige Musiker.“

Ein bisschen voreilig diese Verallgemeinerung, Herr Gerard. Klar, es gibt unzählige Amateure mit unbeschränktem Zugriff auf Aufnahme-Software, sei sie nun legal erworben oder nur eine Raubkopie. Es ist auch im Bereich des Möglichen, einen ordentlichen Song mit Hype-Potenzial aufzunehmen, bevor man sich überhaupt der Live-Performance widmet. Und ehe man es überhaupt realisiert hat, ist man auf einmal in der gesamten Musik-Blogosphäre wie eine Bombe eingeschlagen. Aber ist das wirklich der kausale Zusammenhang für den Niedergang der Musikindustrie?

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Gerard stellt einige interessante Betrachtungen zur Bequemlichkeit in der Kultur in Bezug auf die Qualität moderner Musik, als auch zu den Bilanzen der Industrie, auf. Aber dabei ist er einfach zu sehr in seine eigene Idee verliebt.

„Ein Laptop für 200 Mäuse mit Linux MultiMedia Studio drauf und schon habe ich eine bessere Studioausrüstung, als wenn ich mir vor 30 Jahren eine für 100 Dollar pro Stunde gemietet hätte“, schreibt er. „Du könntest es mit einem richtigen Tontechniker in einem richtigen Studio natürlich besser machen, aber das musst du gar nicht. Denn immer wenn sich Qualität mit Bequemlichkeit misst, gewinnt die Bequemlichkeit.“

Interessante Theorie, aber leider etwas fehlgeleitet. Es gibt eine Unzahl an Gründen für die Probleme der Musikindustrie, die es nicht erlauben, all das simpel auf die Verdrängung der Professionalität durch Amateurismus zu reduzieren. Es ist wie in einer Welt, in der kommerzielle Einzelhandelsketten (wie z.B. Wal-Mart) scheitern würden, und in der—wie Gerard argumentiert—kleinere Tante Emma-Läden den Markt verdünnen und verderben würden, da sie sich durch einen leichteren Zugang zu besseren Arbeitsmitteln und Distributionswegen (Internet) ein florierendes Geschäftsleben aufgebaut haben, und das obwohl die Mega-Märkte mit ihrer Bequemlichkeit die Qualität dieser Läden übertrumpfen sollten.

Der Fakt, dass das Produzieren von Musik günstig ist und verhältnismäßig einfach von der Hand geht, bedeutet nicht, dass es keine Markteintrittsbarrieren gibt. Es ist noch immer schwierig, die Aufmerksamkeit zu erhalten, gerade im Zeitalter der Hyperaktivität im Internet.

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Der Schuh drückt woanders. Es könnte die Piraterie sein, die vielzähligen anderen konkurrierenden Medien- und Unterhaltungsprodukte, die ökonomische Lage, billige Software, schlechter Musikgeschmack, Streaming-Anbieter, wie viel Geld Teenager und Mittzwanziger in ihren Taschen haben, Veränderungen in der Art, wie Menschen ihr Geld ausgeben und noch eine Vielzahl weiterer Faktoren.

Meine Lieblingstheorie ist jedoch, dass wir bisher noch nicht die besten Kanäle für die Präsentation von Bands gefunden haben, seien es nun Amateure oder Professionelle. Das Problem ist das Rauschen. Was an der Musikindustrie nagt, nagt auch am Internet: zu viel Input erzeugt eine Informationsüberflutung. Eine Indie-Band kann mehrere Jahre im Underground vor sich hinvegetieren und dabei die klassischen Distributionskanäle nutzen, aber wird erst dann beträchtliche Einheiten verkaufen, wenn sie bei Jimmy Fallon oder hierzulande bei Stefan Raab aufgetreten ist. Aber diese Shows sind kein neuer Kanal. Vor Jimmy Fallon gab es in den USA die Ed Sullivan Show und in Großbritannien bspw. Top Of The Pops, das auch in Deutschland (mit etwas weniger Erfolg) ausgestrahlt wurde.

Die Massen haben meistens ein Bewusstsein von den Dingen, denen sie unmittelbar ausgesetzt sind. Sie sind nicht unbedingt sehr daran interessiert, vor allen anderen etwas Cooles entdeckt zu haben. Wie jedes Produkt, das auf dem Markt erfolgreich sein möchte, muss der angebliche Mehrwert zu einem bestimmten Grad in das kollektive Bewusstsein eindringen. Mund-zu-Mund-Propaganda erledigt dann den Rest. Seiten wie Bandcamp oder SoundCloud sind großartig, besonders bei kuratierten oder algorithmischen Empfehlungen—aber trotzdem muss man sich immer noch auf die Suche begeben.

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Der Trick ist, Menschen davon zu überzeugen, dass die Qualität von Musik aus allen möglichen Ecken kommen kann. Dies wiederum benötigt jedoch Kanäle, die durch das Rauschen hindurchschneiden können. Ich habe dafür keine Lösung. Aber ich weiß, dass das Werbebanner irgendeines Labels ganz oben auf einer Musikwebsite niemanden auf eine Band aufmerksam werden lässt. Was ich als lebenslänglicher Fan disparatester Musikstile hingegen weiß, ist, dass während Bands wie Arcade Fire oder Air gut über die Runden kommen, andere Bands (unabhängig von ihrem Talent, Songwriting-Potenzial und ihrer visuellen Präsentation) in verschiedensten Underground-Szenen auch Wellen schlagen können.

Vielleicht würde die Zerschlagung der kommerziellen Radioformate das gewünschte Ergebnis liefern. Die großen Labels liefern den bekannten und den Sendekreis beherrschenden Mainstream-Contemporary-Radios die Songs ihrer Künstler, tackten sie in die Stundenuhr ein und verkaufen teilweise als Gesamtpaket sogar die vollständigen Playlisten. Folgerichtig bleibt im Hörfunk kein Platz für alles, das nicht bei den großen drei Majorlabels unter Vertrag steht. Das hat das Zeitalter der homogenisierten Scheißmusik eingeläutet, von dessen Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners der Hörer am Ende des Tages dann aber doch die Ohren voll hat und abschaltet.

Wie wäre es denn, wenn es verschiedene TV-Shows oder Web-Serien geben würde, die sich der Aufgabe widmen würden, erstklassige, unbekannte Bands zu finden und zu präsentieren. Würde so etwas funktionieren? Das weiß wahrscheinlich niemand so genau, aber auf jeden Fall würde so etwas nicht im Programm einer kommerziellen Sendekette geschehen, wo sich der gemeine Anzugträger dann doch lieber für das leicht verdiente Geld aus schnell zusammengeflickten Reality-TV-Formaten und popmusikalischer Programmgestaltung entscheidet.

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In meinem Empfinden bestärken mich auch die immer häufiger auftauchendes Crowd-Sourcing-Aktionen für die Finanzierung von Alben. Klar, es gibt wirklich beschissene Bands, die versuchen Geld für ihren Müll auf Kickstarter und Indiegogo zu sammeln. Aber wenn Menschen für Müll bezahlen wollen, um diesen dann zu konsumieren, dann ist das doch schön—das ist der amerikanische, globalisierte Lifestyle. Aber das Gute wird sich immer aus der eigenen Scheiße erheben können und vielleicht entwickelt sich eine neue Finanzierungsform aus diesen Crowd-Funding-Seiten.

Trotzdem spricht das alles noch nicht einen elementaren Diskussionspunkt an: denn die Leute, die sich wirklich über die Einnahmerückgänge in der Musikindustrie beschweren, sind nicht etwa die Musiker, sondern die Nicht-Kreativen, die im Hintergrund ihre Arbeit verrichten. Künstler machen noch immer das, was sie wollen. Es ist der gemeine Anzugträger, der hier so durchdreht—die Personen, die das Geld auf dem Rücken der Leute mit wahrem Talent ernten. Warum hören wir davon sonst immer und immer wieder?

Die Wahrheit ist, dass die Geschäftsmänner ihre Kontrolle verlieren. Die Künstler hingegen nehmen nun zum ersten Mal die Kontrolle selbst in die Hand und probieren sich mit all ihren neuen Einflussbereichen (Kreation, Distribution, Videoproduktion, Image, etc.) aus, genauso wie sich die Hörer und Konsumenten mit dem Erfahren von Musik ausprobieren. Die alte Ordnung kollabiert, eine neue erhebt sich. Es ist ein bisschen wie damals, als sich Ende der 60er in den USA eine neue Generation von Filmemachern des programmatischen New Hollywoods aufmachte, die Paradigmen der Hollywood-Klassik zu durchbrechen, oder als sich die französische Nouvelle Vague gegen das Cinéma de Papa auflehnte. Beide Systeme waren reif für den Zerfall, während eine neue Generation sich bereits für die Machtübernahme vorbereitete.

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Musiker werden immer Musik erschaffen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine Industrie (in traditioneller Form) gibt oder nicht. Diejenigen, die ihre Hände auf der Spitze der marktökonomischen Pyramide aufhalten, sollten Änderungen treffen, denn eine neue Ordnung ist im Entstehen. Die harte Wahrheit ist, dass sie einfach lernen müssen, damit umzugehen.

Dieser Artikel ist auf unserer Schwesterseite Motherboard erschienen.

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