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Während des Anschlags überraschte es mich, wie mein Körper reagierte. Als die ersten Schüsse fielen und sich deswegen jeder auf den Boden warf, dachte ich darüber nach, wie komisch es eigentlich war, dass mein Herz nicht zu rasen und mein Körper nicht zu zittern anfing. Ich war einfach nur ruhig und versuchte auch nicht, irgendwie zu fliehen oder einen Ausweg zu finden. Ich habe mich einfach von den Geschehnissen leiten lassen, was ein zu intensives Nachdenken verhinderte und deshalb auch kein Angstgefühl hervorrief. Die Tatsache, dass sich mein Freund Florian immer in meiner Nähe befand, war mit Sicherheit ebenfalls hilfreich.Ich geriet jedoch in Panik, als Florian und ich die Tatsache ausnutzten, dass viele Leute aufstanden und nach draußen rannten. Wir nahmen das Heft quasi selbst in die Hand und hörten auf, Opfer zu sein. In diesem Moment war ich mir allerdings nicht sicher, ob eine Flucht wirklich so klug ist, denn die Terroristen hatten vorher bereits mehrere Menschen erschossen, die entkommen wollten. Diese Entscheidung fiel mir extrem schwer.Motherboard: Warum konnten die Geheimdienste die Pariser Anschläge nicht vereiteln?
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Es wurden erneut Schüsse in unsere Richtung abgefeuert und wir mussten uns deswegen wieder hinlegen. Ich fragte mich, ob ich aufgeben und mich eher passiv verhalten oder einen neuen Fluchtversuch starten sollte. Es fiel mir nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen. Florian erging es genauso.Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich mich an die 30 Sekunden des Entkommens erinnern konnte—mein Gehirn hat diesen kurzen Moment irgendwie gelöscht. Und selbst jetzt kommen mir nur ein paar wenige Bilder ins Gedächtnis.Ich habe den Ernst der Lage erst begriffen, als ich die verletzten Menschen auf dem Bürgersteig vor dem Bataclan erblickte. Sie setzten mir mehr zu als die Leichen, die ich in der Konzerthalle gesehen hatte. Etwas später sind wir dann zusammen mit einigen anderen Überlebenden in eine nahegelegene Wohnung gegangen. Die Atmosphäre war total surreal. Niemand konnte begreifen, was wir da gerade erlebt hatten. Wir schalteten das Radio ein und jeder weinte, als ein Mann beschrieb, was er gesehen hatte. Das ganze Ausmaß des Horrors wurde mir jedoch erst klar, als mir Videos gezeigt wurden und noch weitere Leute über die Geschehnisse redeten.Während dieses Wochenendes konnte ich nichts Anderes machen, als alles zu lesen oder anzuschauen, was mit den Anschlägen zu tun hatte. Ich gab mir alle Videos und selbst die schrecklichsten Bilder, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich musste mich davon überzeugen, dass das alles wirklich passiert ist. Ich weiß noch, wie ich die Aufnahmen eines Journalisten sah, die er von seiner Wohnung neben dem Bataclan aus gemacht hatte. Ich hörte die Schreie und die Schüsse und fühlte eine gewisse Distanz.Ich frage mich die ganze Zeit, wie es mir möglich sein kann, mein Leben so normal weiterzuleben, wenn doch so viele Menschen gestorben sind.
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Schließlich wurden wir in die Konzerthalle gebeten. Als ich den Zettel, der mir an der Garderobe gegeben worden war, vorzeigen sollte, wurde mir plötzlich total bewusst, wie wichtig mir die Dinge waren, die mich an die Anschläge erinnern. Ich wollte den Zettel behalten, obwohl er mit Blut vollgeschmiert war. Gleiches gilt für das eigentliche Konzertticket. Ich würde es für nichts in der Welt hergeben. So denke ich auch über die Klamotten, die ich an diesem Abend trug. Meine Mutter wusch sie, weil sie ebenfalls voller Blut waren. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich sie einfach ungewaschen in einer Box aufbewahrt, um sie von Zeit zu Zeit betrachten zu können. Keine Ahnung, warum ich das will—vielleicht habe ich Angst, dass mit der Zeit bestimmte Erinnerungen verloren gehen. Ich weiß, dass andere Überlebende genau das Gleiche tun. Ich habe meine ebenfalls blutverschmierten Schuhe in eine Ecke meiner Wohnung gestellt und sie seitdem nicht mehr angefasst. Natürlich sind sie ziemlich eklig, aber ich muss sie einfach behalten.VICE Sports: Wie der Terror den Fußballalltag in Belgien regiert
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Seit dem 13. November bin ich viel unentschlossener und neige mehr zu Stimmungsschwankungen als zuvor. Ich schmiede irgendwelche Pläne und entscheide mich dann doch wieder anders. Das war eigentlich nie typisch für mich. Auch habe ich das Interesse an bestimmten Dingen und Aktivitäten verloren. Mein angefangenes Studium wird zwar noch lange dauern, aber ich frage mich, warum ich es überhaupt angefangen habe. Welchen Zweck hat das Ganze denn, wenn alles innerhalb von einer Sekunde vorbei sein könnte?Eine Weile bin ich auch zu einem Psychiater gegangen. Dort habe ich viel geredet und geweint, was mir richtig gut getan hat. Ich habe auch mit meiner Familie eingehend über die Geschehnisse gesprochen, aber dabei konnte ich ihnen nicht erzählen, wie es in mir drin aussieht, denn sie sollten sich keine Sorgen machen. Außerdem wollte ich ein paar Dinge einfach für mich behalten.Wenn ich mit anderen Menschen über die Tragödie rede, dann ist mir das manchmal unangenehm. Ich mag es auch nicht, wenn meine Verwandten darüber sprechen, denn sie wissen nicht zwangsläufig, wie man dieses Thema richtig angeht. Woher auch? Ich glaube nicht, dass sie verstehen können, was ich durchgemacht habe—selbst dann nicht, wenn ich ihnen alles erzähle. Paradoxerweise konnte ich in den Wochen nach den Anschlägen über nichts anderes reden. Deshalb wollte ich auch viel Zeit mit Florian verbringen, der zwar kein wirklich guter Freund von mir war, es nach dem 13. November jedoch wurde. Nur er konnte mich wirklich verstehen.Die Tatsache, dass meine Freunde die Anschläge nicht mit mir erlebt haben, hat eine gewisse Distanz zwischen uns geschaffen. Einige von ihnen meinten zu mir, dass alles gut sein würde, weil ich ja noch lebe. Als sie wussten, dass ich überlebt hatte, war ihnen egal, wie viele andere Menschen umgebracht wurden. Das kann ich nur schwer akzeptieren, weil ich mich als Teil der Gruppe ansehe, die an diesem Abend zusammenkam—also die Opfer und die Überlebenden vom Bataclan. Ich fühle mich den Leuten verbunden, die fast mit mir zusammen gestorben wären, obwohl ich sie nicht kenne und sie wohl auch nie wieder sehen werde. Ich habe an diesem Abend vielleicht keinen geliebten Menschen verloren, aber es ist trotzdem schwer zu begreifen, dass wir mit dem Leben davongekommen sind, während das bei 90 anderen Leuten nicht das Fall war. Das Gefühl, diese Leute im Stich gelassen zu haben, ist grauenhaft. Seitdem sehe ich nichts mehr als selbstverständlich an, weil alles von einem Moment auf den anderen vorbei sein kann.*Alle Namen geändertIch fühle mich den Leuten verbunden, die fast mit mir zusammen gestorben wären, obwohl ich sie nicht kenne und wohl auch nie wieder sehen werde.