Die Autorin vor der Tankstelle; Ich habe 24 Stunden an der Tankstelle verbracht
Alle Fotos: Philipp Sipos
Menschen

Ich habe 24 Stunden an der Tankstelle verbracht, um mal wieder was zu erleben

Wenn es im Lockdown noch irgendwo Action gibt, dann zwischen Instant-Nudeln und Rockstar-Energy.
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24 Stunden

Heute ist es -3 Grad kalt. Die Hauptstraße, die sich beharrlich Brandenburg nähert, erzählt etwas vom Sommer. Eine Cocktailbar heißt Cancún. Bunt ziert der Schriftzug das geschlossene Lokal. Die Happy Hour habe ich um ein paar Monate verpasst. Der "Pool- & Saunashop Seeigel" liegt auch nicht weit weg. Weiter vorne an der Fassade von Jacques' Wein-Depot scheint die Sonne auf Weinberge. 

Schließlich komme ich bei der Tankstelle an. Neben Supermärkten sind Tankstellen Orte, die während Corona noch fast so funktionieren wie davor. Es ist 11 Uhr. 24 Stunden will ich hier verbringen. 

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Eigentlich ist eine Tankstelle kein Ort, an dem man bleibt. Lichtenrade am Rande Berlins ist einer dieser Orte, durch die man auf einer langen Autofahrt fährt, sich die Straßen anschaut und fast schon überrascht ist, wenn man merkt, dass hier Menschen wohnen. Menschen, denen dieser Ort vertraut ist, die jede Ecke und jeden Zebrastreifen kennen.


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Der Pächter empfängt mich im Shop. Er hält mir seine Faust zur Begrüßung hin. Er erinnert mich an Morgan Spurlock, bevor dieser sich für das McDonald's-Experiment einen Monat McBauchfett angefressen hat. Er führt mich durch die Tankstelle und ist sehr stolz auf den Warenaufzug. Seine einladende Art gibt mir fast das Gefühl, hier ein bisschen zu Hause zu sein.

Tankstelle und Bierkästen

Ich lehne mich zwischen der Kaffeemaschine und dem Weinregal an die Wand. Von hier aus sehe ich den ganzen Shop. Es ist der dritte Montag im Januar, der traurigste Tag im Jahr. Oder vielleicht auch nicht. Das sagt aber zumindest ein britisches Reiseunternehmen. Unter Berücksichtigung von Variablen wie Wetter, Motivationslevel oder Zeit, die seit Weihnachten vergangen ist, wollen sie den traurigsten Tag berechnet haben. Blue Monday. Wahrscheinlich Blödsinn. Aber während ich hier so neben dem Tetrapak-Wein und halbtrockenem Rotkäppchen stehe, scheint mir das Ganze schon sehr plausibel. Ein Mann will sich von irgendeinem britischen Reiseunternehmen nichts sagen lassen. Er nimmt sein Glück selbst in die Hand. An einem Stand vor mir füllt er einen Lottoschein aus.

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Ich denke daran, wie ich sicher später müde werde, aber das macht mir nichts aus. Der erste Club, den ich als Teenagerin regelmäßig besuchte, hieß Tankstell. Vor dem Lokal stand noch eine alte Zapfsäule. Der Raum war klein und wurde deshalb immer sehr warm. Und weil so wenig Platz war, türmten sich an den Seiten die Jacken vom Boden in die Höhe. Wenn der Pulli dann auch auf dem Stapel gelandet war, gingen wir verschwitzt raus, meine Freunde für eine Zigarette und ich für eine Erkältung. In der Tankstell bot uns manchmal so ein Typ in seinen Vierzigern mit einem Kunstkritiker-Schal über der Schulter Koks an. Und wir lehnten ab und versuchten uns diese "Aha, so läuft das."-Überraschung nicht anmerken zu lassen.

Collage Bockwurst und die rauchende Autorin

Immer wenn ein Kunde durch die Schiebetür tritt, trifft eisige Luft meine Beine. Die Bockwürste liegen in ihrem Glasgefängnis, wie faltige, alte Männer in einer Sauna. Kondenswasser sammelt sich an der Scheibe und ich bin neidisch, weil ihnen bestimmt nicht kalt ist.

Ich schaue mir die Auslage an. Buletten, Sandwiches, Mettbrötchen, Hamburger. 

Ich bin sein ein paar Wochen Vegetarierin. Vegetarierin zu werden, habe ich halbherzig entschieden. Eigentlich habe ich es gar nicht aktiv entschieden. Es ist mir passiert. In einem Taxi vom Bahnhof nach Hause, habe ich meinem Taxifahrer gesagt, dass ich Vegetarierin sei. Jetzt will ich Mesut nicht anlügen. Vielleicht muss ich ihn aber in den nächsten Stunden doch enttäuschen. Alles in der Auslage sieht so aus, als wäre es ein bisschen drüber, aber auch, als würde es alle Kriterien für den perfekten Reisesnack erfüllen: Salz, Fett, Weißbrot, geil.

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Beim Schichtwechsel um 14 Uhr frage ich den Mitarbeiter der Spätschicht, wie oft er am Tag die Benzinpreise verändern muss.

"Die werden nicht von uns verändert." Die Preise werden intern festgelegt und automatisch verändert. An der Kasse wird dann ein Beleg ausgedruckt bei jeder Anpassung. "Wir haben gar keinen Einfluss. Sollte mal etwas nicht stimmen mit den Zahlen, dann gibt es nicht mal eine Telefonnummer, die wir anrufen können." Ich stelle mir vor, wie Leute mit Anzug und Gelhaaren wie Götter auf dem Olymp in einer Zentrale sitzen und die Zahlen hoch- und runterschrauben. Die Götter schicken ein Gewitter. Oder Dieselpreis 1 Euro 23.

Collage Autorin und Waschanlage

Ich gehe raus und stelle mich an die Ecke. Neben mir biegt die Straße Richtung Autowäsche ab. Vor der Tankstelle liegt Berlin-Lichtenrade traurig und nass da. Die KFZ-Prüfstelle gegenüber, die Parkgarage dahinter und die Straße samt verschneitem Mittelstreifen haben sich auf grau geeinigt. Meine Stimmung auch. Wie ein Freizeitpark in staubigen Vororten, hebt sich einzig die Tankstelle leuchtend und laut von der Umgebung ab. Jedes Schild ist rot und will etwas von mir. Zum Beispiel, dass ich gewinne oder Kaffee trinke oder irgendwelche Punkte sammle.

Der Ofen klingelt einmal. Der Tankstellenangestellte macht sich eine Dose Cola auf, öffnet die Tür und stellt sich dann vor den Ofen in die Wärme.

"Schnellen Feierabend", wünscht ihm ein Kunde und es fällt mir schwer, es nicht auf mich zu beziehen. Ich fühle mich lächerlich. Es ist 19 Uhr. Michels Schicht ist schon um 22 Uhr vorbei. Ich erkläre ihm, dass meine noch bis 11 Uhr dauert. 

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"Mit 23 macht das der Körper noch mit. Nach 25 geht es dann bergab."

"Gut, dann habe ich ja noch ein bisschen Zeit."

"Dann hast du noch viel Zeit."

Ich frage Michel, was wohl das unbeliebteste Produkt hier ist. Er zeigt auf eine Essigflasche für 1.99 Euro im Regal mit den Kaffeekeksen und Instantnudeln.

"Steht hier schon ewig. Die nervt uns bei jeder Inventur. Ich hoffe, dass jemand sie aus Versehen runterschmeißt." 

Ich überlege, ob das vielleicht meine Aufgabe für die Nacht sein könnte.

Vor ein paar Monaten gab es hier einen Überfall. Michel erzählt mir, dass der Nachtwächter, der später kommt, vor Ort gewesen ist. Gegen 22 Uhr an einem Novemberabend hat ein Typ mit Sturmmaske den Kassierer bedroht. Seine Hände haben gezittert, während er die Waffe auf ihn gerichtet hat. Der Kassierer hat ihm das Geld übergeben. Der Täter hat selbst so sehr Angst gehabt, dass er bei der Flucht aus dem Laden die Hälfte des Gelds verloren hat. 

"Wenn euch das nächste Mal jemand ausraubt, solltet ihr dem Typen vielleicht auch noch die Essigflasche mitgeben", sage ich.

Michel gibt mir einen Tipp: "In dieser Hose würde ich uns zum Beispiel nicht ausrauben. Der Wiedererkennungswert ist zu hoch." Er zeigt auf meine Leggings mit Leopardenmuster. Ich bedanke mich für den Rat und sage ihm, dass ich das Diebesgut mit ihm teile, wenn ich mal in schwarzen Leggings vorbeikomme und was klaue.

"Fifty-fifty, oder?"

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Michel und ich stellen uns vor das Regal mit den Energydrinks. Ich will wissen, welcher wohl am besten schmeckt, wenn ich mich um 5 Uhr übermüdet frage, ob ich die nächsten Stunden noch durchhalte. Mit 16 habe ich versucht Rockstar-Energydrinks zu mögen. Geklappt hat das damals genauso wenig, wie mal an einem Joint ziehen ohne schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich kann ich beides immer noch nicht.

"Wenn ich hier bin, dann trinke ich ganz gerne Cola. Vielleicht weil es hier überall so bunt ist", sagt Michel. 

Nach mehreren Stunden, umgeben von begeisterten Lottospielern, kann ich mich nicht mehr beherrschen. Ich will das erste Mal in meinem Leben Lotto spielen. Im Jackpot sind sechs Millionen Euro. Wenn das Glück irgendwo heimisch ist, dann wohl hier zwischen Instant-Nudeln und Rockstar-Energy.

Ich verspreche Michel, meinen Gewinn mit ihm zu teilen.

Während Kunden ein und aus gehen, stehe ich am Tresen und frage Michel, was er macht, wenn er Feierabend hat.

"Ich gehe mit meinem Hund spazieren."

"Oh, du bist also eine Dog-Person?", will ich fragen, weil ich glaube, dass man das wohl so macht. Doch dann lasse ich es, weil ich nicht ganz weiß, was ich mit seiner Antwort anfangen würde.

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Die Mitarbeitertoilette ist im unteren Stockwerk. Während ich mir die Hände wasche, stelle ich mir vor, wie es wohl wäre nach einem Überfall auf der Flucht zu sein. Ich reiße mir ein blutiges Hemd vom Körper und klatsche mir Billighaarfarbe in Samtbraun oder Espresso auf den Kopf, damit ich untertauchen kann. So ein Typ mit Zigarette oder Zahnstocher im Mundwinkel und ungeknöpftem Hemd würde mit dem Fluchtwagen vorfahren. Mit 200 km/h würden wir dann über irgendeine brandenburgische Landstraße brettern und dabei knutschen.

Die Kaffeemaschine neben mir reinigt ihre Schläuche. Ein Kunde will Säule 11 bezahlen.

Um 22 Uhr wird die Spätschicht vom Nachtwächter abgelöst. Der neue Typ ist groß, trägt riesige Kopfhörer und Totenkopfringe an seinen Fingern. Ich verabschiede mich von Michel. Ich sage ihm, dass ich dann am Mittwoch wieder vorbeikomme, wenn ich im Lotto gewonnen habe. Und dann erklärt er mir, dass wir dann in die Lottozentrale müssten und da soll es richtig schön sein. Ich freue mich schon.

Die Autorin sieht fertig aus vor der Tankstelle im Dunkeln

Der Nachtwächter ignoriert mich erst eine Weile. Er packt acht Energydrinks aus, Proteinchips und -riegel. Dann sagt er mir, dass er mich rausschmeißt, wenn meine Reportage seinen Arbeitsalltag behindern sollte. Hier gelten seine Regeln. Ich lasse ihn von sich selbst erzählen. Zu Hause hat er drei Katzen. Er hat gerade schon ein paar Koffeintabletten intus. Er ist Berliner. Die Art Berliner, die unhöflich ist und dir die eigene Unhöflichkeit als Authentizität verkaufen will. Einmal muss ich ihm klarmachen, dass ich jetzt echt nicht über meinen Arsch sprechen will.

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Unsere Unterhaltung wird immer wieder von Kunden unterbrochen. Sie kaufen Red Bull. Ein alter Mann kommt ohne Maske rein, um sich ein Magazin mit dem TV-Programm zu kaufen.

Nach 23 Uhr gibt es an der Tankstelle einen Nachtschalter. Der Nachtwächter muss sich den ganzen Abend wiederholen. Die Kunden am Nachtschalter machen alle dieselben Fehler. 

"Kannst du mal die Säule anmachen."

"Na, welche denn von den vielen?"

Alle muss er daran erinnern, dass sie ihre Hände nicht im Ausgabefach einklemmen.

"Finger weg, sonst sind sie ab. In der aktuellen Lage ist Krankenhaus nicht so pralle."

Viele sehen gar nicht, dass sie einen Knopf drücken müssen, um ein Signal an das Headset zu schicken. Manche klopfen an die Scheibe, um auf sich aufmerksam zu machen, rufen laut. Doch er bleibt ruhig und ignoriert sie, bis sie die Klingel endlich finden. Er schmiert die Burger oder Mettbrötchen und wenn das Headset klingelt, sagt er:

"So, jetzt verstehe ich auch, wenn du was sagst."

Manchmal antwortet er mir so schnell, als würde er mir widersprechen wollen, bevor ich überhaupt etwas gesagt habe.

Desinfektionsmittel, Blumen, die Autorin vor dem Tresen

Er sagt mir, dass ihm direkt klar war, dass ich aus der Schweiz wäre und jünger als 24. Er habe nämlich viele kluge Psychologiebücher zu Hause. Vielleicht langweile ich mich gerade, weil ich so vorhersehbar bin, nicht weil ich schon so lange hier bin.

Trotz seiner hervorragenden Menschenkenntnis hat er es irgendwie hingekriegt, mir bisher keine einzige Frage zu stellen. Nachdem er mir erklärt, warum Journalisten nichts können, und mir kurz mal keine Frage mehr einfällt, sagt er: "Wenn du nicht mit mir sprechen willst, dann kann ich auch Musik anmachen." 

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Ich habe echt kein Bock auf Böhse Onkelz. Und dann stelle ich noch mehr Fragen. Er erzählt mir von seiner Hantelbank und ich halte ihn höflich davon ab, mir seinen Eightpack zu zeigen. Ich frage ihn, wie er den Überfall erlebt hat.

"Das war keine echte Waffe. Schreckschusspistole."

Auf meinem Handy mache ich Notizen.

"Du bestätigst meine Vorurteile", grinst der Nachtwächter. "Frauen und ihre Handys."

Nur ein Klischee zu erfüllen, reicht mir nicht. Kurz vor 2 Uhr lese ich mein Horoskop in jeder Lifestyle-Zeitschrift.

TV Piccolino: "Im Job wird Einsatz belohnt." 

Auch die anderen Magazine bekräftigen mich in meinem heutigen Vorhaben.

"Lob und Anerkennung sind Ihnen sicher, was kein Wunder ist, schließlich sind sie mit Feuereifer bei der Sache!", klopft mir die Woche für mich auf die Schulter und ich denke an meine Augenringe.

Freizeit für mich sagt: "Man wird Ihren Einsatz und Ihre Treue jetzt honorieren. Zudem können Sie durch gute Ideen punkten." Vielleicht sind Horoskope ja Empfehlungsschreiben des Universums.

Der Nachwächter stellt mich allen Stammkunden vor, die zum Schalter kommen. Ein Fleischwarenverkäufer aus Brandenburg winkt mir zu.

Während Corona ist der Verkauf von Alkohol nach 22 Uhr verboten. Eine Frau versucht es trotzdem und fragt nach Beck's Gold. Sie ist nicht die einzige. Der Nachtwächter muss die Kunden immer wieder daran erinnern. Es scheint kein Problem für ihn zu sein, das Rauschen aus dem Hörer als Worte zu entziffern. Eine Frauenstimme nuschelt ins Headset und er bringt zwei Dosen Mountain Dew zum Fenster.

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Die grellen Farben tun mir in den Augen weh. Hier stehe ich am traurigsten Tag des Jahres am buntesten Ort der Welt. Es ist 5 Uhr, ich bin todmüde und trinke meinen ersten Kaffee.

Die Autorin vor der Tankstelle

Vielleicht ist es meine Müdigkeit, vielleicht das Summen der Kühlschränke, aber heute morgen klingt jedes Lied wie eins, das ich kenne, aber dessen Namen ich vergessen habe.

Die Frühschicht erzählt einem Kunden von meinem 24-Stunden-Vorhaben und er fragt sie:

"Was soll das bringen?"

"Das weiß ich nicht." Weil ich mich gerade zu jedem Gedanken zwingen muss, tue ich das auch nicht mehr. 

Ich esse ein Nuss-Nougat-Croissant in der Hoffnung auf ein Zuckerhigh, aber es bleibt aus. Ich erinnere mich daran, dass Michel mir gestern Abend noch den Tipp gegeben hat, mich kurz in den Kühlraum zu stellen, wenn ich müde werde. Die 2 Grad vor der Tankstelle reichen mir. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren, lasse mich von einer Rapperin anschreien. Die Stunden passieren. Ein Lastwagen und ein Auto fädeln sich zwischen den Zapfsäulen ein.

Um 11 Uhr bin ich so müde, dass ich mich nach Hause kutschieren lassen muss. Meinem Uberfahrer erzähle ich von meiner Reportage. Er sagt: "Stabil."

Dann lasse ich ihn sprechen. Er erzählt mir etwas von Herdenimmunität. Und ich denke an die sechs Millionen im Jackpot. 

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