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Krankheit

Essen, bis der Magen platzt: ein Leben mit dem Prader-Willi-Syndrom

Das Prader-Willi-Syndrom ist eine seltene genetische Behinderung, die durch ein ständiges Hungergefühl geprägt ist. Patienten hab keine Kontrolle über ihre Nahrugsaufnahme und ein geplatzter Magen ist keine seltene Todesursache.
Foto von Jake Stimson via Flickr

Kurz nachdem Tyler Jarvis seine Aussage für die Anklagen wegen Gelegenheitsdiebstahls, schweren Hausfriedensbruchs und versuchten Hausfriedensbruchs verweigerte, bekam er Hunger.

Ohne zu zögern, drehte er sich im Gerichtssaal zu seiner Mutter und sagte: „Ich will, dass das jetzt vorbei ist, damit ich nach Hause gehen und etwas essen kann." Unter normalen Bedingungen würde man das als komplette Respektlosigkeit gegenüber der Etikette vor Gericht werten, aber Tyler Jarvis' Fall ist alles andere als normal.

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Er leidet am Prader-Willi-Syndrom (PWS), einer seltenen genetischen Störung, die unter anderem von einem ständigen Hungergefühl geprägt ist, das Probleme der Impulskontrolle, lebensbedrohliche Adipositas und in extremen Fällen Essanfälle bis die Magenwände platzen, verursachen kann.

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Und wenn man ständig davon überzeugt ist, gleich zu verhungern und sein impulsives Verhalten nicht gut kontrollieren kann, überrascht es wohl kaum, dass es bei Patienten mit diesem Syndrom hin und wieder zu Zwischenfällen mit dem Gesetz kommen kann.

Merlin G. Butler ist ein Professor der Psychiatrie, Verhaltensforschung und Pädiatrie am medizinischen Zentrum der University of Kansas. Dr. Butler erforscht seit mehr als drei Jahrzehnten das Prader-Willi-Syndrom und für ihn ist Tyler Jarvis' Fall ein Paradebeispiel.

„Das ist nicht der erste Fall dieser Art. Jedes Jahr gibt es mehrere ähnliche", sagt er. „Diese Patienten haben Lernschwierigkeiten und Probleme mit einem sehr starken Verlangen nach Essen. Um an Essen zu gelangen, greifen sie auf alle möglichen Mittel zurück, auch Diebstahl."

Genau das passierte dem 20-jährigen Tyler Jarvis letzten Herbst, als er in drei verschiedene Häuser einbrach und Geld, Schlafsäcke und einen Rucksack mitgehen ließ, wie The San Luis Obispo Tribune berichtete.

„Man kann es mit dem Futterwahn eines Hais vergleichen, der solange Heißhunger hat, bis das Essen weg ist und er einschläft oder der Magen reißt."

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Wie viele Eltern von PWS-Patienten muss auch Tyler's Mutter, Michelle Christian, Nahrungsmittel hinter Schloss und Riegel verstecken, damit ihr Sohn nicht alles vertilgt. Laut The San Luis Obispo Tribune war Jarvis von zu Hause weggerannt, weil er dachte, er könnte so viel essen, wie er will, wenn er obdachlos wäre. So herzzerreißend diese Geschichte klingt, in Anbetracht der Symptome, die mit dem Syndrom assoziiert werden, klingt sie nicht überraschend.

„Es kommt alles zusammen", sagt Butler. „Diese Patienten haben weniger Muskelmasse, eine geringere Stoffwechselrate und betätigen sich seltener sportlich, aber sie haben ständig Heißhunger und kein Völlegefühl. Ihr Sättigungszentrum im Gehirn ist nie normal aktiviert, deshalb wollen sie ständig essen, sogar wenn sie gerade essen. Ein Magenwanddurchbruch ist eine recht häufige Todesursache. Die Kombination dieser Faktoren ist verheerend."

Jacob Yashinsky leidet am Prader-Willi-Syndrom. Er ist 24 Jahre alt, zertifizierter Juwelier und Unternehmer, und kennt diese Anfälle des unkontrollierten Hungers nur zu gut.

„Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht esse, werde ich verhungern, obwohl ich über den Tag eigentlich ziemlich häufig esse. Es ist sehr schwierig. Es ist kein psychologischer Hunger, es ist ein physischer."

„Das Hauptsymptom ist Hyperphagie, was bedeutet, dass ich ständig Hunger habe. Das ist die Sache, die mein tägliches Leben am meisten beeinflusst", sagt Yashinsky. „Die meisten Tage kann ich mich nicht konzentrieren, bis ich etwas zu essen bekomme. Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht esse, werde ich verhungern, obwohl ich über den Tag eigentlich ziemlich häufig esse. Es ist sehr schwierig. Es ist kein psychologischer Hunger, es ist ein physischer."

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Dass PWS-Patienten ständig ein Hungergefühl verspüren, bei dem es für sie um Leben und Tod geht, ist keine Übertreibung. „Man kann es mit dem Futterwahn eines Hais vergleichen", sagt Dr. Butler. „Wir haben Studien durchgeführt, bei denen wir das mit Hilfe von MRT-Gehirnuntersuchungen genauer angesehen haben. In einem Experiment gaben wir den Probanden ein Sandwich und zeigten ihnen vor und nach der Mahlzeit Bilder von Essen. Die Gehirnaktivität das Nahrungszentrums wird übermäßig aktiv und wenn sie einmal angefangen haben zu essen, ist ihr Futterwahn mit dem eines Hais zu vergleichen, der solange Heißhunger hat, bis das Essen weg ist und er einschläft oder der Magen reißt."

Indem sie die Gehirnaktivität von PWS-Patienten, die Hungerauslösern ausgesetzt wurden, analysieren, verstehen die Forscher die neuralen Mechanismen besser, die die Kontrolle des Syndroms so schwierig machen. Praktische umsetzen lassen sich diese Ergebnisse jedoch nicht. Was ein Heilmittel anbelangt, sehen die Aussichten ziemlich schlecht aus.

„Es ist eine genetische Störung. Es ist Teil ihrer Persönlichkeit. Im Grunde ist es das Gleiche wie beim Downsyndrom, man kann sie nicht einsperren, nur weil sie eine Lernbehinderung haben. Es ist einfach Teil des Krankheitsbildes."

„Momentan gibt es kein Heilmittel", sagt Dr. Butler. „Es ist angeboren, deshalb ist es schwierig zu heilen. Es ist etwas, mit dem man lernt umzugehen, anstatt es zu heilen. Die effektivste Behandlung ist, die Patienten von Nahrungsmitteln fernzuhalten, auch wenn das bedeutet, dass man Kühl- und Küchenschränke mit Schlössern versehen muss. Sie müssen genau beobachtet werden. Wenn irgendwo Essen liegt, werde sie es finden. Man muss ihre Umgebung und ihre Ernährung kontrollieren."

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Trotz der monumentalen Hürden hat Jacob Yashinsky es geschafft, letztes Jahr mehr als 20 kg abzunehmen. „Ich wog ungefähr 128 kg, als ich mit der Diät anfing und am Ende waren es 106 kg. Ich habe sehr viel Selbstkontrolle aufgebaut, die ich früher nicht hatte. Es ist schwierig, weil es überall Essen gibt."

Während die meisten Leute es wohl als Vorteil sehen würden, in einem Viertel zu leben, wo es an jeder Ecke Essen in Hülle und Fülle gibt, ist es für Personen mit dem Prader-Willi-Syndrom eine existenzielle Bedrohung. „Ich lebe in einem Viertel mit drei Fast-Food-Ketten, sechs oder sieben Bäckereien und Essen aus fast jeder erdenklichen Kultur. Ziemlich ironisch, ich habe Prader-Willi und lebe an einem Ort, wo es alles zu essen gibt, was man sich vorstellen kann."

„Die Versuchung ist groß und es ist gefährlich", sagt Yashinsky, „aber irgendwie habe ich es mit der Hilfe meines Betreuers und meiner Familie geschafft, sehr viel Gewicht zu verlieren. Es braucht die Hilfe sehr vieler Personen, damit ich weiterhin diese Kontrolle aufrechterhalte."

Tyler Jarvis' durch Hunger verursachte Verbrechen hätten ihm eine Gefängnisstrafe bescheren können. Nachdem er seine Aussage verweigert hatte, wurde er schließlich zu drei Jahren Bewährung verurteilt und muss in einer Wohngruppe für Prader-Willi-Patienten leben.

Dr. Glenn B. Berall ist Endokrinologe und auf die Behandlung von PWS spezialisiert. Berrall sagt, einen jungen Menschen für ein Verhalten zu bestrafen, dass nicht kontrollierbar ist, ergebe keinen Sinn. „Impulsives Verhalten ist in solchen Fällen normal", sagt Berall. „Und Essen zu stehlen, ist für diese Menschen normal. Tyler Jarvis sollte dafür nicht ins Gefängnis gesteckt werden, weil Hyperphagie der Grund ist, warum diese Patienten Essen suchen."

Dr. Butler stimmt zu und sagt, die Lösung liege darin, Gemeinschaften, in denen Personen mit dem Syndrom leben, zu unterrichten, damit sie mehr Verständnis für diese Krankheit haben und die Betroffenen nicht wie Kriminelle behandeln.

„Es ist ein genetische Störung. Es ist Teil ihrer Persönlichkeit. Im Grunde ist es das Gleiche wie beim Downsyndrom, man kann sie nicht einsperren, nur weil sie eine Lernbehinderung haben. Es ist einfach Teil des Krankheitsbildes. Was wir brauchen, ist mehr Bewusstsein und mehr Anerkennung."