Illustration von zwei Beinen, die am Abgrund stehen, im Hintergrund ein Polizist mit einer Pizza

FYI.

This story is over 5 years old.

psychische Probleme

Die Psychologie des Essens: Wie Tacos und Pizza als Therapie eingesetzt werden

Für die meisten Menschen ist Essen mehr als eine bloße Notwendigkeit: Essen ist Erinnerung, Emotion und soziale Interaktion. Aber kann Essen auch Leben retten?

Wenn ich früher mit meinem Bruder meine Großmutter in Montreal besucht habe, war eines sicher: Es gab immer frisches Erdbeermousse.

Einfach alles an diesem Dessert — der rosa Schaum, der langsam am Rand der schmalen Dessertgläser hochkletterte, die luftigen Konsistenz und der nicht zu süße Geschmack nach Sahne und Erdbeeren — wird mich immer an diese Zeit und auch an meine Großmutter erinnern. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben, aber immer wenn ich jetzt ab und zu Erdbeermousse esse, überkommen mich innerlich Bilder von Menschen, Erinnerungen an Gerüche und die verschiedensten Gefühle. Dieses Essen schafft es vor allem, dass ich mich gut fühle. Mein Comfort Food.

Anzeige

Jeder von uns hat zu bestimmten Gerichten eine sehr komplexe und individuelle Beziehung. Essen ist mehr als nur eine biologische Notwendigkeit, es geht um neurochemische Prozesse und soziale Interaktion. Aber können die sozialen und emotionalen Aspekte von Essen so stark sein, dass sie Leben retten können?

Zumindest hat es Anfang des Monats in Mexico City funktioniert: Zwei Polizisten ist es angeblich gelungen, einen Mann vom Selbstmord abzuhalten, indem sie ihm Tacos versprachen, wenn er es nicht tun würde. Die Geschichte ging viral.

Und das auch zu Recht: Nichts mag man im Internet mehr als solche herzerwärmenden Storys und Essen (OK, es gibt noch ein paar andere Dinge, aber das ist ein anderes Thema). Der Vorfall erinnert an ein ähnliches Ereignis vor circa einem Jahr: In San Jose wollte sich ein Mann von einer Autobahnbrücke stürzen, Polizisten schickten einen Roboter zu ihm: Wenn der Mann bereit wäre, mit der Polizei zu sprechen, hätte der Roboter ihm eine leckere Pizza serviert. Und das hat geklappt. In beiden Fällen haben sich Menschen nicht in den Abgrund gestürzt, weil ihnen Essen in Aussicht gestellt wurde. Das zeigt, welche psychologische Bedeutung Essen hat, gerade auch in solchen Extremsituationen, und wie eng unsere Beziehung zum Essen tatsächlich ist.

ARTIKEL: Psychische Probleme dürfen kein Tabuthema in der Küche sein

Wir haben mit David Klonsky, Professor für Psychologie an der University of British Columbia gesprochen, der sich auf Suizid und selbstverletzendes Verhalten spezialisiert hat, um zu verstehen, was in solchen brisanten Momenten genau passiert. Wie Klonsky erklärt, "sind unerträglicher seelischer Schmerz und eine völlige Hoffnungslosigkeit, dass dieser Schmerz irgendwie weggeht, die Hauptgründe für einen Suizid." Allerdings muss eine "riesige Hürde" überwunden werden, bis eine Person, die Suizidgedanken hat, auch tatsächlich einen Selbstmordversuch begeht. Durch diesen Unterschied kommt es zu solchen Situationen, in denen Polizisten alles versuchen, um einen Suizid zu verhindern.

Anzeige

In solchen Momenten, so Klonsky, gilt vor allem eines: Man tut alles, um die Person dort lebendig herauszubekommen — in den beiden Fällen waren eben Tacos und Pizza die geeigneten Mittel. Ganz klar ist hier aber noch ein weiterer Faktor entscheidend: Essen ist sozial geladen, also mit sozialen Bedeutungen besetzt. "Wenn Menschen mit großem Schmerz und Hoffnungslosigkeit konfrontiert sind, gibt es immer noch eine Art Schutz, der sie davon abhalten kann, sich umzubringen: das Gefühl der Verbundenheit, egal ob zu anderen Menschen oder Dingen. Das kann dazu führen, dass man sich für das Leben entscheidet — und Essen kann einem genau dieses Gefühl geben.

Jordan Troisi ist Professor für Psychologie an der University of the South in Sewanee und forscht intensiv zum Thema "Comfort Food", also warum Essen, das uns ein gutes Gefühl gibt und Trost spendet, sozial und zwischenmenschlich so wichtig ist. Uns hat er erklärt, warum Essen in diesen Notsituationen so viel bewirken kann. Für ihn ist Comfort Food nicht ein bestimmtes Gericht, es muss nicht zwingend süß oder fettig sein.

Was Comfort Food ist und was nicht, ist extrem subjektiv und je nach Region oder Person unterschiedlich. Vor allem aber "assoziiert man dieses Essen mit geliebten Freunden und Verwandten. Comfort Food is etwas, dass einem andere oft über eine Zeit hinweg wiederholt zubereitet haben. Meist assoziiert man mit Comfort Food Familie oder andere soziale Ereignisse wie Partys, Urlaub, ein Picknick und so weiter."

Anzeige
Illustration by Adam Waito

"Wenn wir alte Freunde nach langer Zeit wieder sehen, trifft man sich meist zum Essen. Und selbst wenn wir allein essen, tun wir das oft vor dem Fernseher, weil wir dann das Gefühl haben, dass noch andere Menschen dabei sind", so Jordan Troisi.

Er ist fest davon überzeugt, dass Essen etwas grundlegend Soziales ist, wodurch man auch etwas besser versteht, warum Tacos und Pizza so überzeugend wirken können. Diese zwei Gerichte sind für viele Menschen (mich eingeschlossen) auch einfach Comfort Food.

Sie haben ein starkes emotionales Gewicht, das man nicht unterschätzen sollte, so Stephanie Cassin, die zu den psychologischen Aspekten von Essstörungen forscht: "Für viele Menschen ist Essen ein Weg, um mit schwierigen Emotionen klarzukommen und ja, auch um Trost zu spenden." Diese zwei Beispiele belegen nur in drastischer Art und Weise, wie sehr Essen und angenehme Gefühle oder Entspannung zusammenhängen.

Essen vermittelt Gefühle. Das kann einerseits natürlich negative Auswirkungen haben, wie im Fall von Essstörungen; andererseits ist dieser Aspekt in solch dramatischen Situationen genau das, was Menschen vom Suizid abhalten könnte. Stephanie Cassin weiter: "Essen kann helfen, weil es einfach so vorhersehbar ist. Es funktioniert immer: Wenn jemand deprimiert ist oder Angst hat oder einfach nur etwas anderes vergessen möchte, wird Essen immer da sein und auch wirkt schnell und zuverlässig."

Anzeige

Das heißt natürlich nicht, dass man Menschen einfach vom Selbstmord abhalten kann, indem man ihnen Essen anbietet. Das Problem ist sicherlich wesentlich komplexer. Aber es bedeutet vielleicht einfach nur, dass es uns nicht all zu sehr überraschen sollte, wenn man es schafft, durch Essen eine persönliche Verbindung zu Personen aufzubauen, die von seelischem Schmerz geplagt und hoffnungslos sind.

ARTIKEL: Warum nehmen sich so viele französische Bauern das Leben?

David Klonsky glaubt weniger, dass Essen eine größere Rolle bei der Suizidprävention zukommt. Er nimmt allerdings an, dass „man sich irgendwie an die Verbundenheit mit anderen Menschen zurückerinnert fühlt, wenn man von anderen Personen, auch von wildfremden, Essen angeboten bekommt."

Psychische Probleme sind eine andauernde komplizierte Herausforderung für Gesundheitssysteme und Polizei- und Notfallkräfte weltweit—vor allem aber natürlich für die leidenden Personen selbst. Je mehr Hilfsmittel wir haben, desto besser—selbst wenn das in manchen Fällen Pizza ist.


Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen: Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143 und in Österreich 142. In Deutschland findet man hier Hilfe. Hier gibt es auch einen Chat und hier findest du eine Liste mit weiteren Websites und Beratungsstellen in deiner Region. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Agus oder Refugium Hilfe.