Ein Tag in Chinas härtester Entzugsklinik für Internetsüchtige
Der Autor (Bildmitte) marschiert gemeinsam mit anderen Patienten zurück in eines der Therapiegebäude. Alle Bilder: Giulia Marchi.

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Ein Tag in Chinas härtester Entzugsklinik für Internetsüchtige

Für den Leiter des Bootcamps ist das Internet „elektronisches Heroin”, dass er seinen Patienten mit Hilfe von Hirn-Scans, Psychotherapie und hartem Drill austreiben will.

Der Name von Chinas härtestem Bootcamp für internetsüchtige Jugendliche ist unmissverständlich: „Stützpunkt für die psychische Entwicklung Jugendlicher in China", prangt am Eingang des Gebäudekomplexes im Süden Pekings.

Spätestens eine Stunde nach meinem Check-In wird mir klar, wie zielgerichtet hier an der Besserung der untergebrachten jungen Menschen gearbeitet wird: Eine ebenso unterkühlte wie professionelle Krankenschwester setzt mir eine Gummihaube mit kalten Elektroden auf und mein Gehirn wird einem gründlichen EEG unterzogen, das dem Personal genauere Auskunft über meine psychologische Gesundheit gibt.

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Abgefragt werden sexuelle Leistungsfähigkeit und Libido aber auch Selbstmordgedanken.

Der Leiter des Bootcamps ist Professor Tao Ran, seines Zeichens ehemaliger Oberst in der Volksbefreiungsarmee. Er verspricht mir, dass mein Aufenthalt eine möglichst realistische Erfahrung sein wird. „Der Test wird uns offenbaren, wie lebendig oder deprimiert dein Gehirn ist", informiert mich die Krankenschwester. „Wir überprüfen, ob dein Gehirn gut mit Blut und Sauerstoff versorgt wird oder ob es erschöpft ist. Die meisten hier leiden unter einer leichten Depression. Nur bei ein paar Patienten ist es schwerwiegend. Mach jetzt die Augen zu und hör auf zu sprechen."

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Nachdem mich ein Drillmaster im Army-Shirt meiner persönlichen Gegenstände entledigt hat, darf ich einen computergestützten psychologischen Test absolvieren, der entlarven soll, ob ich vielleicht wirklich depressiv bin. Abgefragt werden sexuelle Leistungsfähigkeit und Libido aber auch Selbstmordgedanken. Mich erinnert der surreale Test vor allem an ein willenlos geführtes Gespräch im Suff, dessen Essenz jetzt aber in einem Quiz um 10 Uhr morgens abgefragt wird—und das ganze in einem nüchternen, chinesischen Bürokomplex.

Der Autor beim Morgenappell um 6:30 Uhr. Alle Bilder: Giulia Marchi

Das Klicken meiner Maus wird beim Antworten der Fragen von den Schritten junger Patienten in den angrenzenden Schlafräume übertönt. Die meisten von ihnen wurden ein Jahr von der Schule freigestellt, um ihre Zeit in diesem gefängnisähnlichen Zentrum zu verbringen. Hier sollen sie von ihrer Internetsucht geheilt werden, die in China offiziell als psychische Erkrankung gilt. Die Regierung schätzt, dass bis zu 24 Millionen Jugendliche in China an Internetsucht leiden.

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Durchschnittlich sind die Patienten 17 Jahre alt und der Lärmpegel im Camp ist entsprechend hoch. Während meines Besuchs erinnert die Atmosphäre eher an einen Schulhof als ein Gefängnis. Das Fluchttreppenhaus ist jedoch mit einer enormen Metalltür mit Vorhängeschloss versehen. Spätestens hier zeigt sich der Widerspruch dieses Bootcamps, und hunderter vergleichbarer Einrichtungen, die es überall in China gibt. Befremdlich ist auch die Idee der Bootcamp-Betreiber, dass hier nicht nur Internetsucht, sondern auch homosexuelle „Patienten geheilt" werden könnten.

„Warum ich depressiv bin, weiß ich nicht. Insgesamt bin ich schon ein ganzes Jahr hier."

Die Krankenschwester ist äußerst zuvorkommend, als sie mir eine Kopie der EEG-Testergebnisse überreicht und erklärt, dass bestimmte psychologische Merkmale des Gehirns einer Depression zugeordnet werden könnten. Man möchte diese Daten zusammen mit dem psychologischen Test nutzen, um sich ein Bild über meine mentale Gesundheit zu machen. Ich werde in einen kantinenartigen Pausenraum geführt, wo ich mein Metall-Tablett mit einem riesigen Berg Reis und fettigem Gemüse fülle. Ich setze mich neben drei schüchterne, kichernde Teenager.

„Er ist zum dritten mal hier", erzählt mir ein Patient und zeigt dabei auf seinen Kumpel. Tao spricht von einer 85 bis 90-prozentigen Erfolgsrate, wobei die Statistik noch nicht überprüft wurde. Als ich den Freund des Patienten frage, warum er denn so häufig hierhin zurückkommt, antwortet er: „Ich leide unter einer ernsten Depression. Warum, weiß ich nicht. Insgesamt bin ich schon ein ganzes Jahr hier."

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Während meines Besuchs wohnen gerade 55 Patienten im Camp. Die Anlage wurde im Jahr 2003 gegründet und erfuhr einen Aufschwung, als China im Jahr 2008 als erstes Land überhaupt Internetsucht offiziell als psychische Erkrankung klassifizierte. Zu den anerkannten Symptomen zählt es, mehr als 6 Stunden am Tag im Internet zu surfen oder Angstzustände zu bekommen, sobald du offline gehen musst.

Die größtenteils männlichen Patienten tragen hier Army-Kleidung und auch sonst herrscht eine militärische Stimmung: Vom Weckruf per Trillerpfeife um 6:30 Uhr bis zum Ausschalten der Lichter um 21:30 Uhr.

„Ein paar der Kids sind so süchtig, dass sie Windeln tragen, damit sie beim Spielen nicht zur Toilette gehen müssen."

Der Drillmaster sorgt dafür, dass keiner aus der Reihe tanzt, während Lehrer, Ärzte, Psychologen und Krankenschwestern Anti-Internet-Kurse geben, Beratungsgespräche führen und Medikamente verabreichen. Tao berichtet, dass die meisten Patienten unter einer klinischen Depression leiden, will mir aber nicht sagen, welche Medikamente er verabreicht.

Tao war es auch, der mir berichtete, dass im Camp auch homosexuelle Patienten behandelt werden. Sie nehmen an sogenannten Pro-Hetero-Kursen teil, die ihnen helfen sollen, über die positiven Aspekte des heterosexuellen Lebens, wie etwa das Kinderkriegen, nachzudenken.

Durch die Lautstärke auf dem Stützpunkt ist es schwer, beim Routine-EEG einfach ruhig zu sein und an etwas Schönes zu denken. Bild: Giulia Marchi.

Die Behandlung hier auf dem Stützpunkt ist nicht gerade günstig. Ein Patient zahlt etwa 9300 Yuan (1360 Euro) pro Monat, zuzüglich Essen und Medikamente. Für viele Eltern ist es die letzte Hoffnung im Kampf gegen die Internetsucht ihrer Kinder. Tao erzählte mir vor meinem Aufenthalt im Camp, dass die meisten Patienten von ihren Familien emotional vernachlässigt würden und sie das Internet als Ersatzmedium für ihre sozialen Kontakte nutzten.

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Für viele der Patienten gehörte es zum regulären Tagesablauf, tagelang ununterbrochen Videospiele zu zocken. „Die beliebtesten Spiele der Patienten sind League of Legends und World of Warcraft", erzählt Tao, der recht sanftmütig und nett auf mich wirkt, obwohl sein Job und seine Ansichten etwas anderes vermuten lassen würden. Er sagt: „Ein paar der Kids sind so süchtig, dass sie Windeln tragen, damit sie beim Spielen nicht zur Toilette gehen müssen."

Der jüngste Patient, den Tao bisher behandelt hat, war neun Jahre alt. „Als Baby hörte er nur auf zu weinen, wenn er ein iPad vor sich hatte", erzählt er mir. „Das iPad war praktisch seine Nanny, die von morgens bis abends bei ihm war. Als er mit 6 Jahren zur Schule ging, hatte er große Probleme, sich zu konzentrieren und bei ihm wurde ADHS diagnostiziert."

***

Nach dem Mittagessen werden wir alle zu den Schlafsälen gebracht und müssen uns an der Flurwand aufstellen. Nachdem wir um 14 Uhr per Namen aufgerufen werden, beginnt die Mittagsruhe.

Der Drillmaster scheint besorgt über meine Einstellung zum Camp und bringt mich, anstatt im Schlafsaal, in einer Art Zelle unter. Das ist angeblich nötig, da ich von einer weiblichen Fotografin begleitet werde und die männlichen Patienten während der Ruhezeit in Unterwäsche herumlaufen.

„Nach einer Weile wirst du merken, dass das, was hier gemacht wird, Gehirnwäsche ist."

Als alle wieder angezogen sind, darf ich zurück in den Schlafsaal. Ein 18-jähriger Patient aus der Provinz Hebei zeigt mir stolz, wie man eine Bettdecke mit militärischer Präzision faltet. Er erzählt mir, dass er süchtig nach Videospielen war, weil seine Eltern nie zuhause waren.

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„Meine Noten wurden immer schlechter und am Ende ging ich gar nicht mehr zur Schule", erzählt er. „Irgendwann war ich sozial völlig ausgegrenzt und versuchte mich umzubringen." Bevor er ins Camp kam, wollte er sich entweder auf die Zuggleise legen oder von einem hohen Gebäude springen. Er sagt, dass er mit dem Camp „zufrieden" sei und das Personal „sehr verantwortungsvoll" finde. Ich erfahre, dass ein Drillmaster ihn bei einem Wutanfall am Tag seiner Ankunft Hände und Beine gefesselt hat. Später beobachtete ich, wie ein Mitarbeiter einen unartigen Patienten auf die Brust schlägt.

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Ein 16-jähriger Patient aus der Provinz Hunan berichtete mir später, dass er früher ab und zu einen kompletten Tag im Internet Counter-Strike spielte und dass das Camp „einige seiner schlechten Angewohnheiten, die Einstellung zum Internet und Denkweise korrigiert hat". Er erklärt mir, dass er inzwischen vernünftiger und reifer geworden sei. Nach unserem Gespräch widmet er sich dann eine halbe Stunde zwei Zauberwürfeln.

Leibesertüchtigungen auf dem Stützpunkt für die psychische Entwicklung Jugendlicher in China. Bild: Giulia Marchi

Im Gespräch mit einem dünnen, schüchternen Patienten, erfahre ich, dass die sogenannte hohe „Heilungsrate" nicht ganz so eindeutig ausfällt, wie mir Tao angepriesen hatte.

Nachdem wir zurück in den Schlafsaal gebracht werden, unterhalte ich mich weiter mit dem schüchternen Jungen—recht schnell wird er aber vom Drill-Sergeant aus dem Raum geholt, nachdem dieser unsere Unterhaltung bemerkt hat. Man stellt mich für das unerlaubte Gespräch zur Rede. Dann droht mir der Drillmaster damit, mir die Fotoausrüstung wegzunehmen. Wir hatten eigentlich geplant, über Nacht zu bleiben. Jetzt allerdings scheint es uns schlauer, das Camp gleich zu verlassen.

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Das wiederum hat zur Folge, dass mir meine Sachen weggenommen werden und man mich im Camp festhält. Die Bitte, mir meine Sachen zurückzugeben, wird abgelehnt. Nach einer Stunde angespannter, absurder Verhandlungen bekomme ich dann schließlich doch alles zurück. Das Vorhängeschloss an der Ausgangstür wird abgenommen und ich verlasse—noch immer im Army-Shirt—das Gelände.

***

Selbst wenn ich die vollen zwei Tage dort geblieben wäre, hätte ich wahrscheinlich nur einen verfälschten Einblick in das Leben auf dem „Stützpunkt für die psychische Entwicklung Jugendlicher in China" erhalten. Ich durfte weder am Unterricht noch an sonstigen härteren Einheiten teilnehmen, die angeblich an den anderen Wochentagen auf dem Gelände stattfinden.

Trotz allem war es ein interessanter, wenn auch einseitiger Einblick in eine der umstrittensten Gesundheitseinrichtungen Chinas. Die Behauptung, dass es eine 85- bis 90-prozentige Erfolgsrate gibt, offenbart sich schon auf den ersten Blick als reichlich unglaubwürdig. Aber sechs Monate Entzug und die Androhung bei einem Rückfall, wiederkommen zu müssen, ist eine Methode, mit der einige Laster wohl durchaus behoben werden könnten.

Standard-Aufstellung bei Übungen auf dem Stützpunkt. Bild: Giulia Marchi

Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, so ist es doch besorgniserregend, dass viele der Patienten immer wieder in das Camp zurückkehren. Wie viele sechsmonatige Sessions müssen sie hinter den Mauern des Camps über sich ergehen lassen, bis anerkannt wird, dass das Camp für sie keine Heilung bietet? Wurden bei ihnen wirklich schon alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft? Und dient das Camp vielleicht sogar abwesenden Eltern als Möglichkeit ihre pubertierenden Kinder abzugeben, ganz nach dem Motto: „aus den Augen aus dem Sinn"?

Leider hat mein Aufenthalt im Camp mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Als Andenken habe ich einen Ausdruck meiner Gehirntests. Die Krankenschwester, die das EEG gemacht hat, konnte keinen negativen mentalen Zustand feststellen. Nur ein bisschen Sauerstoff fehlt wohl in einem Viertel meines Gehirns. Interessant wären auch die Ergebnisse des Psychologischen Tests. Abholen werde ich sie allerdings nicht mehr.