Wie sich als professioneller Bergsteiger die Sicht auf Essen verändert

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Wie sich als professioneller Bergsteiger die Sicht auf Essen verändert

Professioneller Bergsteiger befinden sich ständig in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. 2011 gelang es Jimmy Chin, als Erster den Mount Meru über die Shark's Fin, eine der berüchtigtsten Routen, zu besteigen. Für MUNCHIES spricht Jimmy...

Jimmy Chin ist ein langjähriger professioneller Bergsteiger, der an unzähligen Expeditionen teilgenommen hat. 2011 gelang ihm gemeinsam mit Conrad Anker und Renan Ozturk die Erstbesteigung des Mount Meru über die berüchtigte Shark's Fin. Diese Erfahrung hielt er in der selbst produzierten Dokumentation MERU fest, die beim Sundance Film Festival mit dem U.S. Documentary Audience Award ausgezeichnet wurde.

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Jimmy erzählt MUNCHIES, welche Rolle Essen und die richtige Ernährung bei der Besteigung der höchsten Berge und steilsten Wände dieser Welt spielen.

Wenn man sich eine Mount Everest-Expedition vorstellt, denkt man wahrscheinlich an eine Gruppe von Männern in riesigen Anzügen, die einen Berg erklimmen. Was aber alles dazugehört, ein professioneller Bergsteiger zu sein, wissen die Wenigsten. Es ist unglaublich gefährlich und immer wieder kommen Menschen ums Leben. Auch mit dem Wissen, dass sich ihre Familien und Freunde Sorgen um sie machen, müssen Bergsteiger Risiken eingehen. Und Essen als Treibstoff anzusehen, ist ein wichtiger Teil, um die Risikofaktoren unter Kontrolle zu haben.

Ich bin ein Pseudo-Foodie. Ich gehe sehr gerne essen und versuche, Bioprodukte zu kaufen und auf hochindustriell verarbeitete Lebensmittel zu verzichten. Ich lege Wert auf eine ausgewogene Ernährung, aber wenn ich im Trainingsmodus bin, esse ich mehr oder weniger was ich will. Vor einer Expedition in großen Höhen und über lange Distanzen esse ich alles—Kuchen, Pies, egal was. Die Expeditionen sind fast schon ein Vorwand. Man muss Fett und Muskeln aufbauen, weil man ständig in Bewegung ist. Man braucht Masse. Auf manchem Expeditionen habe ich zehn Kilo verloren und weil ich nur 1,73 m groß bin und (in Kampfform) 73 kg wiege, ist das sehr viel. Da ich schon seit 15 Jahren an Expeditionen teilnehme, hat mein Körper ein Gefühl dafür entwickelt und er ist effizient geworden.

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The North Face Meru Expedition, 2011

Jimmy Chin in MERU. Mit freundlicher Genehmigung von Courtesy of Music Box Films. Foto von Renan Ozturk.

Auf dem Berg ernähre ich mich unter anderem von Triathleten-Nahrung: Riegel, Studentenfutter, aber auch echte Sandwiches und Energy-Drinks. Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn man realisiert, wie wenig der Körper eigentlich braucht, weil sich der Stoffwechsel auf die Extremsituation eingestellt hat. Auf dem Berg wird der Körper hypereffizient und Essen wird zu Treibstoff. Wenn man einen langen Tag auf dem Berg vor sich hat, kann man sich nicht zu viele Sorgen darüber machen, wie etwas schmeckt. Nahrung ist einfach nur das Benzin im Tank.

Die Shark's Fin ist eine Formation auf dem Mount Meru im westlichen Himalaya. An keiner Route im gesamten Himalaya-Gebirge sind mehr Leute gescheitert als an dieser. Obwohl in der breiten Öffentlichkeit nicht oft über die Shark's Fin diskutiert wird, hat sie sich einen ziemlichen Ruf im engsten Kreis der professionellen Bergsteiger-Community aufgebaut.

Die Leute, die viel Zeit auf technischen Anstiegen in großen Höhen verbracht haben, sind meistens die, die von den fehlgeschlagenen Versuchen fasziniert sind und Motivation daraus ziehen—mich inkludiert. Solch ein Ruf kann eine Route wie diese für professionelle Bergsteiger zu einer begehrten Erstbesteigung machen: Es wird Teil des Vermächtnisses und schreibt Geschichte. Wenn man der Erste ist, der es geschafft hat, einen bestimmten Punkt zu überschreiten, ist das ein Zeugnis über die Fähigkeiten eines Bergsteigers.

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Renan Ozturk auf dem langen Abstieg vom Gipfel zurück ins Portaledge-Lager nach 17 Stunden in Bewegung. Mit freundlicher Genehmigung von Music Box Films. Foto von Jimmy Chin.

2011 bestieg ich mit Conrad Anker und Renan Ozturk die Shark's Fin. Conrad Anker ist ein legendärer Bergsteiger mit einer sehr langen Geschichte von den verrücktesten Aufstiegen auf der ganzen Welt. Und er ist mein Mentor. Wir fingen 2001an, gemeinsam zu klettern und im Laufe der Zeit ist er ein sehr guter Freund geworden. Wir haben eine sehr enge Verbindung und haben schon sehr schwierige und herausfordernde Expeditionen hinter uns. Er ist ein sehr kompetenter Athlet und kennt sich in jedem Gebiet bestens aus: egal ob große Höhen, Bigwall-Klettern, Eisklettern oder Mixed-Klettern. Renan Ozturk ist fünf oder sechs Jahre jünger als ich, aber hat schon viel Zeit auf den großen Bergen in Pakistan und Alaska verbracht. Vor 2008 kannten wir uns nicht sehr gut, aber er war mit Conrad befreundet. Er war der Meinung, er wäre der Richtige für unseren Trip und ich habe einfach auf sein Urteilsvermögen vertraut.

Wir wussten alle über den berüchtigten Ruf der Shark's Fin Bescheid und uns war klar, dass wir auf die Erfahrungen jedes einzelnen bauen mussten. Wir haben alle unsere individuellen Stärken, deshalb ist ein gutes Team so wichtig. Man kann Berge über verschiedene Routen erklimmen, die unterschiedliche Herausforderungen bergen. Unsere Spezialgebiete sind das Alpin- und das Bigwall-Klettern und wir wollten die Shark's Fin von ganz unten besteigen. Und nachdem wir einmal gestartet waren, stiegen wir einfach immer weiter auf.

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Wenn ich das Essen für Expeditionen wie die Shark's Fin packe, teile ich meine Vorräte in zwei Teile auf: für das Basislager und zum Klettern. Wenn ich zwei Monate lang weg bin, nehme ich auch eine Kühltasche mit „Luxusprodukten" wie Gummibärchen, Schokolade, guter Tee und Honig fürs Basislager mit, wo man sich noch nicht so viele Gedanken über das Gewicht machen muss. Wenn es aber um das Essen zum Bergsteigen geht, spielt das Gewicht eine Rolle, deshalb muss man an den Kalorien- und Eiweißgehalt der Lebensmittel denken.

Das Frühstück auf dem Berg ist immer eine ziemliche Herausforderung: Zuerst muss man Schnee schmelzen, damit man Wasser hat, um seine Haferflocken (oder andere Lebensmittel) aufzuweichen. Wenn es dann endlich fertig ist, löffelt man es gierig hinunter. Während des Tages versucht man ein paar Minuten zum Essen zu finden, weil man ständig mit irgendetwas beschäftigt ist. Man sichert sich, schafft Taschen von einem Ort zum anderen, baut das Lager ab, nimmt das Seil auf oder organisiert die Ausrüstung. Wenn mann etwas fallen oder lässt falsch befestigt, ist der Trip vorbei. Der mentale Druck ist also extrem hoch und es bleibt nicht wirklich viel Zeit, mal kurz stehenzubleiben, die Aussicht zu genießen und Mittag zu essen.

The North Face Meru Expedition, 2011

Conrad Anker in MERU. Mit freundlicher Genehmigung von Music Box Films. Foto von Jimmy Chin.

Das Abendessen ist einer der wenigen Momente zum Durchatmen—auch wenn man einen langen Tag hinter sich hat und sich einfach nur wünscht, dass das Essen fertig ist, weil man eigentlich erschöpft ist und schlafen gehen möchte. Auf dem Mount Meru aßen wir trockengefrorene Lebensmittel wie Couscous mit Salami, Parmesan und träufelten Olivenöl darüber, das wir in Colaflaschen aus Plastik dabeihatten, weil sie dem Druck in großen Höhen standhalten und stabil sind. Während man den Tag Revue passieren lässt und über die Pläne des darauffolgenden Tages spricht, kann man ein bisschen durchatmen und sich entspannen.

Am Anfang jedes Anstiegs geht es in Unterhaltungen um Beziehungen. Mit fortschreitender Expedition drehen sie sich nur noch um Essen. Man ist damit beschäftigt, Mahlzeiten zu rationieren, aber unterhält sich auch über das tolle Steak, das man gerne kochen würde. Man stellt sich vor, wie man in den Laden geht und sich das schönste Fleisch aussucht und wie man es zubereitet. Wenn man an diesem Punkt der Unterhaltung angelangt ist, kann nicht mehr normal denken. Der eigene Körper frisst sich selbst auf. Man verbrennt unglaubliche Mengen an Kalorien und nimmt nicht annähernd genug auf, um Normalität zu wahren.

The North Face Meru Expedition, 2011

Renan Ozturk in MERU. Mit freundlicher Genehmigung von Music Box Films. Foto von Jimmy Chin.

Die Zeit einschätzen zu können, die man braucht, um einen Gipfel zu erklimmen, macht einen guten Bergsteiger aus. Jahrelange Erfahrung hilft abzuschätzen, wie weit man jeden Tag kommt und wie viel Essen man mitnehmen muss. Auf dem Meru waren wir sehr ehrgeizig. Wir glaubten, wir könnten es in sieben Tagen schaffen, also brachten wir genug Essen für eine Woche. Dann kamen wir in einen Sturm, der fünf Tage andauerte. 80 Prozent des Berges lagen noch vor uns und so lange hingen wir auf einem Raum so groß wie ein Doppelbett fest. Wir halbierten unsere Rationen und warteten einfach. Insgesamt waren wir schlussendlich 19 Tage unterwegs, was uns natürlich sehr viel Energie kostete. In einem guten Team kümmern sich die Mitglieder umeinander. Man ist sehr bedacht darauf, nicht mehr als die anderen zu essen und dass jeder das bekommt, was er braucht.

Was mir das Bergsteigen außerdem beigebracht hat: Parmesanrinde ist essbar. Wenn man es auf dem Herd röstet, schmeckt es wie ein Stück frittierter Käse, wir nennen es „Rostis". Man weiß, dass man auf einer Expedition ist, wenn sich alle auf ein zwei Zentimeter großes Stück Käserinde freuen. Das sagt sehr viel über die Bedingungen aus. Es ist schon absurd, um einen kleinen Herd herumzusitzen und sich zu denken: Ich kann mich so glücklich schätzen, dass ich dieses kleine Stück Parmesanrinde essen darf, während man langsam daran knabbert. Wenn man es aufgegessen hat, reibt man sich mit dem Fett an den Fingerspitzen das Gesicht und die Hände, weil die Haut so trocken ist, dass sie reißt. Nichts wird verschwendet.