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Spirituose

Russischer Brotwein ist der ursprüngliche Wodka

Auf Russisch war Wodka historisch gesehen ein Sammelbegriff für harten Alkohol. Die meisten Russen, die darüber lasen, dass ihre Vorfahren „Wodka" tranken, nahmen also an, dass es sich dabei um das gleiche Zeug handelt, das wir heute kennen. Das war...
Foto mit freundlicher Genehmigung von Rodionov & Sons.

Es kommt nicht oft vor, dass man über eine neue Sorte Alkohol berichten kann. Besonders wenn die neue Sorte eigentlich uralt ist.

Polugar—auch als Brotwein oder historischer Wodka bekannt—kommt wieder in die Geschäfte und auf die Cocktailkarten. Noch nie gehört? Ihr seid nicht alleine.

Aber laut Rodionov and Sons, einer Familiendestillerie in der Nähe der polnisch-russischen Grenze, war Polugar jahrtausendelang das Lieblingsgetränk der Russen. Die täuschend einfache, schwere und röstige Spirituose wird aus Getreide hergestellt und ist das Getränk der russischen Seele, auch wenn die meisten Russen es nicht kennen. Im Vergleich zu Polugar, sagt man, ist Wodka trinken in Russland nur eine Phase.

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Die Geschichte von Wodka und seine Dominanz über die russische Trinkkultur ist fast schon klischeehaft russisch: Es ist eine traurige Geschichte, eine Geschichte von totalitärer Gier und pauschalen Enteignungen, von Propaganda über Generationen und schließlich auch vom Auslöschen der Geschichte.

Auf Russisch ist Wodka—oder „kleines Wasser"—historisch gesehen ein Sammelbegriff für jeglichen harten Alkohol. Die meisten Russen, die darüber lasen, dass ihre Vorfahren Wodka tranken, gingen davon aus, dass es sich um den Wodka handelte, den wir heute kennen.

Nicht einmal annähernd. Das meiste Zeug, das die Russen früher tranken, war viel besser.

Wenn Wodka nicht der Alkohol der Zaren, der russischen Schriftsteller und Staatsmänner war, was dann?

Die Technologie, mit der moderner Wodka—der laut Gesetz 96-prozentiges Ethanol enthalten muss—hergestellt wird, gab es erst, als die Franzosen 1867 die Rektifikationskolonne erfanden.

Wie kam es, dass Wodka so ins russische Gedächtnis eingebrannt ist? Wie so viele andere Dinge war der Grund, dass ein sehr reicher Mann noch reicher werden wollte.

1884 kauften Zar Alexander III. 300 neue Rektifikationskolonnen aus Deutschland und ließ sie auf seinem Anwesen aufstellen. Dann erklärte er alle Spirituosen außer Wodka für illegal. Da nur der Zar über die Technologie verfügte, um echten Wodka herzustellen, sicherte ihm sein Beschluss das totale Monopol auf den russischen Spirituosenmarkt. Über Nacht fingen alle Russen, die wussten, was gut für sie war, an, den Wodka des Zars zu trinken. Die weit verbreiteten Brennereien in Hinterhöfen, in denen seit Generationen Brotwein hergestellt wurde, waren stillgelegt.

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Um das Ausmaß des Verlustes für das russische Erbe, den das Wodkamonopol verursacht hatte, fassen zu können, muss man zuerst die glorreiche russische Trinkkultur vor den 1890er-Jahren verstehen.

„Russland hatte die längsten Getränkekarten für Alkohol auf der Welt", erklärt Alexey Rodionov, einer der Söhne von Rodionov and Sons, als er durch ein Buch mit historischen russischen Getränkekarten blättert. „Kein anderes Land stellte so viele destillierte Getränke her."

Die Rodionovs stießen auf mehr als 300 verschiedene Arten Brotwein, darunter auch ein Brotwein für Nachtwächter und ein Brotwein für Liebespaare.

„Vor 120 Jahren hatte man nie nur eine Flasche auf dem Tisch stehen, die man während des Essens austrinkt", sagt Alexey, „In Russland bestehen Mahlzeiten mindestens aus sieben oder acht Gängen und zu jedem Gang gab es einen anderen Brotwein."

Schweinefleisch wurde mit einem kleinen Glas Knoblauch-Brotwein serviert, Hering mit einem Kümmel-Brotwein, Klöße mit einem kräuterigen Brotwein auf Dillbasis.

Während ihrer Nachforschungen stießen die Rodionovs auf mehr als 300 verschiedene Arten Brotwein, darunter auch ein Brotwein für Nachtwächter und ein Brotwein für Liebespaare. Es war unter Männern ein Trend, in ihrer Hausbar für jeden Buchstaben im Alphabet eine Sorte Brotwein zu haben.

Nachdem er fünf Generationen lang in Vergessenheit geriet, ist Brotwein heute wieder zurück. Rodionov and Sons haben ihn unter dem Markennamen Polugar—Russisch für „halb verbrannt", als Anspielung auf die traditionelle Art, eine Spirituose auf ihre Reinheit zu überprüfen—herausgebracht.

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Ganz nach sowjetischer Tradition kam es dank Paranoia zur Wiederentdeckung von Polugar. 2001 sah der pensionierte Wissenschaftler Boris Rodionov auf einem russischen Fernsehsender einen Bericht darüber, dass manche in Russland verkaufte Wodkas in gefährlichem Ausmaß verunreinigt seien.

Er beschloss, dass das Zeug aus dem Supermarkt das Risiko nicht wert ist und dass es besser ist, den eigenen Alkohol zu brennen. Geschockt stellte er fest, dass das nötige Equipment zum Wodka destillieren Millionen von Euro kosten kann und als er herausfand, dass diese Technologie bis Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht existierte, wollte er den Grund dafür herausfinden.

Wie die meisten Russen glaubte auch Boris, dass sich ein Fluss von Wodka durch die Geschichte seines Landes zieht, aber dieser Fluss war trockengelegt. Wenn Wodka nicht der Alkohol der Zaren, der russischen Schriftsteller und Staatsmänner war, was dann? In alten Büchern, traditionellen Rezepten und historischen Speisekarten fand er die Antwort—und er versuchte aus Spaß, dieses Getränk selbst herzustellen. Das Ergebnis, der Brotwein, übertraf alle seine Erwartungen.

Brotwein ist eine wunderbare Spirituose—mit fast 40 Volumenprozent Alkohol ist sie nur dem Namen nach ein Wein. Sie ist sauber und weich und der einzigartige Charakter des Getreides schimmert glasklar durch. Der Polugar aus Roggen hat das erdige Aroma von Brotrinde, während der aus Weizen vor einer sanften Süße strotzt.

Die Rodionovs stellen ihren Polugar auf traditionelle Art her und destillieren mit den zusätzlichen Zutaten, damit die Aromen komplett aufgenommen werden. Knoblauch-Polugar ist kräftig, aber nicht scharf im Hals. Polugar mit Kümmelsamen ist sehr würzig.

Anfangs glaubten die Leute die Geschichte von Polugar, die die Rodionovs erzählten, nicht. „Sie lachten uns aus", erinnert sich Alexey. Im ersten Jahr verkauften sie nur 2.000 Flaschen, aber die Russen wurden langsam mit Polugar, ihrem alten Freund, warm und heute verkauft Rodionov and Sons 100.000 Flaschen pro Jahr.

Russlands älteste Spirituose ist Deutschlands neueste. Obwohl die Rodionovs zwar vom Erfolg begeistert sind, bedeutet es ihnen viel mehr, wenn jemand ein Glas Polugar statt Wodka bestellt, als wenn sie eine weitere Flasche verkaufen. Für sie ist es ein kleiner Triumph für die Wahrheit.