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Ethik

Dem bekanntesten Koch Südamerikas ist Ruhm total egal–und das ist gut so!

Ja, ich bin in den lateinamerikanischen Massenmedien vertreten wie kein anderer Koch—aber der Ruhm ist mir egal. Venezuelas Köche müssen verstehen, dass das Kochen ein Beruf ist und nicht nur ein Weg, um berühmt zu werden.

Kein Koch ist in den lateinamerikanischen Massenmedien präsenter als Sumito Estévez: Er ist Moderator mehrerer TV-Sendungen, schreibt Kochbücher und ist das Gesicht zahlreicher Marken. Aber dieser berühmte Koch schert sich nicht um Ruhm. Viel mehr geht es ihm darum, eine Kochphilosophie zu prägen, in der Ethik wichtiger ist als Berühmtheit.

Ich habe keine falsche Bescheidenheit. Ich weiß, dass ich viel für die venezolanische Gastronomieszene geleistet habe und dass es ein „vor" und „nach" meiner Arbeit als Koch gibt.

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Ich habe jahrelang meine Zeit zwischen der Küche, dem Fernsehen, Radiostationen, Verlagshäusern und Zeitungsredaktionen aufgeteilt. Ich koche unglaublich gerne, aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich das auch kommunizieren muss; dass ich andere dazu bekehren muss—auch schon als ich noch ein Physiker war, noch bevor ich Koch wurde.

Laureano, mein Manager, sagte einmal zu mir: „Wärst du Physiker geblieben, hättest du eben eine Radiosendung, eine TV-Sendung und eine Kolumne in einer Tageszeitung über Physik."

Ich habe Physik studiert, weil ich es mir Spaß gemacht hat. Mein Vater ist auch Physiker und seit ich klein bin, hatte ich mit diesem Them zu tun. Als ich gerade meine Abschlussarbeit an meine Universität schickte, sah ich ein Interview mit Franz Conde. Er war für ein Haute Cuisine-Festival nach Venezuela gekommen. Das war 1989. Aus Neugier ging ich in das Restaurant, in dem er kochte. Ich war sehr beeindruckt, weil ich nicht einmal wusste, dass es überhaupt möglich ist, so perfekt zu kochen. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als sich mir diese Welt öffnete.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte nie vorgehabt, der Physik untreu zu sein. Ich befand mich in einer Krise und musste mich für einen Weg entscheiden. Die Entscheidung fiel mir schwer, aber ich habe das Richtige getan.

Sechs Jahre nachdem ich meine Laufbahn geändert hatte, eröffnete ich mein erstes eigenes Restaurant, das Sumito in Mérida. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich meine Karriere rasant. Ich machte ein paar Praktika in Küchen in New York und L.A. und 2003 bekam ich meine erste eigene TV-Sendung, Puro Sumo, die in ganz Lateinamerika ausgestrahlt wurde. Dann war ich Host der wöchentlichen Sendung Nueva Cocina Latina auf dem spanischen Fernsehsender Canal Cocina. Während dieser Jahre gründete ich zahlreiche kulinarische Unternehmen. Ich wurde Moderator einer Radiosendung mit dem Titel Diary of a Chef und ich begann, eine Kolumne in der Tageszeitung El Nacional zu schreiben.

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Ja, ich bin einer der Köche mit der größten medialen Präsenz in Lateinamerika. Aber dadurch trage ich dazu bei, das Kochen als Beruf in Venezuela populärer zu machen.

Ich sage zu meinen Studenten, dass sie sich fragen sollen: Haben meine Taten finanziell einen negativen Einfluss auf andere Leute? Schaden meine Taten dem Planeten? Ist jemand durch meine Taten krank geworden? Habe ich jemanden durch meine Taten kulturell beraubt?

Als die Kinder Köche im Fernsehen sahen, wollten sie auch Köche werden. Das ist Teil meiner Errungenschaft. Aber dahinter steckt eine ernstere Angelegenheit.

Berühmt zu sein, interessiert mich nicht. Ich möchte einfach ein guter Koch sein und ein ethisches Verhalten an den Tag legen. Jetzt, da Venezuela erstklassige Köche hervorbringt, möchte ich, dass sie verstehen, dass das Kochen ein Beruf ist und nicht nur ein Weg, um berühmt zu werden.

Deshalb habe ich zwei Kochschulen finanziert—eine in Caracas, die nach dem traditionellen Bildungssystem funktioniert und eine in Margarita, wo ich jedes Jahr nur 54 Studenten aus dem ganzen Land aufnehme. Die ist ein bisschen mehr wie ein Aschram: Wer aufgenommen wird, muss unserer Philosophie folgen.

Als Erstes bringe ich meinen Studenten bei, dass sie als Köche ihrer Kultur treu bleiben sollen, weil Kochen eine kulturelle Praxis ist. Wir sollten uns im Klaren sein, wo wir stehen und durch unsere Berufe sollten wir einen kulturellen Beitrag für unser Land leisten. Gleichzeitig sollten wir uns der Gemeinschaft, unserer Nachbarschaft, den Produzenten und den Mitarbeitern bewusst sein. Menschen spielen eine wichtige Rolle.

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Darüber hinaus wünsche ich mir, dass sie verstehen, dass Kochen ein Beruf ist. Am einfachsten lässt es sich so erklären: „Wenn du Zimmerer bist, erlernst du einen Beruf. Du bist kein Doktor des Zimmermannhandwerks und spezialisierst dich auf Elfenbein. Du bereitest dich darauf vor, deinen eigenen Laden zu eröffnen."

Ich verlange von ihnen, dass sie alles dokumentieren, was sie tun. Wenn man auf Google nach „Norwegen" sucht, bekommt man viele Ergebnisse, die etwas mit der norwegischen Kultur zu tun haben. Wenn man hingegen nach „Venezuela" sucht, wird man als erstes Berichte über Gewalt und Nahrungsmittelknappheit finden. Unsere Küchen können das aber ändern und dafür sorgen, dass nicht immer nur die dunkle Seite unseres Landes im Vordergrund steht. Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass es wichtig ist, Dinge zu dokumentieren. Ein Freund sagte einmal zu mir: „Wissen ist ein individueller Akt, aber Intelligenz ist ein kollektiver."

Ich sage meinen Studenten, dass sie sich, bevor sie etwas machen, folgende Fragen stellen sollen: Haben meine Taten finanziell einen negativen Einfluss auf andere Leute? Schaden meine Taten dem Planeten? Ist jemand durch meine Taten krank geworden? Habe ich jemanden durch meine Taten kulturell beraubt?

Diese Fragen stelle ich mir den ganzen Tag. Ich habe nicht die Macht, jemanden aus der Armut zu befreien, den Klimawandel rückgängig zu machen oder einen Kranken zu heilen, aber ich kann es zumindest nicht schlimmer machen. Ich koche kein Tier, das unter Stress gestorben ist. Deshalb habe ich solche Schwierigkeiten damit, mit Rindfleisch zu kochen, weil Kühe im Schlachthof extrem leiden. Ich koche nie, wenn ich schlecht gelaunt bin, weil ich Angst habe, dass sich das auf das Essen überträgt. Ich verschwende kein Essen, deshalb sind meine Garnituren so hässlich—ich hasse Radieschenröschen, weil das halbe Produkt draufgeht, nur damit der Teller hübsch aussieht.

Es kann nicht sein, dass die Ästhetik die Armut übertrumpft.

Wenn ich mein Land verlasse, streue ich wie Hänsel und Gretel Brotkrümel: Ich hinterlasse Brotkrümel meiner Kultur, damit ich den Weg zurück in meine Heimat finde—aber auch, damit andere Lust bekommen, Venezuela zu besuchen und damit sie sehen, dass es weit mehr gibt, was das Land ausmacht, als nur Gewalt.

Aufgezeichnet von Issa Plancarte