Wie mich mein Garten lehrte, den Makel zu lieben

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Eigenanbau

Wie mich mein Garten lehrte, den Makel zu lieben

Gleich neben seinem Restaurant in Portugal hat Leonardo Pereira einen Garten angelegt. Mit Obst und Gemüse aus eigenem Anbau wird zwar nicht jedes Gericht exakt gleich, aber man lernt die kleinen Ecken und Kanten zu schätzen.

Als ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war, habe ich diesen französischen Film gesehen, in dem es um zwei Teenager auf der Kochschule ging. Ihnen wird das Leben zur Hölle gemacht und in einer Szene, ich erinnere mich noch ganz genau, schmeißt der Chefkoch ihr Essen einfach auf den Boden. Da dachte ich nur: „Oh man, zum Glück werde ich nie Koch."

Damals war ich schlau, heute bin ich es nicht mehr.

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Leonardo Pereira im Lyle's in London. Alle Fotos von Liz Seabrook

Auch wenn ich niemals dachte, dass ich Koch werden würde, hatte ich schon immer eine enge Beziehung zum Essen. Ich bin in einem kleinen mittelalterlichen Städtchen in Portugal aufgewachsen, aber meine Mutter lebte in Paris und hat dort, wie auch mein Großvater, als Concierge in einem Hotel gearbeitet. Die meiste Zeit lebte ich in Portugal, aber drei Monate im Jahr habe ich in Paris gewohnt.

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Und dort habe ich meine Liebe zum Essen entdeckt. Meine Mutter kann einfach nicht kochen, aber sie hat es geschafft, mir viele der guten Seiten des Lebens zu zeigen. In Paris waren wir nicht in den Edelrestaurants essen, sondern meistens zu Hause. Ich erinnere mich aber, wie wir immer in die Galeries Lafayette gegangen sind—das war damals in den frühen 90ern ein Feinschmeckerparadies. Die Zwiebelbrötchen werde ich nie vergessen: Jedes Mal, wenn wir da waren, musste ich eines davon essen. Die waren so lecker. Es gab auch immer viele Schnecken und Froschschenkel. Die typische Küche der französischen Bistros oder Brasserien—das bleibt einem in Erinnerung.

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Schnecken und alle kleinen Tiere liebe ich einfach. Außerdem koche ich gern mit Innereien und frischem Fisch und Meeresfrüchten. Mittlerweile habe ich aber meine „portugiesische Brille"abgelegt. Viele in Portugal fragen mich, ob ich denn damit klarkomme, dass ich nicht portugiesisch koche. Aber schon als Kind habe ich nicht nur portugiesisch gegessen.

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Als Koch arbeitet man 15 Jahre für jemand anderen und bekommt immer eine Art Aufgabe zugeteilt. Einiges findet man gut, anderes nicht, aber es wird einem immer gesagt, was und wie man kochen soll.Und dann kommt man irgendwann an einen Punkt, wo man sich entscheiden muss: Entweder man kochtweiter so wie bisher oder du fragst dich, was dir am Kochen so gut gefällt, dass du daraus etwas eigenes kreieren kannst. Und genau das versuche ich zu machen.

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Portugals Küche ist ziemlich deftig. Historisch gesehen war Essen Mittel zur Nahrungsaufnahme, viele Portugiesen arbeiteten auf Feldern oder auf der See, das ist sehr anstrengend. Aber ich liebe die portugiesische Küche auch für ihre frischen, intensiven Aromen. Außerdem mag ich es, mit unserem Wein zu kochen, weil er diese natürliche Säure hat.

Den portugiesischen Geschmack versuche ich mit frischen Kräutern und Tomaten zu erzeugen. Als ich noch klein war, gab es viel mehr Auswahl auf dem Markt. Jetzt gibt es zwei Tomatensorten und beide sind nie richtig reif. Jedes Mal wenn ich letzten Sommer zum Markt ging und mich auf frische Tomaten freute, waren sie immer unreif. Aber na ja, die großen Ketten und die Massenproduktion haben eben auch einen Einfluss auf den Geschmack der Leute. Deswegen will ich unbedingt mein eigenes Obst und Gemüse anbauen und enger mit Kleinbauern zusammenarbeiten. So kann man seiner Kreativität bei den Zutaten freien Lauf lassen und man unterstützt regionale Betriebe.

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Als Kind war ich auch viel im großen Garten meiner Eltern, aber ich hasste es damals, immer der ganze Dreck unter den Fingernägeln. Als ich wieder einen Garten angelegt habe [in seinem letzten Restaurant, Areias do Seixo, hatte er seinen eigenen Garten in Permakultur angelegt], meinten meine Eltern nur: „Erinnere dich, wie du das als Kind hier immer gehasst hast." Manche Dinge ändern sich einfach. Jetzt pflanze ich 46 verschiedene Tomatensorten im riesigen Garten meiner Eltern an, das ist schon cool.

Mit einem Permakulturgarten gleich neben dem Restaruant kann ich genauso kochen, wie ich es einfach mag. Nicht jedes der 100 Gerichte pro Tag muss gleich sein, ich mag kleine Makel und Ecken und Kanten, es muss nicht alles perfekt sein. Ich möchte ja nicht für jeden Gast exakt das Gleiche kochen.

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Außerdem kann ich so viel individueller kochen, auf den Gast abgestimmt: Ein kräftiger Portugiese mit Schnurrbart und Zigarre mit will wahrscheinlich nicht so viel Gemüse essen. Von seinen drei oder vier Gängen mache ich zwei oder drei mit Fleisch für ihn. Für jemanden wie mich reichen zwei oder drei Gerichte, die nur aus Gemüse bestehen.

Wenn man mit den Produkten aus dem eigenen Garten kocht, ist man gleichzeitig auch irgendwie angreifbar, aber das mag ich irgendwie auch. Eigentlich ist das das komplette Gegenteil zur Edelgastronomie, wo man immer bestrebt ist, alles einheitlich zu kochen. Aber zwei Radicchios zum Beispiel können ganz unterschiedlich sein, wenn man sie kocht und zubereitet. Und das ist nur Gemüse, von Fleisch gar nicht erst zu reden.

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Außerdem wird dadurch jeder irgendwie zu einem besseren Koch—das habe ich auch schon im noma erlebt.

Meine Zeit im noma war großartig und echt spaßig. Vorher hatte ich in Irland gearbeitet, ich war noch jung, vielleicht 21 oder 22. Ich hatte in einem ziemlich guten Restaurant gearbeitet, aber eben auch mitbekommen, was es noch anderes in der Welt gibt, und Bücher und Zeitschriften gelesen und auf einmal hörte ich von diesem René Redzepi. Er hatte einen ziemlich persönlichen Ansatz, das gefiel mir.

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Ich hab also meinen Job hingeschmissen und mein ganzes Geld im Restaurant auf den Kopf gehauen: Mit 500 Euro in der Tasche ging ich ins noma und blieb dort, bis sie mir endlich einen Job gaben. Sie hatten eigentlich keine andere Wahl.

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Dadurch habe ich eine völlig neue Welt entdeckt und das hat mich zum Nachdenken angeregt. René schafft es einfach, dich zu inspirieren und deine grauen Zellen anzustrengen. Es ist nicht so, als würde er dir aktiv etwas beibringen, sondern er bringt dich dazu, selbst auf Ideen zu kommen, und dafür danke ich ihm unendlich. Mein ewiges Lieblingsgericht im noma sind die Maronen mit Seehasenrogen. Das gibt es immer am Ende der Esskastaniensaison, weil sie dann sehr süß sind und der Rogen dazu schmeckt einfach intensiv und köstlich. Dazu einfach nur eine Buttersauce und ein paar Salatblätter mit leicht scharfer Note.Das alles richtig auszubalancieren ist ziemlich kniffelig.

Aber genau so mag ich es: Einfachheit auf dem Teller, aber Aromen, die einen richtig mitreißen.

Aufgezeichnet von Phoebe Hurst. Alle Fotos von Liz Seabrook.

Leonardo Pereira ist in Santa Maria da Feira aufgewachsen, einer kleinen mittelalterlichen Stadt in Portugal. Als er seinem Vater beim Anbauen im eigenen Garten geholfen hat und seine Mutter in Paris besucht hat, die dort als Concierge arbeitete, hat er seine Liebe zu saisonalem Essen und klassischer französischer Küche entdeckt. Nachdem er in Spanien und Irland in verschiedenen Restaurants gearbeitet hat und auch fast fünf Jahre bei René Redzepi im noma, ist er nach Portugal zurückgekehrt, um im Restaurant des Hotels Areias Do Seixo zu kochen. Nachdem er schon Gastkoch im Lyle's in London war, steht er mittlerweile kurz davor, sein erstes eigenes Restaurant in Lissabon zu eröffnen.