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Zukunftsvisionen

Was ist aus den Food-Utopien von früher geworden?

Vor gut 100 Jahren malte man sich noch aus, dass wir unser Essen nur noch in Pillenform zu uns nehmen werden. Jetzt sind wir in der Zukunft angekommen, wo bleibt also die Essenspille?
Foto von 27147 via Flickr

Jemand sollte wirklich mal ein erstes Wörtchen mit Elon Musk und anderen wichtigen Futuristen reden und sie fragen, was eigentlich aus der Idee geworden ist, eine ganze Mahlzeit in eine einzige Pille zu packen.

Die Idee einer mundgerechten synthetischen Essenspille findet sich in vielen Beispielen: Bei den Jetsons, in Die Mars-Chroniken von Ray Bradbury bis hin zum Sci-Fi-Film Just Imagine aus den 1930ern. Sogar der berüchtigte Technophobiker Tolkien hat ein fiktionales Superfood erschaffen, Lembas, was dem Konzept einer Essenspille doch unheimlich ähnelt. Roald Dahl hat sich bei Willy Wonka zwar für Kaugummis statt für Tabletten entschieden, aber damit schlägt er nur in dieselbe Kerbe.

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Doch schon 1893, zur Weltausstellung in Chicago, haben die Menschen darüber fantasiert, wie es eines Tages definitiv eine Pille geben wird, die normale Mahlzeiten komplett ersetzen würde. Erstmals wurde dieses Konzept einer Essenspille von Mary Elizabeth Lease, einer berühmten Verfechterin der Frauenrechte, erwähnt. Bei einem Aufruf der Associated Press, wie die Zukunft 1993 aussehen würde, malte sich eine Welt aus, in der Essenspillen die Frauen endlich von den Fesseln der Küche befreien würden.

So spekulierte sie, dass es 1993 die Reichtümer unseres Planeten in komprimierter Form geben würde: „Eine kleine Phiole des Lebens aus dem fruchtbaren Schoß von Mutter Erde wird den Menschen über Tage Kraft geben. Und somit wird das Problem des Kochens gelöst."

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Der angesehene französische Chemiker Marcellin Berthelot hat ein Jahr später in einem Interview mit dem Titel „Essen im Jahr 2000" eine ähnliche Food-Utopie mit vielen Tabletten vorausgesagt. Er vermutete, dass die Pillen die „epikureischen Bedürfnisseder Zukunft befriedigen" würden und chemisch und in Bezug auf die Nährstoffe dem Essen ähneln. (Er hat auch schon damals über die Möglichkeit von Laborfleisch sinniert.)

Mittlerweile sind wir im Jahr 2016 angekommen, ein richtiges Hoverboard gibt es immer noch nicht,nur Imitate, die nichts mit der wirklichen Idee zu tun haben. Wo bleiben die Essenspillen, die uns alle versprochen haben?

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Scheinbar liegt das Problem darin, dass es wissenschaftlich derzeit nicht möglich ist, den ganzen Energiegehalt und alle Nährstoffe einer Mahlzeit in eine einzige Tablette zu packen. Wie Wired schreibt, würde eine Pille mit solchen Fähigkeiten „gegen die Gesetze der Physik verstoßen". Wenn man von einem durchschnittlichen täglichen Kalorienbedarf von 2.000 Kalorien ausgeht und bedenkt, dass 1 Gramm Kohlenhydrate bzw. Eiweiß 4 Kalorien enthält, während 1 Gramm Fett circa 9 Kalorien hat, müsste man bei der Variante mit der höchsten Kaloriendichte, 2.000 Kalorien pures Fett, mehrere Hundert Kapseln der Standardgröße pro Tag nehmen. Und damit sind noch nicht die anderen überlebenswichtigen Nährstoffe abgedeckt.

Neben der Umsetzbarkeit ist Ernährungssicherheit ein weiterer wichtiger Aspekt, warum es heute keine Mahlzeiten in Pillenform gibt. Obwohl die Nahrungssicherheit mit der immer weiter anwachsenden Bevölkerung ein dringendes Problem darstellt, ist die Situation historisch gesehen so stabil, wie man sie sich vor 100 Jahren noch nicht vorstellen konnte. In einem Bericht der Welternährungsorganisation Anfang diesen Jahres hieß es beispielsweise, dass der weltweite Pro-Kopf-Verbrauch von Fisch auf Rekordniveau angestiegen ist. Wer will sich also über eine nicht vorhandene Pille beschweren, die einen drei Tage lange satt machen könnte, wenn man doch fast unbegrenzt und zu jeder Zeit Essen aus der ganzen Welt bekommen kann?

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Essen spielt außerdem eine immer größere Rolle in unserem Alltag und in allen Aspekten der Medien und der Kommunikation. Die Idee von Mary Elizabeth Lease einer kleinen Phiole, die den „Menschen über Tage Kraft geben" und alle Frauen befreien würde, hat nichts mit den Fluten an Food Porn und der Ära der Starköche zu tun, wie wir sie gerade erleben. Wenn die Mehrheit gar nicht mehr so sehr begeistert ist von der Idee, der Küche zu entfliehen, dann wird es schwieriger, die technologischen und wissenschaftlichen Fortschritte, die es für eine solche Tablette braucht, voranzubringen.

Es gibt aber auch kleine Hoffnungsschimmer: 2010 haben Forscher des Institute of Food Research im englischen Norwich wohl eine Technologie entwickelt, mit der sie verschiedene Geschmacksrichtungen in mikroskopisch kleine Kapseln packen können, die sie dann einzeln nacheinander freisetzen würden. Seitdem gab es zwar nichts Neues zum Projekt, aber es ist beruhigend zu wissen, dass noch jemand da draußen diesen Traum wahr werden lassen will.

Irgendwann mag es also vielleicht soweit sein, dass eine Essenspille durchaus auch zu unserer Gesellschaft passt, sodass sie entwickelt werden kann und sich immer mehr verbreitet.Futuristen von heute, die keinen Bock auf normales Essen haben, bleiben nur Soylent und dieser Kakerlaken-Proteinteig aus Snowpiercer.

Die Hoffnung auf eine pillenreiche Zukunft stirbt zuletzt.