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Jüdische Kultur

Berlins neue Meschugge

Obwohl ich in einer Familie mit einer starken jüdischen Identität aufgewachsen bin, hatte ich bis vor kurzem keine Ahnung von der jüdischen Küche. Was wohl daran liegt, dass ich in Berlin lebe, wo jüdische Delis nur langsam wieder auftauchen.
Foto: mattmendoza via Flickr

Vor einigen Jahren eröffnete bei mir um die Ecke ein Deli. Es wurde von Amerikanern betrieben und versprach ein authentisches amerikanisches Erlebnis. Ich ging ein paar Mal hin ohne große Erwartungen—viele amerikanische Lokale hatten in Berlin mit großem Trara eröffnet, nur um dann fades, trockenes Essen zu servieren. Wie ich bereits erahnt hatte, hauten mich auch in diesem Lokal die meisten Gerichte nicht vom Hocker. Eines Tages bestellte ich aus einer Laune heraus ein Pastrami-Sandwich. Obwohl ich jüdischer Abstammung bin und in den Staaten gelebt habe, hatte ich noch nie eines gegessen. An diesen ersten göttlichen Haufen Fleisch wird nie etwas herankommen: Senf, der so scharf war, dass er mir bis in die Nase hochstieg, wunderschönes rosa Rindfleisch, das mit Fett durchwachsen war.

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Ich fragte mich, wieso mir das in diesen 25 langen Jahren entgangen war. Immerhin waren meine Großeltern Juden und wir haben Verwandte in New York. Ich war ganz verärgert, als ich daran dachte, dass meine amerikanische Familie all die Jahre Pastrami-Sandwiches gefuttert hatte und wir uns mit dieses Vollkorn-Roggenbroten mit einer dicken Butterschicht und dünnen, undefinierbaren Scheiben Fleisch begnügen mussten. Ich hatte das Gefühl, mir wurde eine wichtige jüdische Erfahrung vorenthalten.

Essen ist etwas extrem Persönliches, eine Kombination aller Sinne. Es kann Erinnerungen hervorbringen, die schon lange vergessen waren. Wenn ich heute ein Rhabarberkompott esse, werde ich jedes Mal sofort in den Garten meiner Tante zurücktransportiert und nehme nichts mehr wahr, außer die warme Luft und die Bienen, die um meinen Kopf schwirren. Für uns Menschen ist Essen ein Weg, um eine Verbindung zu unseren Familienmitgliedern und Vorfahren herzustellen. Viele Holocaust-Überlebende hatten nach dem Krieg keine Familienandenken mehr. Keine Rezepte, keine Fotos, kein Nippes, an denen sie sich festhalten konnten. Also kochten sie, um ein Gefühl von Sicherheit zu empfinden, um den Geschmack der Heimat wieder aufleben zu lassen—auch wenn sie keine Heimat mehr hatten.

Die jüdische Identität spielte in unserer Familie eine wichtige Rolle. Ich habe oft das Gefühl, dass es das Rückgrat ist, auf dem die Fleischhacker-Identität basiert. Als ich noch jünger war, gab es nicht viel, mit dem ich mich identifizieren konnte, Essen eingeschlossen. Während des Abendessens, das nie aus jüdischen Gerichten bestand, wurde regelmäßig über Politik, Geschichte und das neueste jüdische Denkmal diskutiert, aber in Form von Essen gaben meine Großeltern ihr Erbe nicht weiter. Ich wünsche mir so sehr, dass ich nur ein einziges Rezept aus dem Repertoire meiner österreichischen Urgroßmutter kennen würde oder dass man mir das Geheimnis der gefüllten Kohlrouladen, die—so stelle ich mir das zumindest gerne vor—meine schwäbischen Vorfahren jahrhundertelang zubereiteten, verraten würde. Leider sind beide meine Großeltern in den letzten zehn Jahren verstorben. Jetzt, da ich meine eigene persönliche jüdische Identität bilde, starre ich auf eine leere Wand. Es gibt unzählige Boxen mit Archivmaterial, das sehr wahrscheinlich die Antwort auf Fragen bereithält, von denen ich gar nicht sicher bin, ob ich sie überhaupt stelle.

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Nach dem Krieg kehrte mein Großvater mit seiner österreichischen Frau von London nach Ostberlin zurück. Wie auch anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft hofften sie, dass sie zumindest einen Teil ihrer furchtbaren Geschichte hinter sich lassen konnten, wenn sie beim Wiederaufbau helfen. Solange ich es erlebt habe, sprachen meine Großeltern, und besonders mein Großvater, viel über ihre jüdischen Wurzeln. Sie besuchten Schulen, um über ihre Erfahrungen als Zeitzeugen zu sprechen und hatten eine starke Identität als deutsche Juden.

In der Familie meiner Großtante in New York hat Essen einen komplett anderen Stellenwert als bei uns. Ihr Mann besaß einen Sandwich-Laden mit Café auf der Varick Street in SoHo. Heute wird der Laden von seiner Tochter betrieben, meine Großcousine, die auch ein Catering-Unternehmen besitzt, ihr Bruder betreibt das Café. Während meine Familie das jüdische Essen und die damit verbundene Kultur mehr oder weniger ignorierte, war es ein unglaublich wichtiger Teil im Leben unserer New Yorker Pendants. Jedes Mal, wenn ich heute meine Großtante in New Jersey besuche, komme ich mit mehreren Plastiktüten und Behältern voll gehackter Leber, Bagels und gefilte Fisch nach Hause.

David Sax, der Autor von ‚Save the Deli' und ‚The Tastemakers', erzählt mir, dass die jüdischen Delikatessen, wie sie heute besonders in Nordamerika populär sind, in den 1880er- und 1890er-Jahren entstanden, als osteuropäische jüdische Migranten in großer Zahl in die USA einreisten. Anders als die deutschen Juden kamen sie oft vom Land und waren arm und ungebildet. Ihre Delis, von denen zahlreiche auf der Lower East Side in Manhattan eröffneten, waren oft sehr viel weniger kultiviert, als die deutschen. Die Immigranten begrüßten ihr neues Leben in bisher unbekannter Form und so wurde das jüdische Deli während des 20. Jahrhunderts zum Symbol der Americana und die Kultur der aschkenasischen Juden fand Einzug in die amerikanische Kultur.

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Auf der anderen Seite des großen Teichs ist es anders. Ein Beispiel: Seinfeld wurde in Deutschland nur zwei Jahre lang ausgestrahlt, weil die deutschen Zuschauer den Humor nicht verstanden. Wenn man in den USA von jüdischem Humor spricht, haben die Leute zumindest eine Ahnung, worum es geht. Wenn man das Gleiche zu einem Deutschen sagt, wird man nur mit ausdruckslosem Blick angestarrt. Sax merkt an, dass mit der jüdischen Unterhaltung auch die Deli-Kultur in den USA zum anerkannten Mainstream wurde. Bald schon war es genauso amerikanisch wie Pizza oder chinesisches Essen. In Europa hingegen waren die jüdischen „Delikatessen" im Grunde regionales Essen—nur eben koscher—, das vom rassistischen Regime als „das Andere" definiert wurde.

Der Stadthistoriker Christoph Kreutzmüller erklärt, dass Berlin vor dem zweiten Weltkrieg nicht nur das Wirtschaftszentrum des Landes war, sondern besonders auch des jüdischen Handels. Der Kalte Krieg war der Hauptgrund, wieso die Zahl der jüdischen Unternehmen nach dem verlorenen Krieg nicht mehr weiter stieg. In Frankfurt, einer weiteren Finzanzmetropole, konnten Überlebende des Holocaust und ihre Familien ihre Unternehmen zurückfordern oder sie wurden von der Regierung für den finanziellen Verlust entschädigt. In Berlin hingegen, einer Insel innerhalb des kommunistischen Europas, wurden Besitztümer nicht an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben und Familien bekamen keinerlei Entschädigungen. Die sozialistische DDR argumentierte, dass sie keine Kapitalisten unterstützen wolle, auch keine jüdischen Holocaust-Überlebenden, die ihre Unternehmen unter dem Nazi-Regime verloren hatten. Die jüdischen Geschäfte, die es noch gab, sahen sich selbst als aussterbende Gattung. Die wenigen koscheren Delis bedienten hauptsächlich eine schnell alternde Gesellschaftsgruppe, was sie früher oder später überflüssig machte. Nach 1949 verlor Berlin seinen Status als Wirtschaftszentrum und bleibt bis heute eine de-industralisierte Stadt. Da es also keine jüdischen Unternehmen mehr gab und die jüdischen Rückkehrer ihre Wurzeln alles andere als stolz nach außen präsentierten, entwickelte sich schnell eine Kultur, die hinter geschlossenen Türen stattfand. In Amerika hatten sich die jüdischen Delis als Treffpunkt etabliert, wo Juden wie Andersgläubige die jüdische Kultur und ihr Essen zelebrierten. Wer könnte schon nein sagen zu fettigem, geräuchertem Fleisch, einer wärmenden Suppe und Essiggurken, die so sauer sind, dass es dir das Gesicht verzieht?

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Die Filmemacherin Alexa Karolinski, deren Werk Oma & Bella 2012 seine Premiere feierte, wuchs in Berlin auf, lebt aber heute in L.A. Als ich mich mit ihr über den Unterschied zwischen dem Leben als Jude in Deutschland im Vergleich zu den USA unterhielt, fiel das Wort ‚Normalität': „Die Normalität eines Juden in L.A. ist etwas ganz anderes im Vergleich zu der eines Juden in Deutschland. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit jeder Person mit jüdischer Abstammung in Berlin zumindest über eine oder zwei Ecken verwandt bin." Obwohl immer mehr Israelis nach Berlin ziehen und die Stadt immer vielfältiger wird, gilt ein deutscher Jude immer noch als etwas Exotisches und Besonderes, was Hand in Hand mit Identitätsproblemen geht. Obwohl die Erfahrung nicht zwangsläufig negativ sein muss, wird man mit unglaublich viel Ignoranz und Rassismus konfrontiert. Alexa sagt, der Hauptunterschied liege darin, dass „die ignorante, rassistische Scheiße, die Leute in Deutschland von sich geben, aus dem Mund gebildeter Menschen stammt. In den Staaten sind sie oftmals weniger gebildet, aber es ist echt schlimm, wenn einem gebildete Leute so dumme Fragen stellen."

Wenn Alexa in L.A. ist und Lust auf Matzeknödelsuppe hat, geht sie ins Greenblatt's Deli. In Berlin macht man so ein Gericht einfach zu Hause oder man geht ins Mogg & Melzer, eines der wenigen Lokale, in denen man eine anständige Suppe bekommt. Oskar Melzer, einer der beiden Betreiber des Restaurants, ist nicht der Einzige, der den Berlinern klassische Deli-Gerichte auftischt. Laurel Kratochvila, die ursprünglich aus Boston kommt, fing an, in der winzigen Küche des Buchladens Shakespeare & Sons, den sie mit ihrem Mann Roman betreibt, Bagels zu backen. Nachdem sie genug von den schlechten deutschen Bagels hatte, nahm sie die Sache selbst in die Hand. Heute betreibt sie den Bagel-Shop Fine Bagels, wo man die besten Bagels auf dieser Seite des Atlantiks bekommt. Laurel sieht nicht viele aschkenasische Einflüsse im Berliner Essen, anders als in Polen, wo es an jeder Ecke frisch gebackene Challah gibt. Mittlerweile gibt es zwar einige koschere Supermärkte, aber man sollte nicht vergessen, dass koscher nicht das neue koreanisch oder das umami ist. Laurel wurde von den Organisatoren eines Street Food-Marktes gebeten, ihr Essen koscher anzubieten. Für sie wäre das aber ein extrem aufwendiges, vor allem aber unnötiges Unterfangen, weil es die Qualität ihrer Bagels nicht verbessern würde, sondern möglicherweise sogar verschlechtern. Einzig die Kunden hätten das Gefühl, dass sie „authentisches" jüdisches Essen bekommen.

Die deutsche jüdische Kultur befindet sich gerade in einer Selbstfindungsphase. Mit den zahlreichen jungen Israelis, die nach Berlin ziehen, besteht realistisch die Möglichkeit, dass sich ganz organisch eine Kultur aus einer Kombination aus israelischen, deutschen und amerikanischen Juden bildet. Obwohl das einerseits aufregend ist, kann es auch schön sein, an einem Ort zu leben, an dem eine solche Kultur bereits besteht und wo man sich leichter einfügt, anstatt mit dem Dasein als Jude in Konflikt zu stehen. Alexa sagt, „manchmal ist es frustrierend, zu warten. Aufgrund der geschichtlichen Vergangenheit fehlt es den Leuten an Humor und sie versuchen zu zwanghaft, über etwas hinwegzukommen." Das „etwas", von dem sie spricht, ist der Kern der deutschen Einstellung gegenüber dem Holocaust. Etwas, das man angehen muss, mit dem man umgehen muss, damit man es dann hinter sich lassen und als „vergangen" abstempeln kann. Das wird aber noch sehr lange dauern und in der Zwischenzeit müssen wir lernen, mit unserer Geschichte zu leben, ohne dass sie neue Entwicklungen verhindert.

Leute wie Laurel Kratochvila und Oskar Melzer schaffen eine neue Umgebung in Berlin, in der jüdisches Essen florieren kann, ohne ein Werbetrick, koscher oder der ‚Jude im Zoo' zu sein, wie es Laurel so geschickt ausdrückt.

Wir brauchen mehr. Deutschland braucht eine jüdische Kultur: mehr Witze, mehr Essen, mehr Schticks. Wir brauchen mehr Vielfalt. Und Essen hat das Potential, dafür zu sorgen. Essen ist intensiv, lässt sich wunderbar teilen und fördert die Interaktion ohne vorgefasste Meinungen. Wenn wir weiterhin Hummus und Pastrami futtern, während wir den Dialog fördern, wird alles gut werden.