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Mädchenschwingen in Einsiedeln – Zwischen Rebellion und Tradition

In der ganzen Schweiz schwingen gerade mal 40 Frauen. Von ihren männlichen Kollegen werden sie vielfach belächelt. Ich habe mich bei einem ihrer Trainings umgesehen.
Anina Jos

Mittwochnachmittag, Einsiedeln: Bis auf die zwei Töfflibuebe, die mit ihren frisierten Maschinen auf dem Schulhofplatz immer kleiner werdende Kreise drehen, ist es ruhig. Leonie, Antonia und ihre Trainerin Sonia stehen im Schatten bei den Velostangen und plaudern mit einem Klassenkollegen. Als ich bei ihnen ankomme, verabschieden sie sich von ihm: „Viel Spass bim Nahhocke!" „Jaa, jaa." Er seufzt: „Eu viel Spass bim Schwinge!" und mit einem wohlwissenden Blick zu mir: „Es sötti ebe viel meh Meitli gäh, wo schwingend!"

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Tatsächlich gibt es landesweit nur gerade mal 40 aktive Schwingerinnen und so war auch das Umfeld der zwei 14-jährigen Freundinnen von ihrem neuen Hobby erstaunt. „Min Unkel isch voll degäge gsi, die ganz Familie häts e chli komisch gfunde." Antonia macht eine wegwerfende Handbewegung: „Am Afang findets eh alli komisch, drum sägi lieber nöd was i machä, aber jetzt chunnt d'Familie sogar amigs ad Wettkämpf go luege." Auch ihre Trainerin Sonia Kälin, welche 2012 Schwingerkönigin wurde, kennt das Thema. „Vieli findet eifach Fraue und Schwinge ghöred nöd zäme, das segi nöd gnueg traditionell. Aber wämmer dänn mal fröget wieso, wüsseds gar nöd was säge." Sie verdreht grinsend die Augen: „Eifach nume willmer kein Zipfel händ!"

Wir spazieren am grossen Haupteingang der Turnhalle vorbei, durch eine unscheinbare Seitentüre hinein in den Keller. Dunkel, kühl, modriger Holzgeruch—es riecht nach Stall. Das aufflackernde Licht der Neonröhren bestätigt was meine Nase schon ahnte: Fast der ganze Raum ist mit Sägemehl ausgestreut, eingerahmt von einem Zaun aus robusten Holzlatten. Während die Mädchen ihren Schmuck aus- und die traditionellen Edelweisshemden anziehen, fällt mir eine Stelle aus dem Eidgenössischen Schwingreglement ein, meine Leselektüre für die idyllische Zugfahrt in die Innerschweiz. „Strapazierfähiges, farbiges, jedoch nicht grelles Hemd, keine Mode- oder Fantasiehemden.", steht dort bei den Bekleidungsbestimmungen.

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Nach ein paar Runden im Kreis rennen, Kniebeugen und einem Kopfstand ziehen sich die Mädchen zu den hellblauen Hemden mit aufgewobenem Edelweiss einen Stoff über den Schoss, der vom Gewebe und Farbe her einem Kartoffelsack gleicht. Auch dazu gibts im Schwingreglement ein Kapitel: „Korrektes Tragen von Schwinghosen: die Hosen sollen der Körpergrösse angepasst, satt geschlossen und die Gestösse hochgekrempelt sein."

„Griff fassen!", ruft Sonia und was bedrohlich klingt, erinnert optisch mehr an eine herzliche Umarmung. Eine Hand hält die Hose der Gegnerin am Rücken die Andere am rechten Saum über dem Knie. „Guet!" heisst der Startschuss und es folgt ein liebevolles Aneinanderschmiegen, ein scheuer, rhythmischer Tanz, der im nächsten Moment mit einem Krachen endet, als ein Rücken in das Sägemehl prallt. Die erste Partie ist beendet. Antonia und Leonie prusten Mehl, schütteln es aus den langen blonden Haaren, klopfen sich gegenseitig ab und gehen wieder in Startposition.

Ihre Trainerin ruft nacheinander einige der dreissig verschiedenen Griffe auf. Je nach Schwung klemmen die Mädchen einander die Füsse ein, verdrehen sich die Arme oder versuchen den Zwilchstoff (alias Kartoffelsack-Hose) zwischen den Beinen zu fassen um sich gegenseitig daran in die Luft zu heben. Dann, nach einem dutzend gebellter „Grifffassen!", „Guet!" und drücken, stossen, ringen, wälzen bis die gegnerischen Schulterblätter ins Mehl gedrückt sind, ruft Sonia eine fünfminütige Pause aus.

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Die zwei Freundinnen spritzen sich gegenseitig Wasser in die verschwitzten, roten Gesichter, kreischen und kichern. Ich überfliege die „Melde- und Infopinnwand" neben dem Wassertrog: Die Schwinget Sörenberg lädt mit kameradlichen Schwingergrüssen zur Bergschwinget ein, Hirzel fordert auf, an der Buebeschwingete mitzumachen und die Klewenalp Schwinget lockt mit Rind und Schelle für den Gewinner. Das weibliche Geschlecht ist in den Texten ganz und gar inexistent. Weil sich der nächste Schwingerinnenklub in Goldau befindet, immerhin eine Stunde mit dem Zug, trainieren die zwei Sekundarschülerinnen einmal in der Woche zusammen mit den 20 Jungs. „Am Afang simmer no sächs Meitli gsi," erzählt Leonie und fügt fast entschuldigend hinzu, „aber me hät halt scho rächt viel änge Körperkontakt."

Im zweiten Block werden wettkampfgetreue Durchgänge geübt. Bei der jährlichen Krönung erhält nicht nur der Schwinger-König, sondern auch die -Königin traditionell ein Kalb oder einen Muni als Gewinn. Während der König aber vom Sport leben kann, müssen die Frauen um Sponsoren kämpfen, erzählt mir Sonia und will dann wissen, ob auch ich schwingende Freunde und Freundinnen habe. Ich verneine und füge leicht entschuldigend hinzu: „Ich wohne halt z' Züri." Sonia blickt auf die zwei sich am Boden Wälzenden. „Aber genau det ide Städt, wo's so viel Aggressione hät, wärs Schwinge super. Dänn chönnt mer das alles nämli uselah bevors explodiert.", sagt sie und feuert die Mädchen noch ein letztes Mal an.

Könnte Schwingen Eric Webers Aggressionen abbauen?

Dann ist das Training zu Ende. Antonia und Leonie hängen sich ihren Schmuck wieder um und ich spiele auf dem Weg zum Bahnhof tatsächlich mit dem Gedanken meiner Freundin vom Gemeinschaftszentrum bei Gelegenheit anstatt ' Yoga am See' 'Schwingen am See' vorzuschlagen. Der geduldige Südostbahnkontrolleur, der neugierig meine Notizen studiert, klärt mich dann noch über die grosse Wichtigkeit der richtigen Namensgebung beim Schwingsport auf. Gute Schwinger seien Eidgenossen und die Besten würden „die Bösen" genannt. Bei den zwei Worten „die" und „Bösen" schaut er mich eindringlich und sehr lange an. Ich breche den Blickkontakt mit der Frage ab, ob denn die Schwingerinnen auch böse seien. „Das weissi nid aber s'isch z'bezwifle, dass Fraue söttend schwinga."

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